Norm
ABGB §1295Kopf
SZ 45/28
Spruch
Der für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit entwickelte Grundsatz, daß als den Versicherungsfall auslösende Ursachen nur solche in Betracht kommen, die für den Erfolg eine wesentliche Bedingung waren und nicht bloß als "Gelegenheitsursache" anzusehen sind, läßt sich nicht ohne weiteres auf den Bereich des Schadenersatzrechtes übertragen
Haftung des Schädigers für die Folgen einer anlagebedingten, aber durch den Unfall ausgelösten Neurose
OGH 9. 3. 1972, 2 Ob 231/71 (OLG Graz 2 R 46/71; LGZ Graz 6 Cg 119/67)
Text
Am 2. 3. 1961 wurde die Klägerin als Fahrgast eines Linienautobusses der von der beklagten Partei betriebenen Landesbahnen dadurch verletzt, daß ihr ein in Rollenform verpackter Bodenbelag, den ein Fahrgast mit Zustimmung des Autobuslenkers in das Gepäcksnetz gelegt hatte, auf den Kopf fiel.
Die Klägerin behauptet, sie habe dadurch nicht nur eine Gehirnerschütterung und eine Zerrung der Halswirbelsäule erlitten, sondern es seien als Folge dieses Unfalles auch Lähmungserscheinungen, Schwindelanfälle, Zittern und Kopfschmerzen aufgetreten. Dabei handle es sich um Dauerfolgen, die ihre völlige Arbeitsunfähigkeit bewirkt hätten.
Die beklagte Partei bestreitet im wesentlichen, daß die behaupteten Dauerfolgen auf den Unfall zurückzuführen seien.
In den vorangegangenen Rechtsgängen wurde geklärt, daß die beklagte Partei für den der Klägerin aus dem Unfall vom 2. 3. 1961 entstandenen Schaden nur nach den Bestimmungen des Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes - in der zur Zeit des Unfalles geltenden Fassung - zu haften hat. Im nunmehrigen Rechtsgang waren noch folgende Ansprüche der Klägerin streitverfangen: S 84.779.78 sA an Heilungskosten und Kosten für Ersatzkräfte, eine monatliche Rente von S 1000.- ab 1. 9. 1967 und die Feststellung der vollen Haftung der beklagten Partei für alle (künftigen) Schäden der Klägerin aus dem Unfall vom 2. 3. 1961, ausgenommen jedoch Ansprüche auf Zahlung eines Schmerzengeldes.
Das Erstgericht sprach der Klägerin S 9432.33 sA zu und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren ab. Dieses Urteil wurde in seinem stattgebenden Teil, der sich auf die durch unmittelbare Unfallsverletzungen (leichte Gehirnerschütterung und Zerrung der Halswirbelsäule) entstandenen Schäden bezieht, rechtskräftig. Die gegen den abweisenden Teil, der die Schäden aus den nach Abklingen der vorerwähnten Verletzungen aufgetretenen sonstigen Gesundheitsstörungen betrifft, erhobene Berufung der Klägerin hatte Erfolg.
Das Berufungsgericht hob das Ersturteil insoweit unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Sache in diesem Umfange an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurück.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der beklagten Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Zur Frage, welche der bei der Klägerin nach dem Unfall aufgetretenen Gesundheitsstörungen unfallskausal sind, stellte das Erstgericht im wesentlichen fest:
Die Klägerin erlitt am 2. 3. 1961 eine leichte Gehirnerschütterung mit kurzdauernder Bewußtlosigkeit und eine Zerrung (Prellung) der Halswirbelsäule mit cervikalen Neuralgie und vorübergehenden Sensibilitätsstörungen in den Händen. Diese Zustände waren etwa Mitte Mai 1961 abgeklungen. Darüber hinaus bestanden keine organischen Unfallsfolgen, also keine bleibende Organschädigung des Gehirnes, des Rückenmarkes, des peripheren Nervensystems oder der Struktur der Halswirbelsäule. In der Folge traten aber bei der Klägerin Lähmungen, Anfälle, Aphorien, Amnesien und dergleichen Manifestationen auf, die zu weiteren Krankenhausaufenthalten, ärztlichen Behandlungen, Kuraufenthalten und zu einer weitgehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin führten.
Die erwähnten Manifestationen sind nicht organischer, sondern psychogener Natur. Die Klägerin bietet das Krankheitsbild einer schweren Neurose, das sich auf der Basis einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur mit zwanghaften, depressiven und hysterischen Zügen entwickelt hat. Diese Neurose ist nicht unfallsbedingt. Die Verletzungen, die die Klägerin am 2. 3. 1961 erlitt, führten allerdings auch zu einem psychischen Schocksyndrom. Es kam zu einer neurotischen Entwicklung und Fixierung und schließlich zu einem schicksalhaften, vom Unfallsereignis unabhängig verlaufenden neurotischen Geschehen. Die primären Unfallsfolgen (leichte Gehirnerschütterung und Zerrung der Halswirbelsäule) wären auch bei jedem anderen Menschen eingetreten. Das Bestehen einer neurotischen Grundkonstitution bei der Klägerin war die Ursache dafür, daß ein an sich geringfügiges äußeres Ereignis eine Neurose aufflammen ließ und diese schließlich in einem eigenständigen Lauf fixierte. Jedes andere physische oder psychische Trauma hätte bei der Klägerin zu einem gleichartigen psychischen Bild und zur Entwicklung der vorliegenden Neurose geführt. Aus welchen Gründen bei der Klägerin nicht schon früher ein derartiges Zustandsbild aufgetreten ist und wann es ohne den gegenständlichen Unfall aufgetreten wäre, ist nicht feststellbar. Das Unfallsereignis vom 2. 3. 1961 war bei der Klägerin für das nunmehrige Zustandsbild zwar auslösend, jedoch nicht die ursächliche Grundlage.
Das Erstgericht ging bei der rechtlichen Beurteilung davon aus, daß daher nur die bis etwa Mitte Mai abgeklungene leichte Gehirnerschütterung und die Zerrung der Halswirbelsäule als unfallskausal anzuerkennen seien, das heißt, daß der Klägerin nur jene Schäden zu ersetzen seien, die aus der leichten Gehirnerschütterung und der Zerrung der Halswirbelsäule entstanden seien. Da die Klägerin als Folge des Unfalles nur bis Mitte Mai 1961 arbeitsunfähig gewesen sei und da unfallskausale Dauerfolgen nicht bestehen, sei weder das Feststellungs- noch das Rentenbegehren gerechtfertigt.
Das Berufungsgericht hingegen vertrat die Ansicht, die beklagte Partei habe im Rahmen des Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes in der zur Zeit des Unfalles geltenden Fassung auch für die Folgen der zwar anlagebedingten, aber doch durch den Unfall ausgelösten Neurose zu haften, weil nicht festgestellt sei, daß die krankhafte Anlage auch ohne den Unfall vom 2. 3. 1961 in absehbarer Zeit den gleichen Gesundheitsschaden herbeigeführt hätte. Der Klägerin seien somit auch jene Schäden zu ersetzen, die auf ihrer schweren Neurose beruhen. Im fortgesetzten Verfahren werde sich das Erstgericht daher auch mit den weiteren Klagsansprüchen zu befassen, deren Stichhaltigkeit zu prüfen und den vorerwähnten Haftungsumfang zu berücksichtigen haben.
Dem gegenüber will sich die Rekurswerberin auf die erstgerichtlichen Feststellungen berufen, wonach der derzeitige Krankheitszustand der Klägerin nicht unfallsbedingt, sondern anlagebedingt und das Unfallsereignis bei der Klägerin für das nunmehrige Zustandsbild zwar auslösend, jedoch nicht die ursächliche Grundlage gewesen sei.
Dazu ist zunächst zu sagen, daß das Erstgericht die Haftung der Beklagten für die durch den Unfall "ausgelösten" Folgen deshalb ablehnte, weil diese bei einem gesunden Menschen nicht eingetreten wären, bei der Klägerin aber eben wegen ihrer neurotischen Grundkonstitution auftraten. Das Erstgericht hat damit aber tatsächlich die natürliche Kausalität zwischen dem Unfallsereignis und den durch die neurotische Grundkonstitution bedingten Folgen bejaht. Krankheitserscheinungen, die durch einen Unfall nur deshalb ausgelöst worden sind, weil die Anlage zu der Krankheit bei dem Verletzten bereits vorhanden war, sind auch im Rechtssinn, also iS der sogenannten Adäquanz, im vollen Umfang Folge des Unfalles, soferne die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen Gesundheitsschaden herbeigeführt hätte. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage der Verursachung iS des § 1295 ABGB (vgl dazu RSpr 1929/33, EvBl 1956/272, JBl 1967, 144, mit zustimmender Besprechung von Bydlinski JBl 1967, 130 ff, 2 Ob 121/57 und JBl 1970, 625; siehe auch RG VIII 12, DREvBl 1942/124), die in dieser Frage mit der Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofes konform geht (vgl dazu insbesondere aus jüngerer Zeit BGH 15. 10. 1968, VersR 1969, 43, BGH 10. 5. 1966, VersR 1966, 737, BGH 29. 5. 1969, VersR 1969, 802, und die dort enthaltenen Hinweise auf die feststehende Rechtsprechung, ferner Wussow, Unfallhaftpflichtrecht[10], 37, und Geigel, Haftpflichtprozeß[14], 10 f). Die von Bydlinski in "Probleme der Schadensverursachung nach deutschem und österreichischem Recht", 1964, 99 und 113, für solche "Anlagefälle" empfohlene Schadensteilung hat - soweit dies von hier aus überblickt werden kann - in die höchstgerichtliche Rechtsprechung bisher nicht Eingang gefunden. Vom Bundesgerichtshof wurde sie in den vorerwähnten Entscheidungen VersR 1966, 737 und VersR 1969, 43 sogar ausdrücklich abgelehnt. Der Oberste Gerichtshof findet ebenfalls keine Veranlassung, von seiner ständigen Rechtsprechung abzugehen.
Dem Berufungsgericht ist daher beizupflichten, daß die Feststellung, daß jedes andere physische oder psychische Trauma, wie es Menschen im Alltagsleben immer wieder zustößt, bei der Klägerin zu einem gleichartigen psychischen Bild und zur Entwicklung der Neurose hätte führen können, zu keinem für die Beklagte günstigeren Ergebnis führen kann. Da im vorliegenden Fall nicht feststeht, warum bei der Klägerin eine Neurose nicht schon früher aufgetreten ist und wann - und damit auch ob - sie ohne den Unfall aufgetreten wäre, hat das Berufungsgericht die Annahme sogenannter „überholender Kausalität" mit Recht abgelehnt. Anhaltspunkte für eine von der Klägerin selbst verschuldete Begehrungsneurose liegen nicht vor. Die vorliegenden Feststellungen geben keinen Grund zu der Annahme, daß die Klägerin etwa imstande gewesen wäre, die oben erwähnten, nicht organisch bedingten Manifestationen durch entsprechende Betätigung ihres Willens hintanzuhalten.
Der Hinweis des Rekurses auf die sozialgerichtliche Rechtsprechung ist nicht zielführend. In den im Rekurs zitierten Fällen ging es vor allem um den Begriff des entschädigungsfähigen Arbeitsunfalles und der Berufskrankheit iS der §§ 174 ff ASVG. Der für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit entwickelte Grundsatz, daß als den Versicherungsfall auslösende Ursachen nur solche in Betracht kommen, die für den Erfolg eine wesentliche Bedingung waren und nicht bloß als Gelegenheitsursache anzusehen sind (vgl dazu insbesondere SV-Slg 6673, 6675, 6676, 13.800, 13.801, 18.047 uva), läßt sich daher auf den Bereich des Schadenersatzrechtes nicht ohne weiteres übertragen. Auf die Verschiedenheiten in der Behandlung des Verursachungsproblemes im Bereich des Schadenersatzrechtes einerseits und des Sozialrechtes anderseits weisen auch Geigel 141 f, Wussow 49 hin (vgl dazu auch den diesbezüglichen Hinweis in BGH 26. 5. 1952, VRS Bd 4, 403).
Das Berufungsgericht hat somit zutreffend den Standpunkt eingenommen, daß die beklagte Partei der Klägerin nicht nur jene Schäden zu ersetzen hat, die ihr bis zum Aufhören der unmittelbaren Verletzungsfolgen entstanden sind, sondern auch jene, die auf der durch den Unfall ausgelösten neurotischen Entwicklung beruhen. Da diesbezüglich keine bzw keine ausreichenden Feststellungen vorliegen, erweist sich der Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes als richtig.
Dem Rekurs der Beklagten mußte daher ein Erfolg versagt bleiben.
Anmerkung
Z45028Schlagworte
Adäquanz, Kausalität, Adäquanz, Neurose, Anlageschaden, Kausalität, Gelegenheitsursache, Schadenersatzrecht, Gelegenheitsursache, wesentliche Bedingung, Kausalität, Adäquanz, Kausalität, Anlageschaden, Kausalität, Gelegenheitsursache, Kausalität, Neurose, Kausalität, wesentliche Bedingung, Neurose, Adäquanz, Neurose, Kausalität, Schadensverursachung, Kausalität, Verursachung, s. Kausalität, Wesentliche Bedingung, Gelegenheitsursache, Wesentliche Bedingung, KausalitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1972:0020OB00231.71.0309.000Dokumentnummer
JJT_19720309_OGH0002_0020OB00231_7100000_000