TE OGH 1974/11/21 2Ob213/74

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Veröffentlicht am 21.11.1974
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Norm

Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §328
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §332 Abs4

Kopf

SZ 47/133

Spruch

§ 332 Abs. 4 ASVG enthält eine widerlegliche Vermutung und hat bloß die Funktion der Verschiebung der Beweislast. Verlangt also der Versicherungsträger das Pauschale, liegt es am Schädiger, den tatsächlichen Aufwand des Versicherungsträgers einzuwenden und nachzuweisen

OGH 21. November 1974, 2 Ob 213/74 (OLG Wien 8 R 77/74, LGZ Wien 33 Cg 64/72)

Text

Am 27. April 1969 verschuldete der bei der beklagten Partei als Kraftfahrzeughalter haftpflichtversicherte Herbert M einen Verkehrsunfall, anlaßlich dessen Karla R schwer verletzt wurde. Karla R ist bei der Klägerin sozialversichert.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin von der regreßpflichtigen Beklagten Zahlung von 23.819.10 S an pauschalierten unfallskausalen Krankenbehandlungskosten und die Feststellung daß die Beklagte der Klägerin - beschränkt auf den Rahmen des Kraftfahrzeughaftpflichtversicherungsvertrages - für alle Pflichtaufwendungen hafte, die sie aus Anlaß des erwähnten Unfalles ihrer Versicherten Karla R zu erbringen habe, insoweit diese Leistungen im Schadenersatzanspruch, den Karla R ohne Bestehen der Legalzession des § 332 ASVG wider die beklagte Partei erheben könnte, Deckung finden.

Die beklagte Partei anerkannte das Feststellungsbegehren und beantragte diesbezüglich Kostenzuspruch gemäß § 45 ZPO; hinsichtlich des Leistungsbegehrens beantragte sie Abweisung wegen Sittenwidrigkeit mit der Begründung, daß die tatsachlichen Kosten der Klägerin für die Krankenbehandlung nur einen Bruchteil des verlangten Pauschalbetrages ausmachten, welches Pauschale überdies höchstens für die Zeit gewahrt werden könne, in der Karla R tatsächlich Krankengeld bezogen habe.

Das Erstgericht erkannte im Sinne des Feststellungsbegehrens und sprach in Ansehung des Leistungsbegehrens der Klägerin 12.550.30 S samt 4% Zinsen seit 15. Feber 1972 zu; das Mehrbegehren von 11.268.55 S samt Anhang wies es ab und hob die Verfahrenskosten gegeneinander auf; ein restliches Mehrbegehren von 0.25 S blieb unerledigt.

Gegen das erstgerichtliche Urteil erhob die beklagte Partei Berufung hinsichtlich des Zuspruches von 12.550.30 S samt Anhang sowie im Kostenpunkt. Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge, hob das angefochtene Urteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. In diesem Zusammenhang ist, weil dies im Spruch des berufungsgerichtlichen Beschlusses nicht zum Ausdruck kommt, klarzustellen, daß die Entscheidung des Erstgerichtes über das Feststellungsbegehren mangels Anfechtung als Teilurteil in Rechtskraft erwachsen ist die vom Berufungsgericht verfügte Aufhebung daher entsprechend dem Umfange der Anfechtung nur die Entscheidung über das Leistungsbegehren und die Verfahrenskosten betrifft. Die für die Beurteilung der anstehenden Rechtsfragen wesentlichen Tatsachenfeststellungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Karla R befand sich zwischen dem Tage des Unfalles (27. April 1969) und dem ihrer Pensionierung (20. Mai 1971) insgesamt durch 605 Tage, wovon die Tage ihrer stationären Krankenhausaufenthalte bereits abgezogen sind, in unfallskausalem Krankenstand. Während dieses Zeitraumes bezog sie zeitweise Gehalt, zeitweise Krankengeld. Letzteres beträgt nach der anzuwendenden Lohnstufe täglich 78.75 S, das 50%ige Pauschale (§ 328 ASVG) sonach 39.37 S täglich. Außerhalb ihrer Krankenhausaufenthalte nahm Karla R den Kassenarzt Dr. A zu 75 Ordinationen und einer Visite in Anspruch. Die für diese ärztlichen Leistungen sowie für die von Dr. A der Versicherten verschriebenen Medikamente der Klägerin erwachsenen Kosten der Krankenbehandlung betragen 830.30 S. Die Kosten der Klägerin für drei ambulante Behandlungen auf der I. Chirurgischen Universitätsklinik in Wien, denen sich Karla R unterzog, sind nicht feststellbar. Hätte Karla R die angeführten Krankenbehandlungsleistungen in gleichem Umfange als Privatpatientin in Anspruch genommen, hätten die Kosten dafür 12.550.30 S betragen.

Das Erstgericht beurteilte den festgestellten Sachverhalt rechtlich dahin, daß das Leistungsbegehren nur in der Höhe des festgestellten hypothetischen Aufwandes einer privatärztlichen Behandlung, welcher den gemäß § 328 ASVG errechneten Pauschalbetrag wesentlich unterschreite, zu Recht bestehe. Das Mehrbegehren stelle sich daher als mißbräuchliche Rechtsausübung dar.

Das Berufungsgericht führte aus, bei der rechtlichen Beurteilung sei davon auszugehen, daß der Gesetzgeber die Berechnung der Krankenbehandlungskosten durch die Bestimmungen der §§ 328, 332 ASVG positiv geregelt habe. Fraglich sei aber, ob dann noch von einer Zeit der Krankenbehandlung gesprochen werden könne, wenn bei bloßer, durch einen längeren Zeitraum bestehender Arbeitsunfähigkeit faktisch keine Behandlung im Sinne des § 133 ASVG erfolgt sei. Der Wortlaut des Gesetzes lasse auch nicht eindeutig erkennen, ob die pauschalierten Behandlungskosten nur für die Zeit, für die Krankengeld gewährt, oder für die Zeit der gesamten Arbeitsunfähigkeit zustehe. Ungeachtet dessen, daß es sich bei der Pauschalierung der Krankenbehandlungskosten nicht um eine widerlegbare Gesetzesvermutung, sondern um eine bindende Berechnungsart handle, könne der Pauschalbetrag indes nicht in allen Fällen begehrt werden. Übersteige nämlich der Pauschalbetrag nicht nur die tatsächlichen Behandlungskosten, sondern auch den hypothetischen Aufwand für eine privatärztliche Behandlung wesentlich, dann sei das über die Höhe dieses Aufwandes hinausgehende Leistungsbegehren sittenwidrig und demnach als mißbräuchliche Rechtsausübung abzuweisen. Richtig sei wohl, daß nach allgemeinem Schadenersatzrecht nur der tatsächliche Aufwand zugesprochen werden könnte. Berücksichtige man aber, daß das Gesetz für die Krankenbehandlungskosten die Sonderregelung in Form eines Pauschales trifft, gehe es durchaus an, als Maßstab dafür, ob die Geltendmachung des Pauschales eine mißbräuchliche Rechtsausübung darstelle, den hypothetischen Aufwand für eine privatärztliche Behandlung und nicht den tatsächlichen Behandlungsaufwand heranzuziehen. Neben den tatsächlichen Behandlungskosten sei der Verwaltungsaufwand des Sozialversicherungsträgers zu berücksichtigen; auch solle es nicht dem Schädiger zugutekommen, wenn der Sozialversicherungsträger durch günstige Vereinbarungen geringere als dem Pauschalbetrag entsprechende Krankenbehandlungskosten erziele. Werde der der Klägerin zustehende Anspruch nach diesen hypothetischen Kosten beurteilt, dann sei es nicht erforderlich, darauf einzugehen, ob überhaupt der gesamte von der klagenden Partei in Anspruch genommene Zeitraum als Zeit der Krankenbehandlung anzusehen sei und ob das Pauschale nur für die Zeit gebühre, in der Karla R Krankengeld bezog. Das Erstgericht habe zutreffend den hypothetischen Privataufwand als gerechtfertigt angesehen, doch reiche der festgestellte Sachverhalt zur Beurteilung der Frage, in welcher Höhe dieser Aufwand anzunehmen sei, nicht aus. Das Erstgericht habe lediglich festgestellt, wie oft Karla R in der Ordination ihres Arztes war, nicht jedoch, wieviele dieser Besuche einer Behandlung der Unfallsfolgen dienten und wieviele lediglich den Zweck hatten, die Krankenstandsverlängerung zu protokollieren. Ordinationen, die ausschließlich den letztgenannten Zweck verfolgten, könnten nicht als "Krankenbehandlung" angesehen werden. Auch wenn derartige Protokollierungen der Krankenstandsverlängerung für die klagende Partei notwendig seien, handle es sich bei den dafür auflaufenden Kosten noch nicht um Krankenbehandlungskosten. Erst wenn die Zahl der der bloßen Krankenbehandlung dienenden Ordinationen feststehe, sei eine Entscheidung darüber möglich, in welcher Höhe der Anspruch der klagenden Partei berechtigt sei.

Der Oberste Gerichtshof gab den Rekursen beider Parteien nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Übereinstimmend bekämpfen die Rekurswerber die den Entscheidungen der Untergerichte zugrundeliegende Auffassung, daß in der Geltendmachung des Pauschales nach §§ 332 Abs. 4, 328 ASVG eine mißbräuchliche Rechtsausübung zu erblicken sei.

Die Klägerin führt dazu aus, die in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SZ 37/144 ausgesprochene Rechtsansicht, daß die Zulässigkeit des Einwandes der mißbräuchlichen Rechtsausübung auch für den österreichischen Rechtsbereich zu bejahen sei, nehme auf die Verschiedenheit der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nicht Bedacht. Während nämlich die Reichsversicherungsordnung dem Versicherungsträger zur Wahl stelle, ob er die Pauschalierung in Anspruch nehmen oder den Ersatz der tatsächlich aufgewendeten (höheren) Kosten verlangen will, habe sich der österreichische Gesetzgeber für die zwingende Pauschalierung entschieden. Dem liege der Gedanke zugrunde, daß im Massendurchschnitt mit dem pauschalierten Ersatz das Auslangen gefunden werden könne, weshalb es aber auch in allen Fällen bei der Durchschnittsberechnung zu bleiben habe, selbst wenn im Einzelfall eine "sittenwidrige" Diskrepanz zwischen der Höhe des Pauschales und des tatsächlichen Aufwandes in Erscheinung trete.

Die beklagte Partei wendet sich insbesondere gegen den in Gestalt des hypothetischen Aufwandes gewonnenen Maßstab dafür, ob und inwieweit bei dem Begehren nach Leistung des Pauschales sittenwidrige und demnach mißbräuchliche Rechtsausübung vorliege, bei welcher Ermittlung zu Unrecht auf einen gar nicht gegebenen "hohen Verwaltungsaufwand" der Krankenkasse Rücksicht genommen werde. Auch das Argument, es solle dem Schädiger nicht zugute kommen, daß der Sozialversicherer durch günstige Vereinbarungen geringere Krankenbehandlungskosten erzielte, sei verfehlt, weil es den fundamentalen Grundsatz des Schadenersatzrechtes negiere, wonach nur der tatsächlich entstandene, niemals aber ein fiktiver Schaden ersetzt verlangt werden könne. Zweck des - in bezug auf bürgerlichrechtliche Schadenersatzansprüche - systemwidrigen Pauschales sei lediglich der einer Verwaltungsvereinfachung, nicht aber der einer - im gegenständlichen Falle geradezu enormen - Bereicherung des Sozialversicherungsträgers.

Der vorliegende Fall bietet Anlaß zur Prüfung der mit der Geltendmachung des Pauschales nach §§ 332 Abs. 4, 328 ASVG verbundenen grundlegenden Rechtsfrage, ob die Bestimmung des § 332 Abs. 4 ASVG dem Sozialversicherungsträger einen originären oder einen abgeleiteten Anspruch gewährt und in welcher Höhe dieser mit Erfolg erhoben werden kann. Der Oberste Gerichtshof hat nach Inkrafttreten des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (BGBl. 189/1955) nur eine einschlägige Entscheidung (2 Ob 299/64 = SZ 37/144 = JBl. 1965/204) gefällt, hat zur anstehenden Frage indessen nicht ausdrücklich Stellung bezogen, scheint jedoch implicite einen originären Anspruch angenommen zuhaben. Die dort hinsichtlich der Zulässigkeit des Einwandes der mißbräuchlichen Rechtsausübung vertretene Ansicht, die der angefochtene Aufhebungsbeschluß zutreffend wiedergibt, lehnt sich an die in der deutschen Literatur und Judikatur entwickelte These an, die Pauschalierung sei eine gesetzliche Bemessung des dem Verletzten entstandenen Schadens, weshalb der Sozialversicherungsträger einen originären Anspruch geltend mache, dem in den Fällen eines Mißverhältnisses zwischen Pauschale und tatsächlich erbrachter Leistung nur über den Einwand der mißbräuchlichen Rechtsausübung zu begegnen sei (siehe Wussow, UHR[11], 1475. Geigel[15], 30, 113; BGH in NJW 1954, 508 ff.; dagegen jedoch schon Friese in DR 1944, 406, der auf den Deckungsfonds abstellt). Daß mit dem Pauschale ein originärer Anspruch geltend gemacht werde, wird für die österreichische Rechtslage vom Schrifttum überwiegend abgelehnt (siehe Krejci, JB, 1965, 605 bei Anm. 33).

Ob mit dem Anspruch auf Leistung des Pauschales ein originärer oder ein abgeleiteter Anspruch erhoben wird, ist nach der Auffassung des erkennenden Senates an Hand des Gesetzestextes zu prüfen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den Bestimmungen des Abschnittes IV "Schadenersatz und Haftung" des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes nach der Absicht des Gesetzgebers um Zivilrecht handelt und diese Bestimmungen "ergänzend und teilweise auch abändernd zu den zivilrechtlichen Schadenersatzbestimmungen hinzutreten" (Erl. Bemerkungen, abgedruckt bei Gehrmann - Rudolph - Teschner, ASVG V, 530/1). Daraus folgt indes zwingend, daß der - österreichische - Gesetzgeber die privatrechtliche Grundlage des Ersatzanspruches des Sozialversicherungsträgers - die Legalzession - keinesfalls verlassen und - was ganz ungewöhnlich wäre - einen öffentlich-rechtlichen Anspruch (§ 328 ASVG) zum Inhalt eines privatrechtlichen (§ 332 ASVG) machen wollte; eine derartige Absicht hätte daher einer ausdrücklichen Regelung bedurft.

Die Legalzession ist im § 332 Abs. 1 ASVG geregelt. § 332 Abs. 4 ASVG bestimmt, daß bei Ansprüchen auf Grund der Legalzession des § 332 Abs. 1 ASVG die Bestimmung des § 328 ASVG (über die Pauschalierung) entsprechend anzuwenden ist. Wie Krejci in seiner Untersuchung "Schadenersatz und pauschalierter Individualregreß nach § 332 Abs. 4 ASVG" (JBl. 1965, 605 ff.) treffend dargelegt hat, bedeutet dies, daß ein Regreßanspruch nur nach Maßgabe des Umfanges des auf Grund der Legalzession auf den Sozialversicherungsträger übergegangenen Anspruches besteht und daß § 332 Abs. 4 ASVG nur als Spezialvorschrift zu § 332 Abs. 1 ASVG angesehen werden kann. Es ist daher auch bei derartigen Regreßansprüchen die Lehre vom Deckungsfonds anzuwenden, und es handelt sich somit nicht um originäre, sondern um abgeleitete Ansprüche. Als widerlegliche Vermutung des Aufwandes des Versicherungsträgers hat die Bestimmung des § 332 Abs. 4 ASVG bloß die Funktion der Verschiebung der Beweislast. Verlangt also der Versicherungsträger das Pauschale, so liegt es am Schädiger, den tatsächlichen Aufwand des Versicherungsträgers einzuwenden und nachzuweisen.

Im vorliegenden Fall verlangt der klagende Sozialversicherungsträger das Pauschale. Die beklagte Partei wendete dagegen konkret ein, daß der tatsachliche Aufwand der Klägerin für die Krankenbehandlung nur einen Bruchteil des begehrten Pauschales ausmache. Sache der Beklagten wird es daher sein, die Höhe der den Deckungsfonds bildenden hypothetischen Heilungskosten der Verletzten und des tatsächlich dafür erbrachten Aufwandes nachzuweisen, wobei auch § 273 ZPO zum Tragen kommen kann.

Die gegen den im Ergebnis richtigen Aufhebungsbeschluß erhobenen Rekurse erweisen sich aus diesen Erwägungen als nicht gerechtfertigt.

Anmerkung

Z47133

Schlagworte

Legalzession, Pauschale nach §§ 328, 332 Abs. 4 ASVG, Verschiebung der, Beweislast zugunsten des Versicherungsträgers, Pauschale nach §§ 328, 332 Abs. 4 ASVG, Funktion der Verschiebung der, Beweislast zugunsten des Versicherungsträgers, Versicherungsträger, Pauschale nach §§ 328, 332 Abs. 4 ASVG„ Verschiebung der Beweislast zugunsten des Versicherungsträgers

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1974:0020OB00213.74.1121.000

Dokumentnummer

JJT_19741121_OGH0002_0020OB00213_7400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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