TE OGH 1974/12/4 1Ob206/74 (1Ob205/74)

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Veröffentlicht am 04.12.1974
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Norm

Außerstreitgesetz §2
Außerstreitgesetz §10
Geschäftsordnung für die Gerichte I, und II. Instanz §170
ZPO §219

Kopf

SZ 47/141

Spruch

Das Pflegschaftsverfahren wird geführt, um den besonderen Schutz des Pflegebefohlenen zu gewährleisten, nicht aber um Dritten Möglichkeiten einzuräumen, die ihnen sonst nicht zukommen; einem künftigen Prozeßgegner des Pflegebefohlenen ist daher keine Akteneinsicht in den Pflegschaftsakt zu gewähren

Auch § 10 AußStrG gibt dem Rekurswerber nicht die Möglichkeit, von den bisherigen Behauptungen abweichende oder bisher noch gar nicht aufgestellte Tatsachenbehauptungen vorzubringen; er darf nur das vorliegende Tatsachenmaterial berichtigen und ergänzen oder für unbewiesene Behauptungen neue Beweise vorzubringen

OGH 4. Dezember 1974, 1 Ob 205, 206/74 (LGZ Wien 43 R 521/74; BG Liesing P 26/64)

Text

Der am 27. Jänner 1964 verstorbene Vater der Minderjährigen Franz H war u. a. Inhaber einer Fabrik für Plastikverpackungen in Wien, die nach dessen Tod gemäß einem vom Erstgericht am 24. Mai 1965, genehmigten Vertrag durch den Großvater der Minderjährigen Heinrich H, dem Geschäftsführer der Firma H Ges. m. b. H. W, die Kunststoffverpackungen erzeugt, geführt wurde. Die Verlassenschaft, zu der auch eine Liegenschaft in B und ein Liegenschaftsanteil in D (Gerichtsbezirk T) gehörte, wurde mit rechtskräftigem Beschluß des Erstgerichtes vom 14. November 1967, je zu einem Viertel der erblasserischen Witwe Charlotte H (nunmehr wiederverehelichte G) und den drei erblasserischen Kindern eingeantwortet; zur Vormunderin der Kinder wurde Charlotte G bestellt. Mit Beschluß vom 17. März 1971, genehmigte das Erstgericht als Pflegschaftsgericht die von Charlotte G ausgesprochene fristlose Entlassung des Heinrich H als Angestellter des Unternehmens Franz H. Der fortgesetzte Pflegschaftakt enthält u. a. ein Gutachten über die wirtschaftliche Entwicklung des zum Teil im Eigentum der Pflegebefohlenen stehenden Unternehmens und sonstige Hinweise über dessen wirtschaftliche Gestaltung, aber auch Beschlüsse zur Geschäftsführung.

Am 14. März 1974, brachte der bevollmächtigte Vertreter der Firma H-Ges. m. b. H. W vor, er habe den Auftrag einer Klageführung gegen die Verlassenschaft nach dem verstorbenen Franz H bzw. dessen Erben hinsichtlich eines namhaften Betrages erhalten. Zur Prüfung der Passivlegitimation sowie des Umfanges der Haftung der einzelnen Erben stellte S den Antrag, den Akt kurzfristig an das Bezirksgericht T zu übersenden. Charlotte G stimmte der Akteneinsicht nicht zu, da die von Heinrich H als Geschäftsführer geführte Antragstellerin die Minderjährigen und ihre Mutter mit völlig grundlosen Klagen und Klagedrohungen verfolge. Die passive Klagslegitimation sei Heinrich H als langjährigem Geschäftsführer des Unternehmens nach Franz H und als Großvater der Kinder genaubekannt. Es sei daher zu vermuten, daß Heinrich H durch Einsichtnahme in den Pflegschaftakt nur Material für neue Querelen gewinnen wolle.

Das Erstgericht wies die Anträge der Firma H Ges.m.b.H. ab. Es bestehe kein Zweifel darüber, daß Heinrich H das Ergebnis des längst beendeten Abhandlungsverfahrens bekannt sei. Die Einsichtnahme in den Pflegschaftsakt erscheine nicht gerechtfertigt.

Das Rekursgericht änderte den erstgerichtlichen Beschluß dahin ab, daß es die begehrte Akteneinsicht gewährte. Die Rekurswerberin führe (im Rekurs) aus, daß sie mit der Verlassenschaft nach Franz H im Jahre 1966 einen Lizenzvertrag über die Herstellung von Plastikwaren bzw. Maschinen zur Produktion solcher Waren abgeschlossen habe. Aus diesem Vertrag seien bis zum Jahre 1970 insgesamt 169.385 DM an die Verlassenschaft bzw. an die Minderjährigen bezahlt worden. Eine Konkurrenzfirma, die Firma N, solle nun ebenfalls Lizenzen von der Verlassenschaft erworben haben und große Beträge dafür an die Rechtsnachfolger der Firma Franz H leisten. Da der Lizenzvertrag vom 12. September 1966 mangels pflegschaftsbehördlicher Genehmigung nicht rechtswirksam zustande gekommen sei, habe sich die Rekurswerberin entschlossen, die Zahlungen zurückzufordern. Gemäß § 219 Abs. 2 ZPO, § 170 Abs. 1 Geo. könne auch eine dritte Person in den Akt Einsicht nehmen und Abschriften erheben, wenn die Parteien zustimmen oder mit Genehmigung des Gerichtes, wenn von dieser Person ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht werde. Aus dem Akteninhalt könne tatsächlich über die Abschlüsse von Lizenzverträgen einiger Aufschluß gewonnen werden. Im Zusammenhalt mit den als Bescheinigungsmitteln vorgelegten Abschriften von Schreiben der Rechtsanwältin Dr. Marianne W vom 24. Mai 1971 und 21. Dezember 1973 bestehe kein Zweifel, daß die Rekurswerberin ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht habe. Nur so könne der Rechtsvertreter der Rekurswerberin erheben, ob und inwieweit pflegschafts- bzw. verlassenschaftsbehördliche Genehmigungen für Lizenzverträge erteilt worden seien, wem die von der Rekurswerberin geleisteten Beträge tatsächlich zugekommen seien, wer Rechtsnachfolger des Verlassenschaftsbetriebes sei und inwieweit physische Personen für Forderungen gegen die Verlassenschaft nach Franz H haftbar seien.

Der Oberste Gerichtshof änderte über den Revisionsrekurs der ehelichen Mutter und Vormunderin Charlotte G den Beschluß des Rekursgerichtes dahin ab, daß er den Beschluß des Erstgerichtes wiederherstellte.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Das Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen enthält selbst keine Regelung des Rechtes auf Akteneinsicht, doch hat der Oberste Gerichtshof, zumal § 170 Abs. 1 Geo. ganz allgemein von der Gewährung von Akteneinsicht in bürgerlichen Rechtssachen, zu denen auch gerichtliche Verfahren außer Streitsachen gehören (§ 1 JN), spricht, bereits anerkannt, daß die Bestimmung des § 219 Abs. 2 ZPO sinngemäß auch in Außerstreitsachen angewendet werden kann (JBl. 1973, 581; vgl. auch Anm. 1 zu § 170 Abs. 2 Geo., Dienstbuch der Geschäftsordnung, 174). Charlotte G stimmte allerdings der Akteneinsicht nicht zu. Grundsätzlich wäre sie aber dennoch zu bewilligen, wenn die Antragstellerin als "Dritte" ein rechtliches Interesse glaubhaft macht; das rechtliche Interesse kann auch darin bestehen, die Beweislage in einem Verfahren für sich günstiger zu gestalten (Fasching II, 1011). Ein rechtliches Interesse kann jedoch nur anerkannt werden, wenn der Antragsteller aus dem Akt etwas erfahren will, was er nicht weiß, aber zur Wahrung seiner Interessen wissen muß.

Dem Erstgericht ist nun darin beizupflichten, daß ein Interesse der Antragstellerin an dem formellen Ergebnis des Verlassenschaftsverfahrens nicht anerkannt werden kann, war deren Geschäftsführer doch noch viele Jahre über die Beendigung des Verlassenschaftsverfahrens hinaus auch noch Geschäftsfuhrer des zur Verlassenschaft gehörigen Unternehmens und ist zudem noch der Großvater der Pflegebefohlenen. Die Antragstellerin weiß daher sehr genau, wie das Verlassenschaftsverfahren endete. Nur zur Feststellung der Passivlegitimation der Erben bedurfte die Antragstellerin daher zweifellos nicht der Einsichtnahme in den umfangreichen, sodann als Pflegschaftsakt fortgesetzten Verlassenschaftsakt. Wenn das Erstgericht daher ein rechtliches Interesse auf Grund der Angaben der Antragstellerin in ihren Anträgen verneinte, ist seiner Auffassung beizupflichten.

Aus dem Rekurs der Antragstellerin ergab sich nun auch, daß ihre Interessen in ganz anderer Richtung liegen. Sie will tatsächlich aus dem Pflegschaftsakt Unterlagen für eine Klageführung gegen die Minderjährigen sammeln. Diese neuen Gründe wurden erst im Rekurs vorgebracht. Gemäß § 10 AußStrG ist es den Parteien unbenommen, in Rekursen neue Umstände und Beweise anzuführen. Diese Bestimmung ist aber nur dahin zu verstehen, daß das vorliegende Tatsachenmaterial berichtigt und ergänzt und für unbewiesene Behauptungen neue Beweise vorgebracht werden können; es ist aber nicht möglich, neue, von den bisherigen Behauptungen abweichende oder bisher noch gar nicht aufgestellte Tatsachenbehauptungen vorzubringen; das Rechtsmittelgericht hat nämlich auch bei Berücksichtigung der Bestimmung des § 10 AußStrG die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung erster Instanz nach der Sach- und Rechtslage zu prüfen, wie sie sich zur Zeit der Erlassung dieses Beschlusses darstellte (EvBl. 1974/226 u. a.); der Tatbestand, auf den ein Antrag gestützt werden soll, muß schon in erster Instanz vorgebracht sein (EvBl. 1974/1). Die Antragstellerin durfte daher den zunächst behaupteten Rechtsgrund für die Akteneinsicht nicht im Rekurs ändern, das Rekursgericht aber auch nicht unter Bedachtnahme auf den neuen Rechtsgrund von der sonst richtigen Entscheidung des Erstgerichtes abgehen. Daß es ihr nur darum gehe, die passive Legitimation und Haftung der Erben zu klären, behauptete die Antragstellerin im Rekurs selbst nicht mehr. Schon allein aus diesem Gründe wäre dem Rekurs ein Erfolg zu versagen gewesen.

Darüber hinaus sei aber klargestellt, daß der Antragstellerin auch bei Beachtung der im Rekurs behaupteten Gründe keine allgemeine Einsicht in den Pflegschaftsakt gewährt werden könnte. Die Bestimmungen des § 170 Abs. 1 und 2 Geo. können nicht ohne Bedachtnahme auf Wesen und Zweck des Pflegschaftsverfahrens verstanden werden. Diese ergeben sich aus der Bestimmung des § 21 ABGB, wonach Minderjährige unter dem besonderen Schutz der Gesetze stehen. Das Pflegschaftsverfahren wird also geführt, um diesen Schutz zu gewährleisten, nicht aber um Dritten Möglichkeiten einzuräumen, die ihnen sonst nicht zukommen. Schon Rintelen, Grundriß des Verfahrens außer Streitsachen, 19, hat, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang, hervorgehoben, daß die Verfahren, deren Aufgabe die Fürsorge für Minderjährige ist, von den anderen Verfahrenstypen des außerstreitigen Verfahrens unterschieden werden müssen. Aufgabe jener Verfahren ist es gerade, die Möglichkeit zu entziehen, auf den Vermögenskreis Schutzbefohlener unbefugterweise und durch Schmälerung abträglich einzuwirken (Ott, Rechtsfürsorgeverfahren, 74). Die Tätigkeit der Gerichte hat sich als Fürsorge zu äußern, um etwa möglichen Beeinträchtigungen gültig erworbener Rechte und bestehender Rechtsverhältnisse für die Zukunft vorzubeugen (Ott, 93). Die Ausschließung der Öffentlichkeit in nicht streitigen Rechtsangelegenheiten wird demnach auch gerade damit gerechtfertigt, daß sonst vielfach Familien- und Geschäftsinteressen, denen Schutz gewährt werden soll, verletzt würden, wenn intime Familien- oder Vermögensverhältnisse allgemein bekannt würden (Ott, 179). Da nur die Interessen des Pflegebefohlenen zu wahren sind, hat die Rechtsprechung unter Billigung der Literatur auch stets anerkannt, daß ein Vertragspartner eines Pflegebefohlenen auf das Genehmigungsverfahren vor dem Pflegschaftsgericht nicht Einfluß nehmen kann (EvBl. 1972/244; SZ 23/240; SZ 21/5 u. a; Wentzel - Piegler in Klang[2] I/2, 418; Gschnitzer in Klang [2] IV/1, 89 f.), insbesondere nicht ein künftiger Prozeßgegner (JBl. 1958, 69). Darüber hinaus muß aber ganz allgemein gesagt werden, daß das nur im Interesse des Pflegebefohlenen geführte Pflegschaftsverfahren ein rein internes ist, von dessen Vorgängen nur die Parteien des Pflegschaftsverfahrens, nicht aber außenstehende allgemein Kenntnis nehmen dürfen. Das gilt insbesondere für Pflegschaftsverfahren, in denen Rechnungen zu legen und zu prüfen sind. Für die Pflegebefohlenen im vorliegenden Fall, zu deren Vermögen u. a. auch Anteile an einem Unternehmen gehören, besteht die Verbindlichkeit zur Rechnungslegung (§§ 238 ff. ABGB, §§ 203 ff. AußStrG). Aus dem Pflegschaftsakt sind daher auch die Vermögensverhältnisse der Minderjährigen zu erkennen. Der Zweck des Schutzes der Pflegebefohlenen würde geradezu ins Gegenteil verkehrt werden, wenn einem künftigen Prozeßgegner gerade wegen der Führung eines Pflegschaftsverfahrens eine ihm sonst nicht offenstehende Möglichkeit, seine Lage im künftigen Rechtsstreit zu verbessern, geboten werden würde. Es kann ihm nur das Recht zuerkannt werden, gewisse Ergebnisse der richterlichen Verfügungsgewalt (vgl. Ott, 179), etwa die Tatsache der pflegschaftsbehördlichen Genehmigung bestimmter Verträge oder deren Ablehnung, mitgeteilt zu erhalten. Inwieweit ihm auf Grund anderer Bestimmungen Rechte offenstehen, Einsicht in die Unterlagen der Geschäftsführung des Unternehmens zu verlangen, ist in diesem Verfahren nicht zu beurteilen.

Anmerkung

Z47141

Schlagworte

Akteneinsicht, keine - für Prozeßgegner des Pflegebefohlenen in den, Pflegschaftsakt, Neuerungsrecht nach § 10 AußStrG, keine Möglichkeit, abweichende oder, noch gar nicht aufgestellte Tatsachenbehauptungen vorzubringen, Pflegschaftsverfahren, keine Akteneinsicht für Prozeßgegner des, Pflegebefohlenen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1974:0010OB00206.74.1204.000

Dokumentnummer

JJT_19741204_OGH0002_0010OB00206_7400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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