TE OGH 1971/12/9 2Ob179/71 (2Ob180/71)

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.12.1971
beobachten
merken

Norm

ABGB §26
ABGB §1295
ABGB §1315
Straßenverkehrsordnung §93 Abs5

Kopf

SZ 44/187

Spruch

Eine Gemeinde haftet für eigenes Verschulden ihrer leitenden Funktionäre, wenn ihre Organisation unzureichend ist, um einen entsprechenden Schneeräum- und Streudienst sicherzustellen. Sie haftet so wie der Anrainer, dessen Streupflicht sie übernommen hat OGH 9. 12. 1971, 2 Ob 179, 180/71 (OLG Innsbruck 2 R 64/71; LG Innsbruck 8 Cg 117/69)

Text

Der Kläger stürzte am 13. 1. 1967 in K auf einem Gehsteig. Er begehrte Schadenersatz im Betrage von S 46.372.- sA und DM 5499.93 sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten (Gemeinde K) für seinen künftigen Schaden, weil die Beklagte "offenbar" die Schneeräum- und Streuverpflichtung im Unfallsbereich gemäß § 93 StVO übernommen, aber nicht erfüllt habe.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung und bestritt, eine Verpflichtung im Sinne des § 93 Abs 5 StVO übernommen zu haben. Der Unfallsbereich stehe im Eigentum der Republik Österreich, weshalb die Verpflichtung zur Gehsteigsäuberung die Bundesstraßenverwaltung treffe. Selbst wenn die Beklagte eine Verpflichtung zur Gehsteigräumung treffe, könnte sie aber nur haftbar gemacht werden, wenn ihren Organen ein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden könnte. Dies sei zu verneinen, da alle verfügbaren Arbeitskräfte und Maschinen der Beklagten im Einsatz gestanden seien. Überdies treffe den Kläger wegen eigener Unvorsichtigkeit das Alleinverschulden. Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren statt, sprach dem Kläger S 35.896.- sA sowie den Schilling-Gegenwert von DM 5388'68 sA zu und wies das Mehrbegehren von S 10.476.- und DM 111.25 sA ab. Das mit S 40.000.- begehrte Schmerzengeld wurde mit S 30.000.- als angemessen angesehen und in dieser Höhe zugesprochen. Das Berufungsgericht bestätigte - die Abweisung des Teilbegehrens auf Zahlung von S 476.- sA und DM 111.25 sA war unangefochten geblieben - die Abweisung des Teilbegehrens von S 10.000.-. Im übrigen hob es das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache insoweit unter Rechtskraftvorbehalt zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung ans Erstgericht zurück.

Der Oberste Gerichtshof gab weder der Revision noch dem Rekurs des Klägers Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Folgende Feststellungen des Erstgerichtes blieben unbekämpft:

Am 13. 1. 1967 ging der am 6. 12. 1900 geborene Kläger gegen 1/2 12 Uhr mittags auf dem in seiner Gehrichtung rechts verlaufenden Gehsteig. Da es in der vorangegangenen Nacht geschneit hatte, trug er hohe Pelzschuhe mit Profilsohle, an welchen er überdies noch einen aus Drahtspiralen bestehenden Gleitschutz angebracht hatte. Zudem benützte er einen Gehstock, der mit einem Schneeteller versehen war und an seiner Spitze einen Metalldorn hatte. Nachdem der Kläger die K-brücke passiert hatte und vor das Haus des Baumeisters Dr Louis M gekommen war, rutschte er aus und stürzte auf die linke Kopfseite. Sichtbare Verletzungsfolgen waren nicht zu bemerken, doch empfand der Kläger Kopfschmerzen, die nach etwa drei Tagen verschwunden waren. Kurz vor Ostern 1967 bekam der Kläger Schmerzen im Genick, die einige Tage anhielten. Kurz danach mußte der Kläger zu einer Kontrolluntersuchung wegen einer im Jahre 1966 dort ausgeführten Operation nach München fahren. Während dieser Fahrt hatte er starke Kopfschmerzen, die zum Erbrechen führten. Bei der urologischen Kontrolluntersuchung in München fiel der Kläger durch Persönlichkeitsveränderung und Gangunfähigkeit auf. Er wurde daher am 13. 4. 1967 zur stationären Durchuntersuchung in ein Münchener Krankenhaus aufgenommen. Am 3. 5. 1967 erfolgte die operative Entleerung eines subduralen Hämatoms. Die Nachbehandlung dauerte bis 20. 5. 1967, worauf sich der Kläger gut erholte. Dieses subdurale Hämatom wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den Sturz des Klägers vom 13. 1. 1967 verursacht. Der Kläger hatte eine Woche starke, sechs Wochen mittelstarke und drei Monate leichte Schmerzen. Spätfolgen iS der Auflösung und Verschlimmerung vorgegebener physiologischer Abbauvorgange des Gehirns sind nicht auszuschließen.

Der Gehsteig, in dessen Bereich sich der Sturz des Klägers ereignete, bildet zusammen mit der Bundesstraße eine im Eigentum der Republik Österreich stehende Parzelle. An der Unfallstelle lag sehr glatter, stark gepreßter Schnee in Stärke von 5 bis 6 cm, wobei der Gehsteig gegen die Fahrbahn hin ein leichtes Gefälle aufwies. Diese Tatsache hat mit größter Wahrscheinlichkeit ihre Ursache darin, daß das Räumfahrzeug nicht mit allen vier Rädern auf dem hiefür zu schmalen Gehsteig fahren konnte, sodaß die Räder der linken Fahrzeugseite auf der Fahrbahn und die Räder der rechten Fahrzeugseite auf dem rechten Gehsteig fahren mußten. Zur Unfallszeit war der in Rede stehende Gehsteig noch nicht gestreut, die Schneeräumung hatte am Tage des Unfalls stattgefunden. Das Wetter war bewölkt und mild. Der Gehsteig wurde 1965 oder 1966 errichtet. Seit damals führt die beklagte Partei aus Gründen der Zweckmäßigkeit die Schneeräumung und Streuung nicht nur der Fahrbahn, sondern auch dieses Gehsteiges durch, ohne daß sie eine diesbezügliche Verpflichtung durch Rechtsgeschäft mit den Eigentümern der Anrainergrundstücke iS des § 93 Abs 5 StVO übernommen hätte und ohne daß sie von diesen Anrainern jemals ein Entgelt für diese Tätigkeit verlangt hätte. Die beklagte Partei hat insgesamt zirka 50 km Straßen und Gehsteige zu betreuen. Mit der Schneeräumung und Streuung sind normalerweise 20 Mann beschäftigt. Die Beklagte verfügt über zwei große Schneepflüge, einen Unimogpflug und einen Schaufellader. An Fremdfahrzeugen werden im Bedarfsfalle ein großer Schaufellader, ein Traktor mit Seitenpflug und sechs bis sieben LKW zum Zwecke der Schneeabfuhr herangezogen. In Extremfällen kann die Beklagte für Schneeräum- und Streuarbeiten 25 bis 30 Mann einsetzen. Nach Durchführung der Schneeräumung läßt die Beklagte die geräumten Fahrbahnen und Gehsteige streuen, wobei für die Streuung der Fahrbahnen Streufahrzeuge zur Verfügung stehen, während die Gehsteige von Hand gestreut werden müssen.

Das Erstgericht war der Ansicht, daß die Beklagte die Schneeräumung im Unfallsbereich ohne Rechtspflicht besorgt habe, da diese nach § 93 Abs 1 StVO den Eigentümer der Anrainerliegenschaft getroffen habe und die Beklagte diese Verpflichtung nicht durch ein Rechtsgeschäft nach § 93 Abs 5 dieses Gesetzes übernommen habe, Wer eine Gefahrenquelle schaffe, müsse Vorkehrungen treffen, um Schäden zu vermeiden. Die Haftung der Beklagten sei zu bejahen, weil die Räumung des Gehsteiges in der Weise, daß eine harte gegen die Fahrbahn hin abfallende Schneedecke entstand, die noch dazu nicht gestreut war, die Schaffung einer Gefahrenquelle bedeutet habe. Unter diesen Umständen könne an einem Verschulden der Organe der Beklagten nicht gezweifelt werden. Ein Mitverschulden des Klägers liege angesichts seiner besonders guten Ausrüstung als winterlicher Fußgänger nicht vor. Die Haftung der Beklagten bestehe daher dem Gründe nach zur Gänze zu Recht. Diese Haftung trete nicht nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ein, weil sie nicht auf den Bestimmungen des Bundesstraßengesetzes beruhe, sondern darauf, daß die Beklagte nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen habe, um den Eintritt von Schäden aus einer von ihr geschaffenen Gefahrenquelle zu vermeiden.

Wegen der ausgestandenen Schmerzen gebühre dem Kläger ein Schmerzengeld von S 30.000.-.

Das Berufungsgericht führte aus, über die Berufung des Klägers, der ein Schmerzengeld von S 40.000.- begehrte, im abweislichen Sinne unabhängig davon entscheiden zu können, ob sich im zweiten Rechtsgang überhaupt eine Haftung der Beklagten für die Unfallsfolgen ergeben werde. Auch wenn nämlich diese Haftung anzunehmen wäre, würde dem Kläger kein höheres Schmerzengeld als S 30.000.- gebühren. Der Revisionswerber führt aus, daß im derzeitigen Verfahrensstadium eine Sachentscheidung über das Schmerzengeld nicht möglich gewesen sei, und beantragt die Aufhebung des Teilurteils.

Die Revisionsgegnerin hält die Revision für unzulässig, weil es sich um eine bestätigende Entscheidung wegen S 10.000.- handle. Sie übersieht, daß es darauf ankommt, ob das Ersturteil voll bestätigt wurde (§ 502 Abs 3 ZPO, Jud 56 neu). Dies war nicht der Fall, weil das Ersturteil teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde (SZ 27/112).

Die Revision ist daher zulässig; sie ist nicht begrundet. Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß dem Kläger keinesfalls ein höheres Schmerzengeld als S 30.000.- gebühre, und wies deshalb das Mehrbegehren von S 10.000.- schon jetzt mit Teilurteil ab. Da der Kläger zur Höhe des ihm allenfalls gebührenden Schmerzengeldes in der Revision nichts ausführt, sondern sich lediglich gegen das Vorgehen des Berufungsgerichtes wendet, ist bloß darauf hinzuweisen, daß die Erlassung eines klagsabweisenden Teilurteils im Ermessen des Berufungsgerichtes stand. Der Kläger übersieht, daß der Grund des Anspruches nur im Falle einer positiven Entscheidung über das Schmerzengeldbegehren hätte geprüft werden müssen.

Zum Rekurs:

Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, die Beklagte habe die Schneeräumung auf dem fraglichen Gehsteig im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag zum Nutzen der Liegenschaftseigentümer (§ 1037 ABGB) unentgeltlich und freiwillig durchgeführt. Die Frage der Haftung der Beklagten sei daher zunächst nach § 1315 ABGB zu prüfen. In dieser Richtung lägen aber weder entsprechende Behauptungen des Klägers noch Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes vor. Die Haftung der Beklagten wäre aber noch in anderer Richtung zu prüfen gewesen, wozu im Ersturteil eine Feststellungsgrundlage fehle. Nach § 6 Abs 3 BStG könne die Erhaltung von Ortsdurchfahrten Gemeinden mit mehr als 3000 Einwohnern, was für die Beklagte zutreffe, von der Bundesstraßenverwaltung gegen jederzeitigen Widerruf übertragen werden. Diesfalls würde die Beklagte gemäß § 11 BStG zum Schadenersatz verpflichtet sein, wenn ihre Organe die Instandhaltung der Straße vorsätzlich oder in grob fahrlässiger Weise vernachlässigt hätten. Das Erstgericht werde festzustellen haben, ob sich die Unfallstelle im Bereich einer Ortsdurchfahrt nach § 6 Abs 1 BStG befinde, bejahendenfalls, ob ihre Erhaltung der Beklagten übertragen gewesen sei und ob ihre Organe vorsätzlich oder grob fahrlässig einen gefährlichen Zustand des Bereiches herbeigeführt hätten. Das erstgerichtliche Verfahren sei also ergänzungsbedürftig.

Der Rekurswerber bringt dazu vor, die Einschränkung der Haftung der Beklagten auf den Fall des § 1315 ABGB sei unrichtig, weil der Geschäftsführer ohne Auftrag für seine Gehilfen nach § 1313a ABGB hafte.

Diese Behauptung ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Der Geschäftsführer ohne Auftrag haftet wohl Dritten für den bei Ausführung des Geschäftes schuldhaft und rechtswidrig verursachten Schaden und auch für seine Erfüllungsgehilfen (Stanzl in Klang[2] IV/1 896 zu § 1035), doch setzt dies voraus, daß sich der Geschäftsführer ohne Auftrag eines Erfüllungsgehilfen bedient hat. Die Verletzung der Streupflicht einem Passanten gegenüber bedeutet nicht die Verletzung einer Verpflichtung einer bestimmten Person gegenüber (vgl Jud 50 neu); daher kann es sich beim Verschulden einer Hilfsperson - auch bei Annahme einer Geschäftsführung ohne Auftrag - hier nur um das eines Besorgungsgehilfen handeln.

Wird durch Vernachlässigung einer Schutzvorschrift (hier § 93 StVO 1960) ein Schaden verursacht, trifft die Beweislast für ein unverschuldetes Übertreten der Schutznorm den Schädiger (ZVR 1970/232). Besteht die Schadensursache in einer Unterlassung, muß der Geschäftsherr beweisen, daß er eine tüchtige Person mit der Verrichtung betraut und gehörig überwacht hat (JBl 1969, 498). Der Rekurswerber rügt ferner den Ergänzungsauftrag des Berufungsgerichtes deswegen, weil die Übernahme der Erhaltung der Ortsdurchfahrt durch die Beklagte nichts mit der Frage der Gehsteigreinigung zu tun habe; diesbezüglich sei nur § 93 StVO 1960 maßgebend.

Die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage wäre dann von Bedeutung, wenn es sich um die Instandhaltung des Gehsteiges im allgemeinen handelte (vgl RZ 1960, 143), nicht aber, wenn, wie hier, die besondere Frage der Schneeräumung und der Bestreuung des Gehsteiges zu klären ist. Daß die Unfallstelle im Ortsgebiet von K liegt, wurde nicht in Zweifel gezogen. Die Verpflichtung zur Schneeräumung traf daher gemäß § 93 Abs 1 StVO den Anrainer (vgl ZVR 1959/164). Da aber dieser nichts dagegen hatte, daß die Beklagte die Gehsteigreinigung besorgte, kann davon ausgegangen werden, daß durch stillschweigende (§ 863 ABGB) Einigung diese Verpflichtung auf die Beklagte übertragen bzw von dieser übernommen wurde (§ 93 Abs 5 StVO). Für den Fall der Übernahme der winterlichen Säuberung des Gehsteiges durch eine Gemeinde wurde nun zwar ausgesprochen, daß dann ihre Haftung für die Straßenreinigungsorgane nicht nur unter dem Gesichtspunkt des § 1315 ABGB, sondern auch unter jenem gegeben sein kann, daß den Organen vorsätzliche oder grob fahrlässige Vernachlässigung der Schneeräumung und Streuung anzulasten ist (JBl 1958, 336). Diese Auffassung kann aber nicht aufrechterhalten werden, weil der Umfang der Haftung für die Gehsteigreinigung nicht davon abhängen kann, wer die Streupflicht im Einzelfalle übernommen hat. Wenn daher die Beklagte die Verpflichtung des Anrainers nach § 93 StVO übernommen hat, haftet sie so, wie der Anrainer gehaftet hätte, dh für das Verschulden der Straßenpflegeorgane nach § 1315 ABGB.

Daneben könnte nach dem Klagsvorbringen auch eine Haftung der Beklagten für eigenes Verschulden ihrer leitenden Funktionäre in Betracht kommen, wenn die Organisation der Beklagten unzureichend gewesen sein sollte, um einen entsprechenden Schneeräum- und Streudienst sicherzustellen (zB Einsatz ungeeigneter Maschinen, mangelhafte Instruktion oder Beaufsichtigung der Besorgungsgehilfen vgl SZ 27/118; SZ 27/261; JBl 1961 358; JBl 1969, 498; RZ 1971, 121). Das Erstgericht wird daher Feststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung der Rechtssache in den aufgezeigten Richtungen ermöglichen. Einer Prüfung der Anwendbarkeit des Bundesstraßengesetzes bedarf es nicht.

Anmerkung

Z44187 2Ob179.71

Schlagworte

culpa in organisando, Gemeinde, Gemeinde, culpa in organisando, Gemeinde, Haftung für Verschulden leitender Funktionäre, Gemeinde, innerbetrieblicher Organisationsmangel, Gemeinde, Organisationsmangel, Gemeinde, Schneeräumdienst, Gemeinde, Streudienst, Leitender Funktionär, Haftung für Verschulden des - einer Gemeinde, Organisationsmangel, Gemeinde, Organisationsmangel, innerbetrieblicher, Schneeräumdienst, Gemeinde, Streudienst, Gemeinde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1971:0020OB00179.71.1209.000

Dokumentnummer

JJT_19711209_OGH0002_0020OB00179_7100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten