TE OGH 1975/6/5 7Ob100/75

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Veröffentlicht am 05.06.1975
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Norm

Versicherungsvertragsgesetz §6
Versicherungsvertragsgesetz §61

Kopf

SZ 48/65

Spruch

Bei der Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG handelt es sich nicht um eine Obliegenheitsverletzung des Versicherten im Sinne des § 6 VersVG, sondern um einen subjektiven Risikoausschluß; behauptet der Versicherer einen solchen, so muß er auch die grobe Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers an der Herbeiführung des Versicherungsfalles beweisen

OGH 5. Juni 1975, 7 Ob 100/75 (OLG Graz 5 R 31/75; LG Klagenfurt 26 Cg 358/73)

Text

Der Kläger schloß mit der Beklagten hinsichtlich seines PKWs Marke Mercedes 220/d/8 KZ 44.404 zur Polizzen-Nr. 8/51-63-26.817 mit Wirkung vom 12. Oktober 1972 eine Vollkaskoneuwertversicherung ab. Am 8. Juli 1973 stürzte sein PKW von einem Almweg über einen steilen Hang und wurde hiedurch schwer beschädigt. Die Beklagte lehnte die Schadensliquidierung mit der Behauptung ab, daß der Kläger den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt habe.

Mit seiner Klage begehrte der Kläger nach Klagsänderung die Feststellung, daß ihm die Beklagte im Rahmen des Kaskoversicherungsvertrages aus dem vorgenannten Schadensereignis Versicherungsschutz zu gewähren habe. Hilfsweise begehrt er von der Beklagten die Bezahlung von 131.758.20 S samt Anhang. Er habe am 8. Juli 1973 nach Einlegen des Rückwärtsganges und Betätigung der Handbremse seines PKW auf dem zur Preisdorfer Wiese führenden steil abfallenden Güterweg abgestellt. Trotzdem habe sich das Fahrzeug in Bewegung gesetzt und sei über einen Abhang hinuntergestürzt. Er könne sich den Unfall nur so erklären, daß er die Handbremse entweder zu wenig angezogen oder sich diese gelockert habe. Grobe Fahrlässigkeit könne ihm nicht zur Last gelegt werden. An seinem PKW sei Totalschaden eingetreten. Im Unfallszeitpunkt habe dessen Listenpreis 143.956 S betragen. Nach Abzug des Selbstbehaltes von 7197.80 S und des Wrackwertes von 5000 S verbleibe daher ein Betrag von 131.758.20 S den ihm die Beklagte zu ersetzen habe. Die Beklagte beantragte Klagsabweisung und behauptete Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG, weil der Kläger den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt habe. Er habe nämlich den mit 150 kg Steinen beladenen PKW auf einem steilen Bergstück des vorgenannten Güterweges abgestellt, ohne einen Gang einzulegen oder ein Hindernis vor die Räder zu legen.

Das Erstgericht wies das Haupt- und das Eventualbegehren ab. Nach seinen Feststellungen fuhr der Kläger am 8. Juli 1963 mit seinem PKW zur Jagd auf die 6 bis 8 km von der Unfallstelle entfernte Preisdorfer Wiese. Der Kläger besitzt auf der Alm eine Jagdhütte und ist daher ortskundig. Auf der Rückfahrt hielt er seinen PKW dreimal an, um Steine zu laden, die er für Bauzwecke benötigte. Als ihm ein almwärts fahrender PKW entgegenkam, stellte er sein Fahrzeug auf einer hangseitigen Ausweiche mit neun Grad Gefälle des dort nur 3 m breiten Güterweges so ab, daß dessen linkes Räderpaar zirka 1 m von dem steil abfallenden Abhang entfernt war. Er tat dies deshalb, um bergwärts fahrenden Straßenbenützern ein gefahrloses Vorbeifahren zu ermöglichen. Vor dem Verlassen des Fahrzeuges schlug der Kläger wohl die Vorderräder nach rechts, jedoch nicht bis zum vollen Anschlag ein, ließ jedoch den Starterschlüssel stecken, so daß die Lenkradsperre nicht betätigt war. Als der Kläger zirka drei bis vier Minuten weg war und sich vom Abstellplatz zirka 25 m entfernt hatte, hörte er plötzlich ein Geräusch und sah, als er sich umdrehte, wie der Wagen herangerollt kam. Er lief diesem entgegen und versuchte ihn an der Türschnalle zu erfassen, jedoch kippte das Fahrzeug bereits nach links ab. Eine Feststellung, daß der Kläger den Rückwärtsgang eingelegt und die Feststellbremse (Handbremse) des Fahrzeuges ordnungsgemäß betätigt hatte, vermeinte das Erstgericht nicht treffen zu können. Andere, sachgemäße Maßnahmen gegen ein Abrollen des Fahrzeuges hat der Kläger nicht getroffen. Bei ordnungsgemäß funktionierender und richtig angezogener Feststellbremse hätte sich der PKW des Klägers nicht in Bewegung setzen können.

Das Erstgericht bejahte die von der Beklagten behauptete Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG. Dem Kläger sei es nicht gelungen, den von der Beklagten erhobenen Vorwurf der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles zu entkräften. Im Hinblick auf das extreme Gefälle des Abstellplatzes hätte sich der Kläger nicht auf die an seinem Fahrzeug vorhandenen Sicherungsmittel (Einlegen des Rückwärtsganges, Betätigen der Feststellbremse) gegen dessen Abrollen beschränken dürfen, sondern hätte zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssen. Als umsichtiger Kraftfahrer hätte er den Lenkeinschlag nach rechts voll ausnützen und die Lenkradsperre betätigen müssen. Außerdem wäre von dem bergfahrenden Kläger eine weitere Sicherheit des Fahrzeuges gegen ein Abrollen durch Vorlage von Steinblöcken zu erwarten gewesen. Dies wäre ihm leicht möglich gewesen, weil er in seinem Fahrzeug Steine geladen hatte. Da der Kläger außerdem die Feststellbremse seines PKWs offensichtlich nur unzureichend betätigt habe und das Auftreten eines technischen Gebrechens unwahrscheinlich sei, müsse davon ausgegangen werden, daß er beim Abstellen seines Fahrzeuges auffallend sorglos gehandelt habe. Sowohl das Haupt- als auch das Eventualbegehren seien daher nicht berechtigt.

Das Berufungsgericht hob das Ersturteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger mündlicher Verhandlung an das Prozeßgericht erster Instanz zurück. Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß der Versicherer die grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles durch den Versicherungsnehmer zu beweisen habe. Wohl treffen den Kläger ein Verschulden an dem Absturz seines PKWs, weil er diesen nicht gegen ein Abrollen im Sinne des § 23 Abs. 5 StVO entsprechend gesichert habe. Das besage jedoch noch nicht, daß der Kläger auch grob fahrlässig gehandelt habe. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn der Kläger beim Abstellen seines Fahrzeuges auf der steil abfallenden Ausweiche weder die Feststellbremse ordnungsgemäß betätigt, noch den ersten Gang oder den Rückwärtsgang seines Fahrzeuges eingelegt haben sollte. Sicher wäre von einem vorsichtigen Durchschnittskraftfahrer bei der gegebenen Situation (Gefälle von neun Grad, mit Steinen beladener PKW) noch weitere Maßnahmen zur Sicherung des Fahrzeuges, z. B. durch Unterlegkeile und ein Radeinschlag bis zum Wirksamwerden der Lenkradsperre zu erwarten gewesen. In der Unterlassung solcher weiterer Sicherungsvorkehrungen durch einen Kraftfahrzeuglenker könne aber nur eine leichte Fahrlässigkeit erblickt werden. Um leistungsfrei zu werden, hätte daher die Beklagte beweisen müssen, daß der Kläger die Feststellbremse seines PKWs nicht ordnungsgemäß betätigt und den ersten Gang oder den Rückwärtsgang seines Fahrzeuges nicht eingelegt habe. Ob der Kläger diese Sicherheitsvorkehrungen unterlassen oder nur nicht erwiesen sei, daß er sie vorgenommen habe, könne den Feststellungen des Erstgerichtes mit einer jeden Zweifel ausschließenden Sicherheit nicht entnommen werden. Das angefochtene Urteil müsse daher mangels Spruchreife der gegenständlichen Rechtssache der Aufhebung verfallen.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Zunächst bekämpft die Rekurswerberin die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, wonach sie die Beweislast für die grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles durch den Kläger treffe. Sie habe die "objektive Verletzung" der Schutzvorschrift des § 23 Abs. 5 StVO durch den Kläger dargetan und damit ihrer Beweispflicht entsprochen. Es hätte daher der Kläger beweisen müssen, daß er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt habe.

Den Ausführungen der Rekurswerberin kann nicht gefolgt werden. Bei der von ihr in Anspruch genommenen Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG handelt es sich nicht um eine Obliegenheitsverletzung des Versicherten im Sinne des § 6 VersVG, sondern um einen subjektiven Risikoausschluß (Stiefel - Wussow, AKB[9], 322 und 547; Prölss - Martin, VersVG[19], 320; VersR 1964/475, 1965/29 u. a. m.). Wird dieser Risikoausschluß behauptet, so hat nicht der Versicherungsnehmer - wie bei der Verletzung einer Obliegenheit - darzutun, daß er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt hat, sondern muß der Versicherer auch die behauptete grobe Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers an der Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 61 VersVG) beweisen (Stiefel - Wussow, 323, NJW 1957/907). Die Rekurswerberin hat daher durch den bloßen Nachweis der Verletzung der Schutzvorschrift des § 23 Abs. 5 StVO durch den Kläger ihrer Beweispflicht noch nicht entsprochen. Sollte im gegenständlichen Falle nicht erweislich sein, daß der Kläger im Sinne der vorgenannten Gesetzesstelle zur Sicherung seines Fahrzeuges gegen ein Abrollen erforderliche Vorkehrungen unterlassen hat, so geht dies zu Lasten der Rekurswerberin.

Die Rekurswerberin ist ferner der Ansicht, die Bestimmung des § 23 Abs. 5 StVO sei streng auszulegen. Unterlasse daher ein Fahrzeuglenker auch nur eine zur Verhinderung des Abrollens seines PKWs erforderliche Sicherungsmaßnahme, so sei ihm dies bereits als grobe Fahrlässigkeit anzulasten. Es gehe nämlich nicht an, notwendige und weniger notwendige Sicherungsvorkehrungen zu unterscheiden. Der Kläger habe es aber unterlassen, die Vorderräder seines PKWs so weit nach rechts bis zum Wirksamwerden der Lenkradsperre einzuschlagen und den Absturz des Fahrzeuges durch Unterlegen von Steinen zu verhindern. In dieser Unterlassung des Klägers sei daher bereits eine grobe Fahrlässigkeit zu erblicken. Die Rechtssache sei daher im Sinne einer Klagsabweisung spruchreif.

Auch diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 61 VersVG setzt ein Verhalten des Versicherungsnehmers voraus, von dem er wußte oder wissen mußte, daß es geeignet ist, den Eintritt des Versicherungsfalles oder die Vergrößerung des Schadens zu fördern (Prölß - Martin, VersVG[19], 320, VersR 1966/1196; ZVR 1972/182, zuletzt 7 Ob 252/74). Die Sorgfaltsverletzung muß sich daher erheblich und ungewöhnlich vom Regelfall abheben und bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles auch subjektiv schwer vorzuwerfen sein. (VersR 1973/878, EvBl. 1963/265 7 Ob 140/74). Unter diesem Gesichtspunkt kann daher in dem bloßen Verstoß eines Kraftfahrzeuglenkers gegen eine Bestimmung der StVO eine auffallende Sorglosigkeit noch nicht erblickt werden, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten, die seinen Sorgfaltsverstoß als schwer und die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes als vorhersehbar erscheinen lassen. Hier war nach den erstgerichtlichen Feststellungen im Hinblick auf das starke Gefälle der Ausweiche des Güterweges das bloße Einlegen eines Ganges (ersten Gang oder Rückwärtsgang) eine völlig unzureichende Sicherungsmaßnahme gegen das Abrollen des Fahrzeuges des Klägers. Sollte dieser daher keine weiteren Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben, so hätte er damit rechnen müssen, daß sein Fahrzeug in Kürze über den an die Ausweiche anschließenden Abhang hinunterstürzen könne. In diesem Falle wäre daher in der Tat eine auffallende Sorglosigkeit des Klägers gegeben. Sollte hingegen der Kläger auch die Feststellbremse seines Wagens betätigt haben, deren Wirkung sich aus irgendeinem Gründe als nicht ausreichend erwies, um ein Abrollen des Fahrzeuges zu verhindern, so hätte er nicht mehr damit rechnen müssen, daß sich sein Fahrzeug trotzdem in Bewegung setzen könne. Denn die vorgenannten Sicherheitsvorkehrungen waren an sich, selbst wenn die Feststellbremse nicht voll angezogen gewesen sein sollte, geeignet, das Abrollen des PKWs des Klägers zu verhindern. Sicher hätte der Kläger, dem das besondere Gefälle der Ausweiche des Güterweges bekannt war, als umsichtiger Kraftfahrer noch weitere Vorkehrungen treffen sollen, um - wie der gegenständliche Unfall zeigt - sein Fahrzeug gegen ein Abrollen zu sichern. Die Unterlassung derartiger zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen kann ihm aber im Hinblick auf die vorangehenden Ausführungen nur als leichte Fahrlässigkeit angelastet werden. Sofern das Berufungsgericht zur abschließenden Prüfung der von ihm richtig gelösten Rechtsfrage eine Verfahrensergänzung für nötig erachtet, so kann dem der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht entgegentreten. (Fasching IV, 414; SZ 38/29 und 227; JBl. 1963, 166 f. RZ 1965/45; ÖBl. 1967, 78 u. a. m.). Die Aufhebung des Ersturteils durch das Berufungsgericht erfolgte somit zu Recht. In seiner neuerlichen Entscheidung wird das Erstgericht unter Berücksichtigung der vorangehenden Ausführungen über die Beweislastverteilung die vom Berufungsgericht für erforderlich erachteten Feststellungen zu treffen haben.

Anmerkung

Z48065

Schlagworte

Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG, keine Obliegenheitsverletzung des, Versicherten im Sinne des § 6 VersVG, sondern subjektiver, Risikoausschluß, Subjektiver Risikoausschluß, Leistungsfreiheit nach § 61 VersVG keine, Obliegenheitsverletzung, sondern -

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1975:0070OB00100.75.0605.000

Dokumentnummer

JJT_19750605_OGH0002_0070OB00100_7500000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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