Norm
Straßenverkehrsverordnung §3Kopf
SZ 45/65
Spruch
§ 17 Abs 3 2. Fall StVO findet nur im Falle des § 16 Abs 3 StVO (Anhalten vor einer Querstraße auf Grund eines Rückstaues bis zu dieser Querstraße) Anwendung
Durch den Verzicht eines Verkehrsteilnehmers auf "seinen" Vorrang wird der Vorrang anderer Verkehrsteilnehmer, also auch der eines Vorbeifahrenden, nicht betroffen
§ 17 Abs 3 2. Fall StVO kann nicht im Wege einer ausdehnenden Auslegung auf Fälle angewendet werden, in denen das Anhalten eines Verkehrsteilnehmers vor einer Querstraße nicht durch § 18 Abs 3 StVO geboten war
OGH 30. 5. 1972, 8 Ob 101/72 (LG Salzburg 8 R 540/71; BG Salzburg 12 C 224/70)
Text
Am 17. 9. 1969 gegen 18.30 Uhr stieß in der St. Julien-Straße in Salzburg der vom Kläger gelenkte PKW mit dem vom Erstbeklagten gelenkten PKW zusammen. Beide Lenker waren auch Halter ihres Fahrzeuges. Der Kläger begehrte Ersatz des Schadens an seinem PKW in der Höhe von S 10.322.-. Er behauptet das Alleinverschulden des Erstbeklagten. Die Beklagten wendeten Alleinverschulden des Klägers ein.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Das Gericht zweiter Instanz gab der Klage mit Ausnahme eines Zinsenteilbegehrens statt.
Die Untergerichte legten ihren Entscheidungen im wesentlichen folgende Feststellungen zugrunde: Die Fahrbahn ist im Unfallsbereich
14.8 m breit. Sie hat fünf Fahrstreifen, davon zwei in Richtung Stadtmitte und drei stadtauswärts. Die Fahrstreifen sind durch Sperrlinien und teilweise durch Leitlinien markiert. Zur Unfallszeit herrschte in beiden Richtungen reger Verkehr. Es nieselte leicht, die Fahrbahn war naß. Die unfallsbeteiligten Fahrzeuge fuhren mit Abblendlicht. Die Straßenbeleuchtung war schon eingeschaltet. Der Kläger fuhr von der Lehener Brücke kommend, stadteinwärts. Er ordnete sich auf den linken Fahrstreifen der rechten Fahrbahnhälfte 30 bis 40 m vor dem nachfolgenden Anhaltepunkt ein. Dann hielt er so an, daß die Vorderkante seines Wagens ungefähr am Beginn der linken, in Form einer Leitlinie unterbrochenen Sperrlinie war. Er wollte in die Zufahrtstraße (Einbahn) nach links einbiegen, um zum Parkplatz neben dem Elmo-Kino zu gelangen. Er wartete, bis ein auf der Gegenfahrbahn herankommender deutscher PKW etwa 7.50 m vor ihm anhielt. Dahinter bildete sich eine Kolonne von sechs bis acht Fahrzeugen. Das Anhalten des deutschen Verkehrsteilnehmers legte der Kläger dahin aus, daß dieser ihm den Vorrang zu dem Zwecke einräumen wolle, um auf den Fahrstreifen, auf dem sich der deutsche Wagen befand, hinüberwechseln zu können. Der Kläger lenkte seinen PKW so weit in diesen Fahrstreifen hinein, daß er weniger als einen halben Meter von dem, in seiner Sicht gesehen, linken Rand dieses Fahrstreifens mit seiner linken vorderen Fahrzeugecke entfernt war. Dann fuhr er mit dem ersten Gang noch ein Stück über diesen Fahrstreifen hinaus, weil er auf die Gegenfahrbahn nicht genügend Sicht hatte. Er hielt dort kurz an. Hierauf fuhr er mit dem ersten Gang über diesen Fahrstreifen nach links hinaus, und zwar gut über die Hälfte dieses Streifens. Als der Vorderteil seines Wagens etwa in der Mitte dieses Fahrstreifens angelangt war, stieß, aus der Gegenrichtung kommend, der vom Erstbeklagten gelenkte PKW an den Wagen des Klägers an.
Das Erstgericht war der Ansicht, der Kläger habe als Linksabbieger den nach § 19 Abs 5 StVO dem Erstbeklagten zustehenden Vorrang verletzt. Der Erstbeklagte hätte bei Einhaltung einer zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h sein Fahrzeug nicht mehr anhalten können.
Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, der Erstbeklagte habe das Verbot des Vorbeifahrens nach § 17 Abs 3 StVO verletzt, das auch zugunsten des entgegenkommenden, nach links abbiegenden Verkehrsteilnehmers Geltung habe. Dieses Verbot hebe auch den Vorrang des geradeaus fahrenden Gegenfahrzeuges (§ 19 Abs 5 StVO) auf.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der Ansicht der Revisionswerber, dem Erstbeklagten falle kein Verstoß gegen das im § 17 Abs 3 zweiter Fall StVO aufgestellte Verbot des Vorbeifahrens an Fahrzeugen zur Last, die angehalten haben, um den Verkehr auf der Querstraße nicht zu behindern, ist beizutreten. Denn durch die ausdrückliche Bezugnahme in dieser Gesetzesstelle auf die Bestimmung des § 18 Abs 3 StVO kommt unmißverständlich zum Ausdruck, daß das Vorbeifahrverbot für den Fall Geltung haben soll, daß nach Auftreten eines Rückstaues bis zu einer Querstraße die Lenker weiterer herankommender Fahrzeuge in Befolgung des Gebotes des § 18 Abs 3 StVO angehalten haben. Daß das Vorbeifahrverbot des § 17 Abs 3 2. Fall StVO in diesem Sinne auszulegen ist, ergibt sich auch daraus, daß sich der Gesetzgeber dabei des auch in § 18 Abs 3 StVO verwendeten Wortes "behindern" bedient hat. Da das Anhaltegebot des § 18 Abs 3 StVO die Beeinträchtigung eines geschützten Querverkehrs verhindern soll, der gegenüber dem durch den Rückstau ohnehin blockierten Geradeausverkehr einen Anspruch auf Nichtbehinderung hat, muß folgerichtig auch bei der Auslegung der Bestimmung des § 17 Abs 3 2. Fall StVO von einem Querverkehr ausgegangen werden, der nach dem Willen des Gesetzgebers gegenüber dem Geradeausverkehr einen Anspruch auf Nichtbehinderung hat. Sonst hätte sich der Gesetzgeber einer anderen Ausdrucksweise bedienen und etwa statt des Wortes "behindern" das Wort "ermöglichen" verwenden müssen, dessen er sich auch im § 17 Abs 3 1. Fall StVO bediente.
Das Anhaltegebot des § 17 Abs 3 2. Fall StVO kann auch nicht im Wege einer ausdehnenden Auslegung auf Fälle angewendet werden, in denen das Anhalten eines Verkehrsteilnehmers vor einer Querstraße nicht durch § 18 Abs 3 StVO geboten war, sondern - wie im vorliegenden Fall - freiwillig erfolgte. Es darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß das keine Einschränkung enthaltende Anhaltegebot des § 17 Abs 3 2. Fall StVO nach herrschender Rechtsprechung auch zur Anwendung kommt, wenn - wie im Gegenstandsfall - eine Fahrbahn mehrere Fahrstreifen in einer Richtung aufweist und daher wegen der in solchen Fällen möglichen Blockierung noch freier Fahrstreifen, die zudem eine verschiedene Regelung aufweisen können, und auch wegen der Auswirkung auf die Vorrangregeln des § 19 StVO das Verkehrsgeschehen auf solchen Hauptverkehrsadern nicht unbeträchtlich beeinflussen kann. Eine so einschneidende Bestimmung kann nicht im Wege einer ausdehnenden Auslegung auf Fälle angewendet werden, für die sie vom Gesetzgeber nicht gedacht war. Es müßten auch im Falle einer solchen Ausdehnenden Auslegung Unklarheiten hinsichtlich der Beurteilung des Verkehrsgeschehens durch die Verkehrsteilnehmer auftreten, weil dann, wenn einer von ihnen aus einem anderen Grund als dem der immerhin unschwer wahrnehmbaren Blockierung eines Fahrstreifens anhält, für die weiteren herankommenden Verkehrsteilnehmer nicht immer ohne weiteres erkennbar sein wird, warum das erste der auf einem Fahrstreifen stehenden Fahrzeug angehalten wurde. Könnte es doch zB sein, daß der Lenker eines auf dem linken Fahrstreifen stehenden Fahrzeuges deshalb angehalten hat, weil er selber nach links abbiegen will und nur vorderhand durch den Gegenverkehr daran gehindert ist.
Entgegen der in der Anm 73 zu § 19 StVO in der von Dittrich - Veit - Schuchlenz besorgten Ausgabe[3] zum Ausdruck gebrachten und auch von der Entscheidung ZVR 1969/232 geteilten Ansicht kann eine solche Verpflichtung zum Anhalten in den nicht durch § 17 Abs 3 2. Fall StVO betroffenen Fällen des Vorbeifahrens an einem vor einer Querstraße angehaltenen Fahrzeug auch nicht aus § 17 Abs 1 StVO abgeleitet werden. Der Verkehr auf Kreuzungen ist durch Vorrangbestimmungen geregelt, die zu den Grundpfeilern der Verkehrsregelung zählen. Sollen diese ihren Zweck erfüllen, müssen sie eindeutig und so klar sein, daß ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer im gegebenen Fall sofort überschauen kann, wer im Vorrang ist. Die Annahme eines Unterganges eines im Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Vorranges auf Grund von Schlußfolgerungen aus anderen gesetzlichen Bestimmungen würde diesem Erfordernis nicht gerecht, selbst wenn diese Schlußfolgerungen an sich einleuchtend erscheinen mögen. Auf Überlegungen, was der Verkehrssicherheit am ehesten dienlich ist, kann die Nichtanwendbarkeit einer bestimmten Vorrangregel im Einzelfall nicht gestützt werden, woran auch nichts zu ändern vermag, daß bei Vorliegen entsprechender Umstände, zu denen auch das Vorhandensein eines auf der Fahrbahn angehaltenen Fahrzeuges gehören kann, der Vorrang nicht von der Anwendung der gebührenden Aufmerksamkeit und Vorsicht entbindet. Nicht zuletzt die Bedachtnahme auf die Sicherheit des Verkehrs erfordert es, daß einer im Gesetz ausdrücklich festgelegten Vorrangregel nur durch eine klare Bestimmung des Gesetzgebers die Wirksamkeit unter bestimmten Voraussetzungen
genommen werden kann. Eine solche Einschränkung der Vorrangregeln des § 19 StVO kann aus § 17 Abs 1 StVO nicht abgeleitet werden. Der Gesetzgeber verbietet in letzterer Bestimmung das Vorbeifahren nicht, wie in § 17 Abs 3 StVO, unbedingt, sondern nur für den Fall, daß dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, gefährdet oder behindert werden. Die gesetzliche Formulierung, die sich nahezu wörtlich mit der des § 16 Abs 3 StVO deckt, zeigt klar, was der Gesetzgeber damit bezwecken wollte. Unter den anderen Straßenbenützern, die durch die Vorbeifahrt nicht behindert werden dürfen, können Straßenbenützer, die nicht gegenüber dem Vorbeifahrenden einen Anspruch auf Nichtbehinderung haben, nicht verstanden werden. Wer auf Grund einer Vorrangbestimmung gegenüber dem Vorbeifahrenden wartepflichtig ist, hat diesem gegenüber keinen Anspruch auf Nichtbehinderung. Daran vermag auch nichts zu ändern, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer gegenüber dem Querverkehr bzw dem mit einem Begegnungsverkehrs verbundenen Linksabbiegeverkehr auf seinen Vorrang verzichtet hat. Denn dadurch ist, wie durch die Neufassung des § 19 Abs 8 StVO ("... darf auf seinen Vorrang verzichten") eindeutig klargestellt wurde, der Vorrang anderer Verkehrsteilnehmer, also auch der eines Vorbeifahrenden, nicht betroffen (vgl hiezu auch EB III und Anm 70 zu § 19 StVO in der von Dittrich - Veit - Schuchlenz besorgten Ausgabe[3]). Durch diese Neuregelung wurde der früher gelegentlich in Entscheidungen vertretenen gegenteiligen Auffassung der Boden entzogen. Aus solchen Entscheidungen kann daher nichts für die Beurteilung des vorliegenden Falles abgeleitet werden. Handelt es sich aber im Gegenstandsfall gar nicht um einen solchen, auf den die Bestimmung des § 17 Abs 1 StVO Anwendung findet, dann kann auch nicht aus dieser Bestimmung abgeleitet werden, der Kläger habe im Hinblick auf den Vorrangverzicht des auf dem linken Fahrstreifen angehaltenen Fahrzeuges darauf vertrauen dürfen, es werde auch ein auf einem weiter rechtsgelegenen Fahrstreifen daherkommender Verkehrsteilnehmer anhalten. Die Bestimmung des § 3 StVO schützt lediglich das Vertrauen, daß andere Personen die für die Benützung der Straße maßgebenden Rechtsvorschriften befolgen. Da der Erstbeklagte durch keine Rechtsvorschrift verpflichtet war, vor dem seine Fahrbahn querenden Kläger anzuhalten, kann letzterer auch nicht den Vertrauensgrundsatz für sich in Anspruch nehmen.
Nun entbindet zwar, wie bereits erwähnt, auch der Vorrang nicht von der Verpflichtung, die nach der Sachlage gebotene Vorsicht anzuwenden. Daraus allein, daß der Erstbeklagte im Vorrang war, könnte noch nicht die alleinige Haftung des Klägers abgeleitet werden, falls dem Erstbeklagten die Außerachtlassung einer nach den Umständen gebotenen Vorsichtsmaßnahme angelastet werden müßte. Dies ist aber nicht der Fall. Daß der Erstbeklagte mit einer in Anbetracht der gegebenen Verhältnisse überhöhten Geschwindigkeit gefahren wäre, kann nicht gesagt werden. Bei der Wahl der Geschwindigkeit mußte der Erstbeklagte, ungeachtet der auf dem linken Fahrstreifen stehenden Fahrzeuge, nicht von vornherein damit rechnen, daß ein von links Kommender seinen Vorrang mißachten werde. Daß der Erstbeklagte den von links hinter den dort angehaltenen Fahrzeugen hervorkommenden Kläger erst sehen konnte, als ihm ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich war, wurde festgestellt. Die Voraussetzungen für eine Verschuldenshaftung Beklagten liegen daher nicht vor. Angesichts des Verstoßes des Klägers gegen den Vorrang des Erstbeklagten kann auch ein Anlaß zur Heranziehung der Beklagten zum Ausgleich nach § 11 EKHG nicht gefunden werden.
Demnach war das das Klagebegehren abweisende Urteil der ersten Instanz wiederherzustellen.
Anmerkung
Z45065Schlagworte
Anhalten vor einer Querstraße, Ausdehnende Auslegung, Vorrang nach §§ 17 Abs 3, 18 Abs 3 StVO, extensive Interpretation, Vorrang nach §§ 17 Abs 3, 18 Abs 3 StVO, Querstraße, Anhalten vor einer -, Verzicht, Vorrang, Vorrang, Anhalten vor einer Querstraße, Vorrang, Querstraße (§§ 17 Abs 3, 18 Abs 3 StVO), Vorrang, VerzichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1972:0080OB00101.72.0530.000Dokumentnummer
JJT_19720530_OGH0002_0080OB00101_7200000_000