Norm
Ehegesetz §55Kopf
SZ 38/105
Spruch
Unbeachtlichkeit des Widerspruchs des Mannes gegen die Ehescheidung nach § 55 EheG., wenn die Besorgnis der Frau vor erbkranker Nachkommenschaft nicht von der Hand zu weisen ist
Entscheidung vom 24. Juni 1965, 1 Ob 36/65
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien
Text
Die am 24. März 1926 geborene Klägerin, von Beruf Lehrerin, und der am 13. Dezember 1924 geborene Beklagte, von Beruf Hochschulassistent, haben am 22. Juli 1955 geheiratet; es war beiderseits die erste Ehe; aus ihr entstammt ein am 9. Juni 1956 geborener Sohn. Beide Teile sind österreichische Staatsbürger.
Im ersten Rechtsgang des vorliegenden, bereits seit 5. Juli 1956 anhängigen Prozesses hat der Erstrichter mit Urteil vom 10. November 1961 die Ehe der Streitteile gemäß § 55 EheG. geschieden, wobei er aussprach, daß die Klägerin ein Verschulden treffe. Dagegen erhoben damals beide Parteien Berufung. Während dem Rechtsmittel der Klägerin ein Erfolg versagt blieb, wurde der Berufung des Beklagten Folge gegeben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an die I. Instanz zurückverwiesen, soweit es sich um das Scheidungsbegehren der Klägerin nach § 55 EheG. handelte. Das Berufungsgericht vertrat in dieser Entscheidung die Ansicht, im Hinblick darauf, daß unter den von der Klägerin geltend gemachten Gründen für die Verweigerung der Fortsetzung der Ehe wesentlich das Bestehen einer erblichen Krankheitsanlage in der Familie des Beklagten hervortrete, sei zur Prüfung der Beachtlichkeit des vom Beklagten erhobenen Widerspruches die Feststellung nötig, ob Annemarie F., eine Schwester des Beklagten, an Schizophrenie leide und ob auch Vorfahren des Beklagten geisteskrank gewesen seien; es werde unter Heranziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie zu klären sein, ob in der Familie des Beklagten eine erbliche Anlage für Geisteskrankheiten bestehe, durch die allenfalls Kinder aus der Ehe der Streitteile gefährdet wären, weil nur das tatsächliche Vorliegen einer solchen erblichen Krankheitsanlage, nicht aber bloße diesbezügliche Vermutungen die Klägerin berechtigen würden, die Fortsetzung der Ehegemeinschaft abzulehnen.
Da gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes kein Rechtsmittel erhoben wurde, bezog sich der zweite Rechtsgang nur mehr auf das Scheidungsbegehren der Klägerin gemäß § 55 EheG.
Im zweiten Rechtsgang wies der Erstrichter dieses Begehren nunmehr ab.
Auf Seite der Klägerin lägen mehrfach schwere Verfehlungen vor; sie habe nämlich völlig grundlos die häusliche und eheliche Gemeinschaft aufgehoben und deren Wiederaufnahme beharrlich verweigert, sie habe weiters den Beklagten durch demütigendes Verhalten, durch Verspottungen und wiederholte Beschimpfungen schwerwiegend gekränkt; hingegen hätten auf Seite des Beklagten keinerlei Eheverfehlungen festgestellt werden können; der Widerspruch des Beklagten, der hauptsächlich auf seiner religiösen Überzeugung und auf der Rücksichtnahme auf das Kind beruhe, sei daher zulässig; der Widerspruch sei aber auch beachtlich; beide Streitteile seien Katholiken und seien sich des Sakramentscharakters und der Unauflöslichkeit der von ihnen auch kirchlich geschlossenen Ehe seinerzeit bewußt gewesen, sie hätten all dies auch mit der kirchlichen Eheschließung angestrebt; deshalb komme den vom Beklagten ins Treffen geführten religiösen Gründen entscheidende Bedeutung zu; der Beklagte habe zudem für den Bestand der Ehe auch große Opfer gebracht; er sei durch neun Jahre allein gewesen und habe auf das ständige Zusammensein mit seinem Kind sowie auf weitere Nachkommenschaft verzichten müssen; schließlich habe er für die Klägerin Unterhalt geleistet, obwohl sie ihm die Ehegemeinschaft unbegrundet verweigert habe; tatsächlich leide die Schwester des Beklagten, Annemarie F., an Schizophrenie, und es seien auch zwei Vorfahren des Beklagten mütterlicherseits geisteskrank gewesen, trotzdem habe sich die Befürchtung der Klägerin, daß allfällige weitere Nachkommenschaft infolgedessen gesundheitlich gefährdet wäre, als haltlos herausgestellt; nach dem Gutachten des gerichtsärztlichen Sachverständigen handle es sich bei der Schizophrenie um eine rezessive Erbkrankheit; dies bedeute, daß die Krankheit nur dann in Erscheinung trete, wenn sowohl von seiten des Vaters als auch der Mutter Komponenten zusammentreffen, hingegen dann, wenn nur ein Elternteil krankhafte Formen aufweise, der andere aber nicht, ein Ausbruch dieser Geisteskrankheit nicht erwartet werden müsse; da jeder Elternteil nicht nur kranke, sondern auch gesunde Faktoren habe, sei es möglich, daß die Geschwister der Annemarie F. völlig frei von einer Anlage für Schizophrenie seien oder zwar krankhafte Faktoren haben, aber niemals selbst erkranken; auch die Nachkommenschaft der Geschwister der Annemarie F., die eine Erbanlage der Schizophrenie tragen, sei nur dann höher gefährdet, wenn der andere Ehegatte selbst eine, wenn auch latente, also nicht in Erscheinung getretene Anlage zu dieser Geisteskrankheit aufweise; ein nicht erkrankter Bruder der Annemarie F. habe demnach nur dann schizophrene Kinder zu befürchten, wenn auch sein Ehegatte selbst eine Anlage zur Schizophrenie habe: der Sachverständige sei schließlich, der sogenannten empirischen Erbprognose in Luxenburgers Monographie "Psychiatrische Erblehre" folgend, zum Ergebnis gekommen, daß die Kinder schizophrener Eltern mit 16% Wahrscheinlichkeit, ihre Enkel mit 3% Wahrscheinlichkeit, ihre Neffen und Nichten mit 1.8% Wahrscheinlichkeit erkranken, wobei bei Neffen und Nichten diese Wahrscheinlichkeit nur geringfügig höher sei als bei der Durchschnittsbevölkerung (1.8% zu 0.5%).
Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos.
Das Berufungsgericht führte in rechtlicher Beziehung nach Bejahung der Zulässigkeit des Widerspruches des Beklagten wegen der schweren Eheverfehlungen der Klägerin zur Frage der Beachtlichkeit des Widerspruches unter Hinweis auf die Judikatur des Obersten Gerichtshofes aus, ein zulässiger Widerspruch sei grundsätzlich dann beachtlich, wenn sich der beklagte Ehegatte zur Ehe bekenne, seinerseits gewillt sei, die ihm in der Ehe obliegenden Pflichten zu erfüllen und die Aufrechterhaltung der Ehe nicht jeden Sinn verloren habe; dies treffe im vorliegenden Fall zu, weil der Beklagte vornehmlich aus religiösen Motiven an der Aufrechterhaltung der Ehe interessiert sei und weil an seiner ernstlichen Absicht, die Ehe mit der Klägerin fortzuführen und die häusliche und eheliche Gemeinschaft mit ihr wiederaufzunehmen, nicht gezweifelt werden könne; da sich die Befürchtungen der Klägerin hinsichtlich einer Gefährdung allfälligen weiteren Nachwuchses als haltlos herausgestellt hätten, erscheine die Aufrechterhaltung der Ehe sittlich gerechtfertigt.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin statt und sprach die Scheidung der Ehe aus, wobei die Klägerin ein Verschulden treffe.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Oberste Gerichtshof vermag sich der Auffassung der Unterinstanzen, daß sieh die Befürchtungen der Klägerin hinsichtlich einer Gefährdung allfälliger weiterer Kinder als haltlos herausgestellt hätten, nicht anzuschließen. Gewiß nehmen sich die vom Sachverständigen angegebenen und von den Unterinstanzen fest gestellten Prozentsätze der Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Durchschnittsbevölkerung einerseits und der Neffen und Nichten "schizophrener Eltern" (0.5% bzw. 1.8%) rein ziffernmäßig nicht sehr groß aus. Es soll auch nicht übersehen werden, daß der Sachverständige selbst in diesem Zusammenhang von einer "nur wenig größeren Gefährdung als bei der Durchschnittsbevölkerung" gesprochen hat. Dabei handelt es sich aber doch um eine Rechtsfrage, deren Beurteilung Aufgabe des Gerichtes ist, und es muß darum davon ausgegangen werden, daß der Wahrscheinlichkeitsgrad doch um mehr als das Dreifache höher liegt als bei der Durchschnittsbevölkerung, unter der etwa 1% die Anlage zu Schizophrenie in sich trägt, wobei aber nur etwa die Hälfte der durch diese Anlage belasteten Personen erkranken. Die Besorgnis der Klägerin, in weiterer Nachkommenschaft könnte Schizophrenie wieder auftreten, kann darum nicht übergangen werden. Auch das Streben, erbkranken Nachwuchses zu vermeiden, ist sittlich gerechtfertigt, und gerade die von den Unterinstanzen festgestellte ernste Absicht des Beklagten, die Ehe mit der Klägerin fortzuführen, muß die Wiederaufnahme der Gemeinschaft mit ihm als für sie unzumutbar erscheinen lassen. Bei aller Würdigung des Gewichtes religiöser Momente kann die Beurteilung des Sachverhaltes im Scheidungsprozeß nach den Bestimmungen des Ehegesetzes nicht ausschließlich unter Bedachtnahme auf religiöse Momente erfolgen. Bei Abwägung aller im Verfahren hervorgekommener Umstände kann im vorliegenden Fall die Aufrechterhaltung der Ehe nicht mehr als sittlich gerechtfertigt bezeichnet werden.
Soweit der Beklagte dartun will, die von den Unterinstanzen unter Heranziehung des Sachverständigengutachtens festgestellten Wahrscheinlichkeitssätze hätten hier überhaupt nicht zu gelten, weil eine rezessive Erbkrankheit nur dann in Erscheinung trete, wenn sowohl von seiten des Vaters als auch von seiten der Mutter Erbkomponenten zusammenträfen, übersieht er, daß im Falle der Gefahr einer Erkrankung von Neffen und Nichten eines erbkranken Paares schon begrifflich davon ausgegangen werden muß, nur ein Elternteil dieser Neffen und Nichten stamme aus einer erblich bekanntermaßen belasteten Familie, während dies beim anderen Elternteil eben nicht vorausgesetzt wird; bei letzterem wird vielmehr angenommen, er gehöre zur Durchschnittsbevölkerung. Daß bei dem im Jahre 1956 geborenen Sohn der Streitteile bisher zum Glück keinerlei Krankheitssymptome aufgetreten sind, kann objektiv die Besorgnis der Klägerin keineswegs entkräften.
Die rechtskräftige Abweisung des auf § 37 EheG. gegrundeten Aufhebungsbegehrens, bei der seinerzeit ungeklärt blieb, ob Annemarie F. tatsächlich an Schizophrenie leidet und der Beklagte aus einer erblich belasteten Familie stammt, erfolgte wegen des Fehlens einer Irrtumsmöglichkeit auf Seite der Klägerin unter Bedachtnahme auf eine ihr schon vor der Eheschließung zugekommene Mitteilung. Dies steht einer Berücksichtigung der nunmehr erwiesenen Tatsache der Krankheitsfälle in der Familie des Beklagten bei Prüfung des Scheidungsbegehrens nach § 55 EheG. nicht entgegen.
Daß zufolge der Härteklausel des § 54 EheG. selbst im Falle einer Geisteskrankheit (§ 51 EheG.) kein unbedingter Anspruch auf Scheidung besteht, ist gewiß richtig, doch gibt gerade diese Gesetzesstelle nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofes (vgl. z. B. EvBl. 1961 Nr. 364) dem gesunden Gatten grundsätzlich ein Recht auf Scheidung, während die Härteklausel Ausnahmsfälle schützen soll. Es ist also nicht zu sehen, was für die Frage der Beachtlichkeit des Widerspruches des Beklagten, bei dem Schizophrenie - ungeachtet seiner Herkunft aus einer erblich belasteten Familie - ja nicht ausgebrochen ist, daraus gewonnen werden könnte, da Unbeachtlichkeit des Widerspruches ohnehin nur dann anzunehmen ist, wenn die Aufrechterhaltung der Ehe sittlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Diese Rechtfertigung nach sittlichen - also nicht etwa rein religiösen - Gründen, läßt sich aber nach den Verfahrensergebnissen im vorliegenden Fall nicht mehr finden.
Wenn auch unter diesen Umständen die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft durch die Klägerin und deren Weigerung, die Gemeinschaft wieder aufzunehmen, eheschuldrechtlich in einem anderen Licht erscheint, als die Unterinstanzen angenommen haben, ist doch m Hinblick auf die übrigen, von den Unterinstanzen festgestellten schweren Eheverfehlungen der Klägerin bei Stattgebung des Scheidungsbegehrens nach § 55 EheG. ein Verschulden der Klägerin im Urteil auszusprechen.
Anmerkung
Z38105Schlagworte
Ehescheidung Widerspruch nach § 55 EheG., Besorgnis vor erbkranker, Nachkommenschaft, Erbkranke Nachkommenschaft, Widerspruch nach § 55 EheG., Widerspruch nach § 55 EheG., Besorgnis vor erbkranker NachkommenschaftEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1965:0010OB00036.65.0624.000Dokumentnummer
JJT_19650624_OGH0002_0010OB00036_6500000_000