Norm
Außerstreitgesetz §16Kopf
SZ 39/103
Spruch
Zum Wesen des Begriffes der offenbaren Gesetzwidrigkeit (§ 16 AußStrG.)
Entscheidung vom 7. Juni 1966, 4 Ob 511/66
I. Instanz: Handelsgericht Wien; II. Instanz: Oberlandesgericht Wien
Text
Am 13. Oktober 1965 beschloß die ordentliche Hauptversammlung der Österreichischen M.-AG. eine Neufassung ihrer Satzung. Dabei erhielt u. a. § 7 (1) dieser Satzung folgenden Wortlaut: "Die Zahl der Vorstandsmitglieder setzt der Aufsichtsrat fest. Er bestimmt auch die Geschäftsverteilung."
Am 8. November 1965 beantragte die genannte Aktiengesellschaft die Eintragung dieser und anderer Änderungen der Satzung in das Handelsregister. Sie erhielt vom Erstgericht mit Beschluß vom 4. Februar 1966 den Auftrag, u. a. § 7 (1) der Satzung neu zu fassen, weil die Fassung: "Die Zahl der Vorstandsmitglieder setzt der Aufsichtsrat fest", nicht dem Erfordernis des § 70 (2) erster Satz AktG. 1965 nachkomme und auch nicht ausreichend sei, da nach der Neufassung des § 17 Z. 5 AktG. 1965 die Satzung die Zahl der Vorstandsmitglieder bestimmen müsse.
Die Erste Österreichische M.-AG. erhob gegen diesen Auftrag Rekurs mit dem Antrag, den Beschluß des Erstgerichtes dahin abzuändern, daß folgende Neufassung des § 7 ihrer Satzung den Erfordernissen des Aktiengesetzes 1965 genüge und entspreche: "Der Vorstand besteht aus einer oder mehreren Personen. Die Zahl der Mitglieder des Vorstandes setzt der Aufsichtsrat fest. Der Aufsichtsrat hat die Verteilung der Geschäfte im Vorstand und die Geschäfte, die seiner Zustimmung bedürfen, zu bestimmen. Er hat eine Geschäftsordnung für den Vorstand zu bestimmen. Wird ein Mitglied des Vorstandes zum Vorsitzenden des Vorstandes ernannt, so steht ihm die Entscheidungsbefugnis nach § 70 (2) AktG. nicht zu."
Das Rekursgericht gab diesem Rekurs nicht Folge.
Der Oberste Gerichtshof wies den Revisionsrekurs der Aktiengesellschaft zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Gemäß Art. 9 (1) der 4. EinfVO. handelsrechtlicher Vorschriften sind die Vorschriften der §§ 1 - 19 AußStrG. im Handelsregisterverfahren anzuwenden. Nach § 16 AußStrG. findet bei Bestätigung der Entscheidung des Erstgerichtes durch das Rekursgericht nur im Falle einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit der Entscheidung oder einer begangenen Nullität die Beschwerde an den Obersten Gerichtshof statt. Dies erkennt die Rechtsmittelwerberin auch, verweist aber auf die Ausführungen von Herz in ÖJZ. 1955 S. 297 ff., wonach unter "offenbarer Gesetzwidrigkeit" im § 16 AußStrG. nur "unrichtige rechtliche Beurteilung" zu verstehen sei. Dieser Hinweis kann den Obersten Gerichtshof nicht veranlassen, von seiner seit Jahrzehnten einhelligen Rechtsprechung abzugehen.
Daß sich die Begriffe der offenbaren Gesetzwidrigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht decken, ergibt sich schon aus dem Eigenschaftswort "offenbar" vor dem Wort "Gesetzwidrigkeit". "Offenbar" ist gleichbedeutend mit "deutlich", "klar ersichtlich", "eindeutig" (Duden 7 Etymologie S. 476). Offenbar ist eine Tatsache dann, wenn von ihr angenommen werden kann, daß sie einer großen Menge von Menschen ohne jede Schwierigkeit bekannt geworden ist, also offenkundig, notorisch ist (vgl. § 269 ZPO. der davon spricht, daß Tatsachen, welche bei dem Gerichte offenkundig sind, keines Beweises bedürfen; dazu Fasching, Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen III, S. 265 Anm. 3). Die Gesetzwidrigkeit ist offenbar, wenn sie den Personen, die das Recht anzuwenden haben, ohne Schwierigkeiten auffallen muß. Daß es Fälle gibt, in denen einzelne dieser Personen trotzdem die Gesetzwidrigkeit ihrer Rechtsanwendung nicht bemerken, beweist entgegen der Meinung von Herz a. a. O. S. 300, keineswegs, daß gerade nur der Oberste Gerichtshof es wäre, auf den das Offenbarwerden zutreffen könnte,
Der Oberste Gerichtshof hat in diesen Fällen nur dafür zu sorgen, daß die allgemein erkennbare und daher offenkundige Gesetzwidrigkeit, der einzelnen Gerichte unterlegen sind, behoben wird. Der Begriff der Offenbarkeit findet sich etwa auch in den §§ 51 (2), 179 (1), 261 (6) ZPO. und anderen Bestimmungen wie im § 84 GOG.: "Beschluß ... der nach Überzeugung des Vorsitzenden auf offenbarer Verletzung oder unrichtiger Anwendung des Gesetzes beruht ...". Auch der Verwaltungsgerichtshof hat den Begriff der offenbaren Rechtswidrigkeit für das Verwaltungsverfahren in demselben Sinne wie der Oberste Gerichtshof ausgelegt (vgl. Just, Die materielle Rechtskraft im Dienstrechtsverfahren, JBl. 1955 S. 356).
Die Fassung des § 16 AußStrG., wonach in Gegenständen außer Streitsachen dann, wenn das Obergericht den Bescheid des unteren Richters bestätigt, nur im Falle einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit der Entscheidung oder einer begangenen Nullität die Beschwerde an den Obersten Gerichtshof stattfindet, bestätigt die Richtigkeit der langjährigen Auslegungspraxis dieses Gerichtshofes. Beim Vorliegen zweier gleichlautender Entscheidungen der Untergerichte soll eben nur in Ausnahmefällen der Oberste Gerichtshof angerufen werden könne. Wenn der Begriff der offenbaren Gesetzwidrigkeit dasselbe wäre wie der Begriff der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, wie Herz a. a. O., derselbe, In dubio pro iudicio?, ÖJZ. 1956 S. 253 ff., Schneider, ÖJZ. 1958 S. 507 f. und Mayer, Zum Begriff der "offenbaren Gesetzwidrigkeit" gemäß § 16 Abhandlungs- Patent, JBl. 1953 S. 402, annehmen, bestunde der Ausnahmefall des § 16 AußStrG. nur darin, daß bei gleichlautenden Entscheidungen gerade nur der Rekursgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens (der Rekursgrund der unrichtigen Beweiswürdigung kommt in der dritten Instanz von vornherein nicht in Frage) wegfiele. Soweit die angeführten Schriftsteller, aber auch Kastner, zum außerordentlichen Revisionsrekurs im außerstreitigen Verfahren, NotZ. 1953 S. 152, rechtspolitische Erwägungen anstellen, kann auf sie nicht eingegangen werden.
Ganz besonders spricht aber die prozeßgerichtliche Begriffsentwicklung für die Richtigkeit der Ansicht des Obersten Gerichtshofes. Das kaiserliche Patent vom 9. August 1854, RGBl. Nr. 208, wodurch ein neues Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen eingeführt wurde, ist zu einer Zeit erlassen worden, als das kaiserliche Patent vom 1. Mai 1781, JGS. Nr. 13, mit dem die Allgemeine Gerichtsordnung in Kraft gesetzt wurde, gegolten hat. Nach deren § 260 war jede Revision, aber auch jeder Rekurs gegen eine bestätigende Entscheidung unzulässig. Erst allmählich bildete sich ein außerordentlicher Revisionszug heraus, der zunächst der kaiserlichen Genehmigung bedurfte, dann aber auf Grund des A. h. Kabinettschreibens vom 14. Jänner 1837 unter der Voraussetzung für zulässig erklärt wurde, daß eine Zweidrittelmajorität des zur Entscheidung berufenen Senates der Obersten Justizstelle dafür wäre und daß sich die gleichförmigen Urteile "wirklich als offenbar gesetzwidrig darstellen" (Maasburg, Geschichte der Obersten Justizstelle in Wien[2] S. 48, Anm. 102). Damit war der Begriff der offenbaren Gesetzwidrigkeit, der mit Rücksicht auf das grundsätzliche Verbot eines weiteren Rechtszuges gegen gleichlautende Entscheidungen als Fall der qualifizierten, evidenten Gesetzwidrigkeit aufzufassen war, als Ventil gegen "offenbare Ungerechtigkeit" (vgl. HfD. v. 15. Februar 1833, JGS. Nr. 2593) geschaffen worden.
Der Begriff der offenbaren Gesetzwidrigkeit ist dann in die damaligen Gesetze übergegangen. So ist auf die kaiserliche Entschließung vom 3. Oktober 1854, Nr. 19.153, über das Judikatenbuch (vgl. Judikate und Sprüche des Obersten Gerichtshofes, S. XLV) zu verweisen, wo von Beschlüssen einzelner Senate des Obersten Gerichtshofes die Rede ist, "welche ... offenbar akten- oder gesetzwidrig sind". Es kann aber auch auf die §§ 318 und 335 der damals auf Grund der kaiserlichen Entschließung vom 12. September 1852 erlassenen siebenbürgisch-ungarischen Civilprozeßordnung vom 16. September 1852 hingewiesen werden. Der § 318 lautet: "Hat aber die zweite Instanz den Bescheid des unteren Richters bestätigt, so findet nur im Falle einer offenbaren Ungerechtigkeit der Entscheidung (§ 335) oder einer begangenen Nullität (§ 339) der Rekurs an die dritte Instanz statt". Der § 335 hat folgenden Wortlaut: "Nur wenn die gefällte Entscheidung sich auf eine offenbar irrige Auslegung oder Anwendung des Gesetzes oder auf eine Voraussetzung grundet, die dem klaren Inhalte der Akten widerspricht; wenn sie unverständlich ist; oder das Begehren der Parteien überschreitet, darf der Revision gegen gleichlautende Entscheidungen stattgegeben werden". Auch diese Bestimmungen deuten auf den Ausnahmecharakter der Rechtsmittel gegen gleichlautende Entscheidungen und auf die Voraussetzung hin, daß nicht jede, sondern nur eine offenkundige Gesetzwidrigkeit das Rechtsmittel zulässig macht (vgl. dazu Ferdinand Schuster, Die Civilprozeßordnung für die Königreiche Ungarn usw.[3], Manz 1859, S. 632).
Nicht anders kann der § 16 des aus derselben Zeit stammenden Außerstreitgesetzes ausgelegt werden. Auch nach dieser Gesetzesstelle ist der Begriff der offenbaren Gesetzwidrigkeit, wie der Oberste Gerichtshof in zahlreichen, während mehrerer Jahrzehnte erlassenen Entscheidungen ausgesprochen hat, dem Begriff der unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht gleichzuhalten. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit liegt vielmehr nur dann vor, wenn die zur Beurteilung gestellte Frage im Gesetz selbst so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde.
Im vorliegenden Fall kann von offenbarer Gesetzwidrigkeit im dargelegten Sinn nicht gesprochen werden.
§ 17 AktG. 1965 lautet: "Die Satzung muß bestimmen ... 5. die Art der Zusammensetzung des Vorstandes (Zahl der Vorstandsmitglieder)."
Die Rechtsansicht der Untergerichte, daß die Satzung selbst die Zahl der Vorstandsmitglieder nennen müsse und daß es nicht dem Aufsichtsrat überlassen bleiben könne, wieviel Vorstandsmitglieder bestellt werden, ist daher durch den Wortlaut des neuen Aktiengesetzes gedeckt.
Die Rechtsmittelwerberin sucht auf Grund der Entstehungsgeschichte dieser Gesetzesstelle und auf Grund der Materialien zum Aktiengesetz 1965 darzutun, daß unter "Zahl der Vorstandsmitglieder" auch ein Zahlenrahmen verstanden werden könne, daß also die Festsetzung einer Mindest- und Höchstzahl zulässig sei und daß es daher nach dem neuen Gesetz keinen Einwand dagegen geben könne, bei der Bestimmung eines solchen Rahmens die Untergrenze mit 1 festzusetzen.
Diese Ausführungen übersehen zunächst, daß die Materialien erst dann zur Auslegung heranzuziehen sind, wenn die Ausdrucksweise des Gesetzes selbst zweifelhaft ist (SZ. XXII 1; 4 Ob 28/57 = JBl. 1957 S. 513), und daß ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht angedeutet ist und nur in den Materialien steht, nicht durch Auslegung Geltung erlangen kann (2 Ob 464/60 = JBl. 1961 S. 425; Rkv 1/62 = EvBl. 1963 Nr. 22; Ehrenzweig[2] I 1 S. 77). Die Rechtsmittelausführungen übersehen aber auch, daß es nicht darauf ankommt, ob § 17 Z. 5 AktG. 1965 auch anders ausgelegt werden könnte oder ob die Auslegung, die die Untergerichte dieser Gesetzesstelle gegeben haben, richtig ist oder nicht, sondern einzig und allein darauf, ob die Auslegung der Untergerichte offenbar mit dem Gesetz unvereinbar ist. Da sich aber die Auslegung der Untergerichte mit dem Wortlaut des Gesetzes, wonach die Zahl der Vorstandsmitglieder von der Satzung bestimmt werden muß, deckt, kann von einer offenbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 16 AußStrG. keine Rede sein.
Anmerkung
Z39103Schlagworte
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ECLI:AT:OGH0002:1966:0040OB00511.66.0607.000Dokumentnummer
JJT_19660607_OGH0002_0040OB00511_6600000_000