TE OGH 1977/10/11 4Ob127/77

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Veröffentlicht am 11.10.1977
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Norm

Arbeitsverfassungsgesetz §96
Arbeitsverfassungsgesetz §102

Kopf

SZ 50/129

Spruch

§ 102 ArbVG ist eine (zweiseitige) zwingende Vorschrift des Arbeitsverfassungsrechtes, die das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates bei Verhängung von Disziplinarmaßnahmen sichert und auch durch einen Kollektivvertrag - hier: DO-B - nicht abgeändert werden kann

Solange die Zustimmung des Betriebsrates nicht vorliegt, ist eine Disziplinarmaßnahme, die nicht von einer mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichteten Stelle im Sinne des § 102 ArbVG verhängt worden ist, unwirksam

OGH 11. Oktober 1977, 4 Ob 127/77 (LGZ Graz 2 Cg 37/77; ArbG Graz 1 Cr 58/77)

Text

Der Kläger ist bei der beklagten Unfallversicherungsanstalt in dem von dieser betriebenen Arbeitsunfallkrankenhaus in Graz als Oberarzt beschäftigt. Auf dieses Dienstverhältnis haben die Bestimmungen des Angestelltengesetzes und der Dienstordnung für die Ärzte und Dentisten bei den Sozialversicherungen Österreichs (DO-B) Anwendung zu finden.

Mit Schreiben vom 30. Dezember 1976 teilte die beklagte Partei dem Kläger mit, daß der Verwaltungsausschuß des Vorstandes in der Sitzung vom 21. Dezember 1976 beschlossen habe, unter Bedachtnahme auf das Ergebnis der Voruntersuchung, demzufolge der Kläger seinen Dienstpflichten als Facharzt für Anästhesie im Arbeitsunfallkrankenhaus Graz im Zusammenhang mit der am 20. Oktober 1976 angesetzten Operation des Patienten S zuwidergehandelt habe, gemäß § 99 Abs. 4 Z. 2 DO-B in Verbindung mit § 96 Abs. 1 Z. 2 DO-B die Ordnungsstrafe des Verweises über den Kläger zu verhängen und gemäß § 96 DO-B eine Geldbuße im Ausmaß von 5% des Monatsbezuges des Klägers für Jänner 1977 festzusetzen.

Diese Geldbuße in der Höhe von 1933.20 S brutto wurde von der beklagten Partei dem Kläger am 28. Feber 1977 von seinem Gehalt in Abzug gebracht.

Der Kläger behauptet, daß dieses Disziplinarerkenntnis unter Mißachtung zwingender kollektivvertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen durch die beklagte Partei zustande gekommen und auch materiellrechtlich in keiner Weise gerechtfertigt sei. Er beantrage daher die Feststellung, daß die verhängte Ordnungsstrafe des Verweises und die Festsetzung einer Geldbuße rechtsunwirksam sind; außerdem begehrte er von der beklagten Partei die Rückzahlung des als Geldbuße einbehaltenen Betrages von 1933.20 S brutto.

Die beklagte Partei führte aus, daß der Kläger vom ärztlichen Leiter des Arbeitsunfallkrankenhauses Graz auf die Notwendigkeit seiner Anwesenheit bei einer dringenden Operation aufmerksam gemacht worden sei. Ein ausdrücklicher Auftrag sei dem Kläger nicht erteilt worden. Der Kläger habe sich ohne Rücksicht auf die angesetzte Operation und die sich für den Patienten daraus ergebenden Folgen aus dem Krankenhaus entfernt. Mit Rücksicht auf dieses den ärztlichen Pflichten kraß widersprechende und das Ansehen der beklagten Partei schwer schädigende Verhalten des Klägers sei die verhängte Disziplinarmaßnahme gerechtfertigt. Das Feststellungsbegehren des Klägers sei überdies unzulässig, da es an einem rechtlichen Interesse fehle.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im wesentlichen mit der Begründung statt, daß die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme gegen den Kläger gemäß § 102 ArbVG der Zustimmung des Betriebsrates bedurft hätte und diese (bisher) nicht erteilt wurde. Die von der beklagten Partei verhängten Disziplinarmaßnahmen seien daher (noch) nicht wirksam.

Die Berufung der beklagten Partei blieb erfolglos. Das Berufungsgericht ging nach Neudurchführung der Verhandlung gemäß § 25 Abs. 1 Z. 3 ArbG von folgendem Sachverhalt aus:

Mit Schreiben der beklagten Partei vom 16. November 1976 wurde dem Kläger mitgeteilt, daß der Verwaltungsausschuß des Vorstandes der beklagten Partei beschlossen habe, gegen ihn wegen Schädigung des Ansehens der beklagten Partei und Verletzung der Dienstpflichten durch Nichtbefolgung der Anweisung des ärztlichen Leiters, bei der am 20. Oktober 1976 festgesetzten kieferchirurgischen Operation die Anästhesie durchzuführen, gemäß § 98 DO-B ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Hievon wurde auch der Angestelltenbetriebsrat im Arbeitsunfallkrankenhaus Graz verständigt.

Der Kläger begehrte, nachdem ihm die Verhängung der Ordnungsstrafe zur Kenntnis gebracht worden war, mit Schreiben vom 17. Jänner 1977 die Einleitung eines Disziplinarverfahrens. Diesem Ansuchen wurde von der beklagten Partei nicht stattgegeben, da die Ordnungsstrafe nicht vom leitenden Angestellten, sondern vom Verwaltungsausschuß des Vorstandes auf Grund der Ergebnisse der Voruntersuchung gemäß § 99 DO-B verhängt worden sei.

Der Angestelltenbetriebsrat im Arbeitsunfallkrankenhaus Graz wurde von der beklagten Partei von der Verhängung der Ordnungsstrafe über den Kläger nicht verständigt und hat dieser Disziplinarmaßnahme auch nicht zugestimmt.

Gemäß § 97 der DO-B sind Dienstvergehen, die mit Disziplinarstrafen geahndet werden, u. a. auch mehrmalige Wiederholungen von Ordnungswidrigkeiten, die bereits durch Ordnungsstrafen geahndet wurden.

Bei der rechtlichen Beurteilung ging das Berufungsgericht davon aus, daß zur Entscheidung darüber, ob die verhängten Disziplinarmaßnahmen wegen des Mangels der Zustimmung des Betriebsrates unwirksam sind, das Arbeitsgericht und nicht - wie die beklagte Partei meine - das Einigungsamt zuständig sei, weil es sich um eine Streitigkeit aus dem Arbeitsverhältnis handle. Da die Disziplinärmaßnahmen nicht durch eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle, sondern vom Verwaltungsausschuß des Vorstandes der beklagten Partei verhängt worden seien, hätten sie gemäß § 102 ArbVG der Zustimmung des Betriebsrates bedurft, obgleich die Vorgangsweise der beklagten Partei den Bestimmungen der DO-B entsprochen habe. Die Vorschrift des § 102 ArbVG sei nämlich (zweiseitig) zwingend, so daß sie den Bestimmungen der DO-B, die ein Kollektivvertrag sei, vorgehe. Durch § 164 ArbVG seien die zur Zeit des Inkrafttretens des Arbeitsverfassungsgesetzes (1. Juli 1974) geltenden Kollektivverträge nur in ihrem "Bestand" und ihrer "Wirksamkeit" an sich, nicht aber in Bestimmungen aufrecht erhalten worden, die zwingenden Vorschriften des Arbeitsverfassungsgesetzes widersprechen. Das rechtliche Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung sei zu bejahen, weil nach § 97 DO-B die mehrmalige Wiederholung von Ordnungswidrigkeiten, die bereits durch Ordnungsstrafe geahndet wurden, ein Dienstvergehen darstelle, das eine Disziplinarstrafe nach sich ziehen könne. Solange der Betriebsrat seine Zustimmung zur Verhängung der Disziplinarmaßnahmen nicht gegeben habe, seien diese unwirksam, so daß ihr Vollzug rechtswidrig sei; die beklagte Partei sei daher nicht berechtigt gewesen, die festgesetzte Geldbuße einzubehalten. Das Erstgericht habe somit dem Klagebegehren zu Recht stattgegeben.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die beklagte Partei macht neuerlich geltend, daß zur Entscheidung der gegenständlichen Rechtssache nicht das Arbeitsgericht, sondern das Einigungsamt zuständig gewesen sei, weil es sich um einen Rechtsstreit über die Befugnisse des Betriebsrates handle. Es sei auch unrichtig, daß für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme jedenfalls die Zustimmung des Betriebsrates erforderlich sei, weil diese bei einer Versetzung durch das Einigungsamt ersetzt werden könne und eine Kündigung oder Entlassung bei Verweigerung der Zustimmung des Betriebsrates nicht unwirksam, sondern nur beim Einigungsamt anfechtbar sei. Es könne nicht Absicht des Gesetzgebers gewesen sein, dem Betriebsrat die Möglichkeit zu geben, die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme überhaupt zu verhindern.

Zu diesen Ausführungen ist zunächst darauf zu verweisen, daß sich das Recht des Arbeitgebers zur Verhängung einer Disziplinarmaßnahme aus dem Bestehen des Arbeitsverhältnisses allein noch nicht ergibt; es bedarf einer besonderen Grundlage. Diese Grundlage kann grundsätzlich das Gesetz, ein Kollektivvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder der Einzeldienstvertrag sein (ZAS 1974, 181 m. w. N. und dazu Tomandl in ZAS 1974, 183 f.). Für Betriebe, die - wie jener der beklagten Partei (§ 33 ArbVG) - unter den Geltungsbereich des II. Teiles des Arbeitsverfassungsgesetzes fallen, ist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Disziplinarmaßnahme, daß sie in einer Betriebsvereinbarung nach § 96 Abs. 1 Z. 1 ArbVG oder in einem Kollektivvertrag ein solcher ist auch die auf das Dienstverhältnis zwischen den Streitteilen anzuwendende DO-B - vorgesehen ist. Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme im Einzelfall bedarf aber der Zustimmung des Betriebsrates, wenn darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle - wozu unbestrittenermaßen der Verwaltungsausschuß des Vorstandes der beklagten Partei nicht gehört - entscheidet (§ 102 ArbVG; Floretta - Strasser, Komm. z. ArbVG, 595 ff.). Streitigkeiten zwischen Betriebsinhaber und dem von der Disziplinarmaßnahme betroffenen Dienstnehmer über die Zulässigkeit der Disziplinarmaßnahme sind Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis, über welche die Gerichte zu entscheiden haben. Dieser Prüfung unterliegt jedenfalls auch die Frage, ob die Disziplinarmaßnahme gegen zwingende Vorschriften des Arbeitsverfassungsgesetzes verstößt, also etwa, ob sie - wie im vorliegenden Fall behauptet wird - mangels Zustimmung des Betriebsrates rechtsunwirksam ist (Floretta - Strasser a. a. O., 602; Tomandl a. a. O., 186).

Bei der Vorschrift des § 102 ArbVG handelt es sich um eine zwingende Vorschrift, die das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates bei Verhängung einer Disziplinarmaßnahme sichert (Floretta - Strasser a. a. O., 596, 599; 4 Ob 97/77). Solange die Zustimmung des Betriebsrates nicht vorliegt, ist eine Disziplinarmaßnahme, die nicht durch eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle im Sinne des § 102 ArbVG verhängt wurde, nicht wirksam (Floretta - Strasser a. a. O., 596). Da es sich bei der Bestimmung des § 102 ArbVG um eine Vorschrift des Betriebsverfassungsrechtes handelt und diese Vorschriften grundsätzlich (zweiseitig) zwingend sind (Strasser, Arbeitsrecht II, 61, 140; Arb. 8173) und überdies das Arbeitsverfassungsgesetz eindeutig den Zweck verfolgt, die Fragen der Betriebsverfassung umfassend und abschließend zu regeln (vgl. Dittrich - Veit - Tades, Arbeitsrecht, Anm. 2 zu § 26 SchSpG; 4 Ob 97/77), kann dem Erfordernis der Zustimmung des Betriebsrates zur Verhängung der Disziplinarmaßnahme nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, daß diese in der auf das Dienstverhältnis anzuwendenden Dienstordnung nicht vorgesehen sei.

Rechtsvorschriften, die (zweiseitig) zwingend sind, können - mangels eines besonderen Vorbehaltes - auch durch Kollektivverträge nicht abgeändert werden (Strasser, Arbeitsrecht, 60 f.; Floretta - Strasser a. a. O., 39; Mayer - Maly, Arbeitsrecht, 182; Arb. 9069 u. a.).

Die Frage, ob die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung zu einer Disziplinarmaßnahme durch eine Entscheidung des Einigungsamtes ersetzt werden kann siehe dazu Floretta - Strasser a. a. O., 599 gegenüber Mayr im Komm. z. ArbVG (Wirtschaftsverlag), 237, ist im vorliegenden Fall nicht wesentlich, weil eine Zustimmung des Einigungsamtes oder auch nur ein anhängiges Verfahren über einen Antrag auf Erteilung dieser Zustimmung nicht einmal behauptet wurde. Daß der Betriebsrat der Disziplinarmaßnahme im vorliegenden Fall nicht zugestimmt hat, steht fest. Die Frage, ob die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung durch das Einigungsamt ersetzt werden kann, könnte aber nur von Bedeutung sein, wenn dies bereits geschehen wäre oder doch ein Verfahren darüber anhängig wäre. Im vorliegenden Rechtsstreit ist aber nicht zu entscheiden, ob das Einigungsamt die fehlende Zustimmung des Betriebsrates ersetzen könnte, sondern ob die verhängte Disziplinarmaßnahme vor der Zustimmung des Betriebsrates oder deren Ersatz durch das Einigungsamt - wenn man diesen als zulässig ansehen will - bereits wirksam ist. Daß dies nicht zutrifft, ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des § 102 ArbVG, wonach die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme im Einzelfall - wenn diese nicht durch eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle erfolgt - der Zustimmung des Betriebsrates "bedarf". Das kann nur besagen, daß die Maßnahme ohne Vorliegen der Zustimmung des Betriebsrates nicht wirksam ist (Floretta - Strasser a. a. O., 596). Der Hinweis der beklagten Partei auf die Regelungen des Arbeitsverfassungsgesetzes bei Versetzung, Kündigung oder Entlassung eines Dienstnehmers ist verfehlt, weil dem Arbeitsverfassungsgesetz ein engerer Begriff der Disziplinarmaßnahme zugrunde liegt, der Versetzungen, Kündigungen oder Entlassungen nicht umfaßt, so daß die für diese Fälle getroffenen Spezialregelungen auf das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates gemäß § 102 ArbVG nicht übertragen werden können (Floretta - Strasser, Arbeitsverfassungsgesetz, 297, 280).

Die Untergerichte haben daher die von der beklagten Partei verhängten Disziplinarmaßnahme schon wegen Fehlens der Zustimmung des Betriebsrates als unwirksam erkannt, ohne daß es einer Prüfung ihrer sachlichen Berechtigung bedürfte. Da das rechtliche Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung von der beklagten Partei nicht mehr bestritten wird, genügt es, dazu auf die zutreffenden Ausführungen der Untergerichte zu verweisen.

Anmerkung

Z50129

Schlagworte

Disziplinarmaßnahme, Begriff nach ArbVG, Disziplinarmaßnahmen, Mitwirkung des Betriebsrates nach ArbVG

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1977:0040OB00127.77.1011.000

Dokumentnummer

JJT_19771011_OGH0002_0040OB00127_7700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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