TE OGH 1965/4/27 4Ob48/65

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Veröffentlicht am 27.04.1965
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Norm

Gewerbeordnung §82 litg
Gewerbeordnung §101 Z1 litb

Kopf

SZ 38/66

Spruch

Entlassung eines Lehrlings gemäß §§ 101 Z. 1 lit. b und 82 lit. g GewO. Ehrenbeleidigungen können im Arbeitsrecht nur nach den Umständen des Falles und nicht nach einem feststehenden Wertmaßstab beurteilt werden

Entscheidung vom 27. April 1965, 4 Ob 48/65

I. Instanz: Arbeitsgericht Wien; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien

Text

Der Beklagte, der mit dem Kläger am 16. Juli 1962 einen Lehrvertrag abgeschlossen hat, hat den Kläger mit Schreiben vom 28. August 1964, zugestellt am 29. August 1964, entlassen. Der Kläger begehrt mit der Behauptung, er sei zu Unrecht entlassen worden, die Feststellung, daß das Lehrverhältnis zwischen den beiden Streitteilen nach wie vor zu Recht bestehe. Der Beklagte hat eingewendet, daß der Kläger mit Recht entlassen wurde und den Betrieb verlassen habe.

Das Erstgericht hat festgestellt: Der Kläger hatte sich bis zum 25. August 1964 im Betrieb des Beklagten nichts zuschulden kommen lassen und keinen Anlaß zur Klage gegeben. An diesem Tage beabsichtigte der Kläger, seinen Zahnarzt Dr. R. zwecks Behandlung aufzusuchen. Da dieser am Vormittag nicht ordinierte, versuchte der Kläger, noch einige andere Zahnärzte aufzusuchen, die aber gleichfalls nicht ordinierten. Statt nun die Arbeit anzutreten, fuhr der Kläger ab etwa 9.15 Uhr auf seinem Moped spazieren und suchte Dr. R. erst zwischen 14 und 15 Uhr auf. Die Angestellte Felicitas W. rief im Laufe des 25. August 1964 in der Wohnung des Klägers an, konnte diesen aber nicht erreichen. Sie rief dann den Zahnarzt Dr. R. an und erfuhr, daß der Kläger am Vormittag nicht dort gewesen war. Als der Kläger am 26. August 1964 an seinem Lehrplatz wieder erschien, wurde er nicht zur Rede gestellt. Der Beklagte erteilte aber dem Werkstättenleiter Sch. den Auftrag, den Kläger während der nächsten Tage nur zu Aufräumungsarbeiten heranzuziehen und ihn täglich eine Stunde über die normale Arbeitszeit hinaus zu beschäftigen. Tatsächlich hat der Kläger am 26. und 27. August 1964 ausschließlich Aufräumungsarbeiten verrichtet und mußte jeweils um eine Stunde länger im Betrieb arbeiten. Er hat dies, wenn auch widerstrebend und mürrisch, getan. Am 28. August 1964 erteilte Sch. dem Kläger den Auftrag, den Wirtschaftsweg zu säubern und das dort wachsende Gras auszuzupfen.

Der Kläger ärgerte sich über diesen Auftrag und sprach etwa fünf Minuten lang mit einem in einer Montagegrube arbeitenden Lehrling. Der Geselle R. forderte die beiden Lehrlinge auf, weiterzuarbeiten. Der Kläger antwortete "gleich", sprach aber mit dem anderen Lehrling weiter. Daraufhin versetzte R. dem an der Montagegrube hockenden Kläger mit dem Fuß von unten einen Stoß gegen das Gesäß, damit dieser aufstehe. Dieser Stoß war nicht stark und hat den Kläger nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Kläger sagte darauf zu R:

"Es sind mir, scheint's, alle ein wenig teppert." Er fügte dann bei, R. sei "genauso teppert wie der Chef". R. versetzte dem Kläger darauf eine Ohrfeige, wodurch dieser eine Rötung, eine leichte Schwellung an der Wange und eine Rißwunde an der Innenwand der Mundhöhle erlitt. Der Kläger beschwerte sich sodann beim Beklagten über R. Dem vom Beklagten erteilten Auftrag, R. zu holen, kam er nicht nach, sondern entfernte sich aus dem Betrieb und suchte, ohne dies vorher dem Beklagten zu sagen, einen Arzt auf.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und stellte fest, daß das zwischen den Parteien eingegangene Lehrverhältnis weiterhin aufrecht bestehe. Das Fernbleiben des Klägers von der Arbeit am 25. August 1964 könne der Beklagte nicht zur Rechtfertigung der Entlassung heranziehen, weil er die Entlassung nicht unverzüglich ausgesprochen, sondern andere Sanktionen (ausschließliche Verrichtung von Aufräumearbeiten, Anordnung einer zusätzlichen Arbeitsstunde) ergriffen habe. Ein Entlassungsgrund wegen der Beschimpfung des Beklagten durch den Kläger im Sinne des § 101 Z. 1 lit. b GewO. sei nicht gegeben. Der Kläger habe sich vor dem 25. August 1964 nie etwas zuschulden kommen lassen. Die Beschimpfung des Beklagten, und des R. stehe daher zu seinem bisherigen Verhalten in auffälligem Gegensatz. Dazu komme, daß der Beklagte auf die Arbeitszeitversäumnis des Klägers fehlerhaft reagiert habe. Statt ihm die Pflichtwidrigkeit in einer dem Alter des Klägers entsprechenden Weise vor Augen zu halten und sich allenfalls mit den Eltern des Klägers ins Einvernehmen zu setzen oder das Lehrlingsverhältnis entsprechend zu verkürzen, habe der Beklagte ebenfalls ein nicht entsprechendes Verhalten dadurch an den Tag gelegt, daß er den Kläger zwang, täglich eine Stunde länger zu arbeiten, und daß er ihn strafweise - mehrere Tage hindurch nur zu Aufräumungsarbeiten verwendete. Der Auftrag des Werkstättenleiters, das Gras auf dem Wirtschaftsweg auszuzupfen, erinnere an Schikanen auf einem Kasernenhof. Wenn nun der Kläger der Weisung des R., an die Arbeit zu gehen, nicht sofort nachgekommen und dazu noch mit dem Fuß gestoßen worden sei und sich zu der festgestellten Beschimpfung habe hinreißen lassen, so sei dies eine psychologisch durchaus verständliche, wenn auch nicht zu billigende Kurzschlußhandlung. Man dürfe dabei auch nicht das jugendliche Alter, die daraus, resultierende Unreife und den in einer Autoreparaturwerkstätte üblichen Ton vergessen, desgleichen die Tatsache, daß er die Beschimpfung gegenüber einem nur einige Jahre älteren Gesellen in Abwesenheit des Beklagten ausgestoßen habe. Die Intensität der den Kläger treffenden Schuld sei daher unverhältnismäßig gering, zumal mit Rücksicht auf die altersbedingte Unreife des Klägers ein weniger strenger Maßstab anzuwenden sei als bei anderen Dienstnehmern. Dem Beklagten sei daher die Weiterbeschäftigung des Klägers zumutbar gewesen, so daß die Entlassung nicht gerechtfertigt sei.

Gegen das Ersturteil hat der Beklagte berufen. In der mündlichen Berufungsverhandlung wurde außer Streit gestellt, daß der Kläger seit 18. September 1964 als Lehrling in derselben Branche tätig ist. Der Kläger stellte im Berufungsverfahren auch das Eventualbegehren, es werde festgestellt, daß der Beklagte nicht berechtigt gewesen sei, am 28. August 1964 das zwischen ihm und dem Kläger bestehende Lehrverhältnis durch Entlassung aufzuheben. Das Berufungsgericht hat die Verhandlung nach § 25 (1) Z. 3 ArbGerG. neu durchgeführt und ist zu den gleichen Feststellungen wie das Erstgericht gekommen. Es hat der Berufung Folge gegeben und das Haupt- und das Eventualbegehren des Klägers abgewiesen. Es meint, daß dem Kläger das rechtliche Interesse an den begehrten Feststellungen mangle, weil die Erfüllung des Lehrvertrages mit dem Beklagten dadurch unmöglich geworden sei, daß der Kläger ein neues Lehrverhältnis angetreten habe; der Kläger habe auch nicht behauptet, daß etwa die Lösung des neuen Lehrverhältnisses in Aussicht genommen sei. Im übrigen stelle die Äußerung des Klägers am 28. August 1964, die vor einem Gesellen und einem anderen Lehrling gemacht wurde, eine grobe Ehrenbeleidigung dar. Möge auch das Verhalten des Klägers eine Reaktion auf das unrichtige Verhalten des Gesellen R. gewesen sein, so sei doch zu bedenken, daß der Kläger durch sein Verhalten gegenüber dem anderen Lehrling die Reaktion des R. herausgefordert habe. Schließlich sei auch noch die unentschuldigte Versäumung eines halben Arbeitstages am 25. August 1964 und das Nichtbefolgen des Auftrages des Beklagten, dem Gesellen R. zu helfen, zu beachten, weil die Verletzung des Klägers nicht so schwer gewesen sei, daß er nicht noch vor dem Arztbesuch R. hätte heranholen können. Bei dieser Häufung von Pflichtwidrigkeiten könne das Verhalten nicht mehr als geringfügig und als einmaliger Vorfall betrachtet werden.

Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil des Berufungsgerichtes auf und verwies die Rechtssache an dieses Gericht zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung zurück.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Zwischen den Parteien ist strittig, ob das Lehrverhältnis zwischen ihnen durch die Entlassung des Klägers am 28. (29.) August 1964 gelöst wurde oder nicht. Die Parteien haben ein Recht auf Klärung dieser Frage im Sinne des § 228 ZPO., nicht nur, weil sie berechtigte rechtliche Interessen beider Teile berührt, sondern auch deshalb, weil die Feststellungsklage geeignet ist, weiteren Rechtsstreitigkeiten vorzubeugen. Von der Rechtmäßigkeit der Entlassung hängt z. B. auch ab, ob der Kläger wenigstens für die Zeit bis zum 18. September 1964 Anspruch auf Lehrlingsentschädigung hat und ihm diese Zeit in die Lehrzeit einzurechnen ist. Das Feststellungsinteresse des Klägers im Sinne des § 228 ZPO. ist daher gegeben.

In der Frage, ob der Kläger hinreichend Grund zur Entlassung gegeben hat, kann auf die in jeder Hinsicht zutreffende Begründung des Erstgerichtes verwiesen werden. Es ist dem Berufungsgericht und dem Beklagten zuzugeben, daß eine Äußerung wie "der Chef ist teppert", in der Regel einen Entlassungsgrund im Sinne des § 82 lit. g bzw. § 101 Z. 1 lit. b GewG. abgeben wird. Wenn aber, wie hier, die dem Kläger gegebenen, mit dem Lehrverhältnis nicht im Einklang stehenden Aufträge (ausschließlich Verwendung zu Aufräumungsarbeiten, strafweise Verlängerung der Arbeitszeit, Anordnung, Gras auszuzupfen) und schließlich das die Äußerung auslösende Verhalten des Gesellen R. in Betracht gezogen werden, so kann bei objektiver Betrachtung - und nur auf diese und nicht auf die subjektive Einstellung des Beklagten kommt es an - nicht gesagt werden, es liege eine so schwere Ehrverletzung vor, daß sie ein Mensch mit normalem Ehrgefühl nicht anders als mit dem Abbruch der Beziehungen beantworten kann. Die Entlassung des Klägers am 28. (29.) August 1964 erfolgte ohne hinreichenden Grund und löste somit im Sinne der Entscheidung Arb. 5851 und 6598 nicht das Lehrverhältnis (vgl. Neuwirth - Rohringer, Lehrlingsrecht und Jugendarbeitsschutz, S. 102); daß Ehrenbeleidigungen im Arbeitsrecht nur nach den einzelnen Umständen des Falles und nicht nach einem feststehenden Wertmaßstab beurteilt werden können und daß eine solche Beurteilung bloß auf Grund der Kenntnis der zusammenfassenden Sachverhaltsdarstellung im Urteil zumeist nicht möglich ist, wird etwa auch von Bydlinski in seiner Kritik der ähnlichen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes JBl. 1964 S. 575 (Arb. 7940) weitgehend übersehen.

Das Ersturteil kann aber trotzdem nicht ohne weiteres wiederhergestellt werden. Das Hauptbegehren geht auf Feststellung, daß das Lehrverhältnis "nach wie vor" zu Recht bestehe. Das kann, muß aber nicht zutreffen, weil etwa das Lehrverhältnis durch Antritt eines neuen Lehrverhältnisses am 18. September 1964 konkludent im Sinne des § 863 ABGB. aufgelöst worden sein könnte oder weil die Zeit, für die es eingegangen wurde, bereits abgelaufen sein könnte. Diesbezüglich werden beide Teile ihr Vorbringen zu ergänzen haben und es wird allenfalls, wenn die bezüglichen Umstände nicht außer Streit gestellt werden sollten, das Beweisverfahren zu ergänzen sein. Das in der Berufungsverhandlung gestellte Eventualbegehren, es werde festgestellt, daß der Beklagte nicht berechtigt gewesen sei, das Lehrverhältnis am 28. August 1964 durch Entlassung aufzuheben, wäre zwar im stattgebenden Sinn spruchreif, doch kann über das Eventualbegehren erst entschieden werden, wenn feststeht, daß das Hauptbegehren unbegrundet ist.

Anmerkung

Z38066

Schlagworte

Ehrenbeleidigung, Beurteilung der - als Entlassungsgrund nach den, Umständen des Falles, Entlassungsgrund, Beurteilung der Ehrenbeleidigung als - nach den, Umständen des Falles

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1965:0040OB00048.65.0427.000

Dokumentnummer

JJT_19650427_OGH0002_0040OB00048_6500000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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