Norm
Besondere Bedingungen für die Sitzplatzunfallversicherung von Fluggästen usw. Punkt 5aKopf
SZ 38/213
Spruch
Zum Begriff "Kunstflug" (Punkt 5 a der Besonderen Bedingungen für die Sitzplatz-Unfallversicherung)
Entscheidung vom 9. Dezember 1965, 7 Ob 360/65
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien
Text
Unbestritten ist folgender Sachverhalt: Der Erstkläger war Eigentümer des Motorflugzeugs Piper XII Kennzeichen OE-AAV, das drei Sitzplätze hatte. Zwischen ihm und der Beklagten bestand eine sogenannte Sitzplatz- Unfallversicherung, laut der die Beklagte im Falle des Unfalltodes oder der bleibenden Invalidität der jeweiligen Insassen des Flugzeuges je Kopf den Betrag von 200.000 S zu bezahlen hatte. Außer den AUVB. bestanden noch besondere Bedingungen für die Sitzplatz-Unfallversicherung, laut deren Punkt 5 a waren vom Versicherungsschutz u. a. solche Unfälle ausgeschlossen, die bei der Ausführung von Kunst-, Rekord- und Akrobatikflügen und Flügen im Verband entstehen sollten.
Am 11. August 1961 unternahm Bernd K. als Pilot mit der genannten Maschine einen Flug von Seeboden am Millstättersee aus. Sein Fluggast war Peter B., der Sohn der Zweit- und Drittkläger. Das Flugzeug stürzte ab und versank im See, wodurch beide Insassen den Tod fanden.
Der Erstkläger stellt auf Grund dieses Sachverhaltes das Klagebegehren, die Beklagte zu verurteilen, ihm den Betrag von 190.000 S und an die Erben des Bernd K., nämlich Elisabeth, Helga und mj. Georg K. zusammen den Betrag von 10.000 S, somit insgesamt 200.000 S samt 4% Zinsen seit 12. August 1961 zu bezahlen. Er bringt vor, daß die Erben nach Bernd K. ihm von ihrer Forderung aus der Unfallversicherung 190.000 S als Ersatz für das durch das Verschulden des genannten Piloten zerstörten Flugzeuges abgetreten hätten. Die Zweit- und Drittkläger beantragen ebenfalls Zuspruch von 200.000 S samt 4% Zinsen seit 12. August 1961. Sie bringen noch vor, daß ihr Sohn an dem Unfall nicht schuldtragend gewesen sei.
Der Erstkläger stellte noch das Eventualbegehren, den Betrag von 200.000 S samt Zinsen den oben genannten Erben nach Bernd K. zu bezahlen.
Die Beklagte wendet zunächst ein, daß nach den AUVB. eine Abtretung von der Verpfändung des Anspruches auf Zahlung der Versicherungssumme vor deren Feststellung unzulässig sei. Im übrigen brachte sie vor, daß Bernd K. Kunstflüge, nämlich eine sogenannte hochgezogene Kehrtkurve ausgeführt habe und dabei abgestürzt sei. Nach der oben angeführten Bestimmung der besonderen Bedingungen für die Sitzplatz-Unfallversicherung sei sie aus diesem Gründe nicht leistungspflichtig.
Das Erstgericht wies alle Klagebegehren ab und stellte folgenden Sachverhalt fest:
K. startete vom Flugfeld Seeboden, nachdem er einen Flug von 4 Minuten Dauer angemeldet hatte. Er überflog den Ortsbereich Seeboden-Wirlsdorf, steuerte zunächst die Bucht an und flog sodann entlang des Nordufers des Sees in der Richtung gegen die Strandbäder. Das Flugzeug erreichte den See in einer Höhe von ungefähr 100 bis 150 m über dem Wasserspiegel, ging dann auf 80 bis 100 m herunter und senkte sich schließlich noch tiefer, wobei der Motor nur schwach hörbar war. Als sich die Maschine nur noch 20 bis 30 m über dem Wasserspiegel befand, wurde sie plötzlich unter Aufheulen des Motors hochgerissen. Sobald sie den höchsten Punkt der Aufwärtsbewegung erreicht hatte, beschrieb sie eine als steil zu bezeichnende Kehrtkurve von 180 Grad nach links und stürzte in deren Verlauf in einem Aufschlagswinkel von etwa 50 bis 60 Grad in den See.
Das geschilderte Manöver stellt eine Flugfigur dar, die mit dem Fachausdruck "hochgezogene Kehrtkurve" bezeichnet wird. Diese wird in nachstehender Weise ausgeführt. Das Flugzeug wird "angedrückt", d. h. es verläßt die Normallage und gewinnt durch die abwärtsgerichtete Bewegung an Geschwindigkeit. Sodann wird die Maschine hochgerissen, bis annähernd die frühere Höhe wieder erreicht ist. Die Geschwindigkeit wird noch zu einer sehr engen und daher auch steilen Kurve von 180 Grad ausgenützt, so daß das Flugzeug auf Gegenkurs kommt.
Das von K. gelenkte Flugzeug geriet bei Ausführung der hochgezogenen Kehrtkurve in einen "überzogenen" Flugzustand. Von einem solchen spricht man, wenn die Strömung abreißt und das Flugzeug keinen Auftrieb mehr besitzt. K. hatte den überzogenen Flugzustand nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Er unterließ es, rechtzeitig Gas zu geben und dadurch das Flugzeug, das infolge des überzogenen Zustandes nicht mehr der Steuerung gehorchend abstürzte, wieder in seine Gewalt zu bekommen. Erst knapp oberhalb der Wasserfläche gab, er wieder Gas, so daß sich der Neigungswinkel des Flugzeuges, verflachte. Es stand jedoch nicht mehr genug Höhe zur Verfügung. K. vermochte die Maschine vor dem Eintauchen in den See nicht mehr hochzureißen, was vermutlich der Fall gewesen wäre, wenn er das beschriebene Manöver nicht aus der zu geringen Höhe von weniger als 100 m oberhalb des Wasserspiegels ausgeführt hätte.
Das Erstgericht kommt zu dem rechtlichen Ergebnis, daß der Unfall bei der Ausführung eines Kunstfluges erfolgt sei. Es verweist auf die Bestimmung des § 35 (1) LVR. (Verordnung BGBl. 1959, Nr. 198), wonach ein Kunstflug ein solcher Flug sei, bei dem ungewöhnliche Fluglagen, plötzliche Veränderung der Fluglage oder ungewöhnliche Geschwindigkeitsänderungen willkürlich herbeigeführt werden. Ebenso beruft sich das Erstgericht auf § 57 (2) der Verordnung BGBl. 1958 Nr. 219. Nach lit. b dieser Bestimmung ist unter den Kunstflugfiguren, deren Ausführung ein Bewerber bei der Zusatzprüfung zum Kunstflug durchführen muß, die von je 2 hochgezogenen Kehrtkurven nach links und rechts angeführt. Die Ansicht, daß eine gewöhnliche hochgezogene Kehrkurve nicht als Kunstflug anzusehen sei, sondern daß dies nur bei anderen Figuren, insbesondere beim sogenannten Turn, der Fall sei, lehnt das Erstgericht ab.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Kläger nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Zu dem Vorwurf der Kläger, die Untergerichte hätten dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. H. die Unterscheidung zwischen einer "hochgezogenen Kehrtkurve" und solchen Figuren, die nach Ansicht des Sachverständigen als wirkliche Kunstflüge anzusehen sind, nicht die gehörige Beachtung geschenkt, ist zu bemerken, daß die Aufgabe des Sachverständigen stets auf dem Gebiet der Tatsachen, nicht aber auf dem der rechtlichen Beurteilung liegt. Im vorliegenden Fall hatte der Sachverständige auf Grund seiner Sachkunde zunächst ein Gutachten darüber abzugeben, welche Vorgänge, soweit sie nicht aus Zeugenaussagen festzustellen waren, sich bis zum Untergang des Flugzeuges abgespielt haben und wie der ursächliche Zusammenhang war. Er hatte weiters anzugeben, was man in Fachkreisen unter einer "hochgezogenen Kehrtkurve" versteht.
Ob dieses Verhalten aber einen Kunstflug im Sinne des Punktes 5 lit. a der Besonderen Bedingungen für die Sitzplatz-Unfallversicherung bildet, ist eine Frage der rechtlichen Beurteilung, weil es sich um die Auslegung der genannten Bestimmung handelt.
Die Untergerichte sind auf zwei Wegen zur Bejahung dieser Frage gekommen, nämlich auf Grund des § 35 LVR. und durch Vergleich mit § 57 der VO. BGBl. 1958 Nr. 219.
Die Kläger wenden sich dagegen, daß die Untergerichte nicht durch einen Sachverständigenbeweis geklärt hätten, was als ungewöhnliche Fluglage, ungewöhnliche Flugänderung und ungewöhnliche Geschwindigkeitsänderung zu verstehen ist. Es muß vom Zweck der genannte Festsetzung der Leistungsfreiheit ausgegangen werden. Wie gerade der vorliegende Fall zeigt, sind gewisse Flugweisen mit besonderen Gefahren verbunden. Die Bestimmung enthebt den Versicherer von dem damit verbundenen Wagnis. Bei ihrer Auslegung kommt es daher nicht darauf an, ob der "Kunstflug" eine fachlich hoch einzuschätzende Leistung darstellt, sondern, ob die willkürliche Abweichung von der üblichen Flugweise außergewöhnliche Gefahren mit sich bringt, ohne daß dies zu einem anderen Zweck erfolgt wäre, als um zumindest den Eindruck einer besonderen Leistung zu erreichen. Es kann nun nicht ernstlich bezweifelt werden, daß die allgemeine Flugweise nicht darin besteht, hochgezogene Kehrtkurven zu fliegen. Der Sachverständige verweist in seinem Gutachten darauf, daß ein von ihm näher beschriebenes einmotoriges Sportflugzeug für die hochgezogene Kehrtkurve ein "Andrücken" braucht, wogegen ein Saab-Düsenjäger des österreichischen Bundesheeres wegen seiner unvergleichlich größeren Schubkraft die gleiche Figur ohne eine solche Maßnahme durchführen kann. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß eine Geschwindigkeitssteigerung gleichen Ausmaßes für ein Düsenflugzeug gewöhnlich sein kann, für ein Sportflugzeug aber als außergewöhnlich bezeichnet werden muß, wenn sie zu keinem anderen Zweck als zu einem gewöhnlichen Flug erzielt werden soll und mit der gewöhnlichen Motorenkraft nicht erreicht werden kann, vielmehr dazu ein "Andrücken" erforderlich ist. Daß dies im vorliegenden Fall geschah, hat das Erstgericht entgegen der Annahme der Kläger als erwiesen angenommen, indem es, dem Sachverständigengutachten folgend, feststellte, daß die Figur, die K. flog, ein "Andrücken" voraussetzte, wodurch dann die Maschine hochgerissen werden kann. Ohne diese Maßnahme hätte sie nie diese erforderliche Geschwindigkeit erreichen können.
Als ungewöhnlich ist alles zu bezeichnen, was von der gewöhnlichen Flugweise abweicht, also das Erzielen einer höheren als durch Motorenkraft erreichbaren Geschwindigkeit durch abwärtsgerichtete Bewegung und das Fliegen in steiler und enger Kurve.
Es bedurfte daher im § 35 LVR. gar keiner näheren Ausführung, was unter ungewöhnlich zu verstehen ist. Der Hinweis auf § 31 (6) der VO. BGBl. 1958 Nr. 219 geht fehl. Dort wird schon für die Prüfung zur Erwerbung eines gewöhnlichen Privatpilotenführerscheines verlangt, daß der Bewerber u. a. eine Linkskurve mit wenigstens 40 Grad Querneigung im Gleitflug in 3 Drehungen zu fliegen und einen Seitengleitflug nach links auszuführen hat. Die Flugweise, wie sie nach dem Sachverständigengutachten und den Feststellungen des Erstgerichtes bei der hochgezogenen Kehrtwendung vorkommt, geht aber darüber weit hinaus.
Gemäß § 57 (2) der VO. BGBl. 1958 Nr. 219 hat, wer eine Kunstflugberechtigung für Motorpiloten erwerben will, bei der Zusatzprüfung Kunstflugfiguren auszuführen, unter denen dort in lit. b 2 hochgezogene Kehrtkurven nach links und rechts genannt sind. Der Sachverständige Dipl.-Ing. H. unterscheidet nun, wie er erwähnt, zwischen einer hochgezogenen Kehrtkurve und einer "Turn" genannten Kunstflugfigur. Bei letzterer steige - anders als bei der ersteren - das Flugzeug in einem Winkel von 75 bis 90 Grad, also beinahe senkrecht, an und führe die Wendung von 180 Grad bei Erreichung des höchsten Punktes durch, bei welchem die Steuerwirkung wegen der geringen Geschwindigkeit dazu gerade noch ausreiche. Die Verordnung verstehe nur den Turn als hochgezogene Kehrtkurve, was auch der Standpunkt der Prüfungskommissionen sei.
Da nun, wie auf Grund des Sachverständigengutachtens festgestellt wurde, die von K. geflogene Figur in der Fachsprache als hochgezogene Kehrtkurve bezeichnet wird, so würde es der Auslegungsregel des § 6 ABGB. widersprechen, der Vorschrift des § 57 der VO., BGBl. 1958 Nr. 219, den vom Sachverständigen angeführten Sinn beizulegen. Welchen Standpunkt die Prüfungskommissionen einnehmen, ist für den vorliegenden Fall belanglos. Unter Kunstflug im Sinne der Besonderen Bedingungen für die Sitzplatz-Unfallversicherung kann nichts anderes verstanden werden, als einschlägige Rechtsnormen mit diesem Ausdruck bezeichnen.
Die Ausführung des Sachverständigen, im § 57 (2) lit. b der genannten Verordnung sei der englische Ausdruck turn einfach übersetzt worden, ist nicht verständlich. Bezeichnet in der englischen Fachsprache dieses Wort, das sonst viele Bedeutungen hat, die vom Sachverständigen so genannte und geschilderte Flugfigur, dann ist nicht einzusehen, warum die Verordnung eine geradezu irrige Bezeichnung gewählt hätte, obgleich es doch ohne weiteres möglich gewesen wäre, die Erfordernisse zu einem Turn klar auszudrücken. Bemerkt sei, daß in der deutschen Prüfungsordnung im § 25 (1) (DBGBl. 1955 S. 331) ebenfalls unter den Leistungen, die bei der Prüfung für einen Kunstflug zu erbringen sind, hochgezogene Kehrtkurven angeführt werden. Bei Richtigkeit der Meinung des Sachverständigen würde in dieser Verordnung der gleiche Fehler enthalten sein.
Es ist daher der Ansicht der Untergerichte, daß Bernd K. einen Kunstflug unternommen hat, beizustimmen, womit der Risikoausschluß gegeben ist.
Anmerkung
Z38213Schlagworte
Flugzeugunfall Versicherungsausschluß, Kunstflug, zum Begriffe des - , Sitzplatzunfallversicherung von Fluggästen, Unfallversicherung bei FlugunfällenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1965:0070OB00360.65.1209.000Dokumentnummer
JJT_19651209_OGH0002_0070OB00360_6500000_000