Norm
ABGB §21 Abs1Kopf
SZ 51/93
Spruch
War eine Partei bereits während des Verfahrens handlungs- und damit prozeßunfähig, aber nicht gesetzlich oder bereits seit dem Eintritt der Prozeßunfähigkeit durch einen vorher bestellten Prozeßbevollmächtigten vertreten, dann liegt Nichtigkeit vor; der Nichtigkeitskläger muß die Prozeßunfähigkeit beweisen. Gleiches gilt auch, wenn ein im Zeitpunkt des Vorprozesses noch nicht entmundigter Prozeßunfähiger nach Eintritt der Prozeßunfähigkeit einem gewillkürten Vertreter Prozeßvollmacht erteilt und dieser den Rechtsstreit namens des Prozeßunfähigen geführt hat
OGH 20. Juni 1978, 3 Ob 613/76 (OLG Graz 2 R 74/74; LGZ Graz 13 Cg 127/72)
Text
Mit Urteil des OGH vom 17. Dezember 1974, GZ 3 Ob 206/74-39, wurde das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz vom 24. Juni 1974, GZ 2 R 75/74-33, mit dem das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 19. April 1974, GZ 13 Cg 127/72-26, teilweise abgeändert wurde bestätigt. Auf Grund der beiden letztgenannten Urteile wurde die nunmehrige klagende Partei auf Grund der Feststellungen über das teilweise Bestehen der Klagsforderung und über den Nichtbestand einer eingewendeten Gegenforderung - unter Abweisung des Mehrbegehrens - verurteilt, an die nunmehrige beklagte Partei 470 937 S samt 9% Zinsen seit 1. Jänner 1973 "bis zum Höchstbetrag von insgesamt 500 000 S an Kapital und Zinsen" binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution in die Liegenschaft EZ 934 KG X zu bezahlen.
Die klagende Partei, die mit Beschluß des Bezirksgerichtes für ZRS Graz vom 12. September 1975. GZ ..., wegen Geisteskrankheit beschränkt entmundigt wurde, ficht diese Urteile nach § 529 Abs. 1 Z. 2 ZPO mit der Begründung an, sie sei in diesem Prozeßverfahren im Hinblick auf ihre Geistesschwäche und den deshalb bestandenen Mangel der Prozeßfähigkeit nicht ordnungsgemäß durch einen gesetzlichen Vertreter vertreten gewesen. Zu dieser Prozeßführung erteilte das Bezirksgericht für ZRS Graz die Strafprozeßermächtigung.
Die beklagte Partei bestritt das Vorliegen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes.
Die rechtzeitig eingebrachte Klage wurde dem OGH als gemäß § 532 Abs. 1 ZPO zuständigem Gericht überwiesen (§ 261 Abs. 6 ZPO). Über die Klage konnte nach Beweisaufnahme durch einen ersuchten Richter in nichtöffentlicher Sitzung entschieden werden (§§ 509, 535 ZPO).
Der Oberste Gerichtshof erkannte zu Recht:
Das Begehren der klagenden Partei, die Urteile des OGH vom 17. Dezember 1974, GZ 3 Ob 206/74-39, des Oberlandesgerichtes Graz vom 24. Juni 1974, GZ 2 R 75/74-33, und des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 19. April 1974, GZ 13 Cg 127/72-26, für nichtig zu erklären, wird abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach § 529 Abs. 1 Z. 2 ZPO kann eine rechtskräftige Entscheidung, durch welche eine Sache erledigt ist, mit Nichtigkeitsklage angefochten werden, wenn eine Partei in dem Verfahren gar nicht, oder falls sie eines gesetzlichen Vertreters bedarf, nicht durch einen solchen vertreten war, sofern die Prozeßführung nicht nachträglich ordnungsgemäß genehmigt wurde. Ist eine Prozeßpartei erst nach dem Verfahren entmundigt worden, schließt dies eine Nichtigkeitsklage nicht aus; war die Partei bereits während des Verfahrens handlungs- und damit prozeßunfähig, aber nicht gesetzlich oder bereits seit dem Eintritt der Prozeßunfähigkeit durch einen vorher bestellten Prozeßbevollmächtigten vertreten, dann liegt Nichtigkeit vor; der Nichtigkeitskläger muß die Prozeßunfähigkeit beweisen (Fasching IV, 490; ZBl. 1931/177). Gleiches gilt auch, wenn ein im Zeitpunkt des Vorprozesses noch nicht entmundigter Prozeßunfähiger nach Eintritt der Prozeßunfähigkeit einem gewillkürten Vertreter Prozeßvollmacht erteilt und dieser den Rechtsstreit namens des Prozeßunfähigen geführt hat (ZBl. 1936/ 156). Nicht verpflichtungsfähig und somit auch nicht prozeßfähig sind u. a. geisteskranke und geistesschwache Personen, deren Zustand ausschließt, daß sie sich wirksam verpflichten können (§§ 21, 865 Satz 1 ABGB). Bei nicht entmundigten Geisteskranken und Geistesschwachen ist im Einzelfall zu prüfen, ob sie die Tragweite des konkreten Rechtsstreites und die von ihnen gesetzten Prozeßhandlungen zu erkennen vermögen (Fasching II, 132; vgl. auch die in MGA, Bd. 2[30], zu § 21 ABGB zitierten Entscheidungen).
Im Sinne dieser Ausführungen ist daher für den vorliegenden Nichtigkeitsprozeß nur von entscheidender Bedeutung, ob die Klägerin am 7. September 1972, dem Tag der Zustellung der Klage und Ladung zur ersten Tagsatzung im Rechtsstreit des Landesgerichtes für ZRS Graz 13 Cg 127/72 sowie der Bevollmächtigung des Rechtsanwaltes Dr. Otmar H durch die Beklagte zu ihrer Vertretung in diesem Rechtsstreit, die Tragweite (Folgen) dieser Prozeßhandlungen zu beurteilen vermochte.
Diesbezüglich stellt der OGH fest:
Bei der jetzt 76jährigen Klägerin besteht derzeit eine altersbedingte Geistesschwäche mittleren Grades bei bereits angeborener Schwachbegabung. Während die Klägerin in körperlicher Hinsicht noch dem Alter entsprechend rüstig ist, ist in geistiger Beziehung ein Defekt festzustellen, der über den normalen Altersabbau etwas hinausgeht. Es handelt sich bei der Klägerin um eine an sich einfach strukturierte Persönlichkeit, deren Intelligenzhöhe immer etwas unterdurchschnittlich gelegen war. Sie verfügt nur über einen bescheidenen Wissensstand und hat knapp die Schulfertigkeiten erlernt, hat aber dann ein ausreichendes Gebrauchs- und Erfahrungswissen entwickelt, so daß durchschnittliche Anforderungen geistiger Art im allgemeinen an sie gestellt werden konnten. Ein Schwachsinn im krankhaften Sinn lag nicht vor. Der jetzt festgestellte, über das Lebensalter hinausgehende Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit ist auf arteriosklerotische und degenerative Veränderungen des Gehirns zurückzuführen. Der Umgang mit dem Erfahrungsschatz sowie die Kenntnis kollektiv gültiger Regeln und das allgemeine Gebrauchswissen ist noch gut erhalten; die Fähigkeit zur Erbringung höherer Intelligenzleistungen wurde hingegen abgebaut. Die Klägerin ist in der Lage, zu den seinerzeitigen geschäftlichen Transaktionen kritisch Stellung zu nehmen. Sie ist weiters in der Lage, bei entsprechender Aufklärung die Tragweite eines Rechtsgeschäftes zu erfassen. Sie konnte die Tragweite (Bedeutung und Folgen) der Einleitung des Vorprozesses beim Landesgericht für ZRS Graz zu 13 Cg 127/72 und der Klagszustellung am 7. September 1972 beurteilen. Dies gilt auch für die am selben Tag vorgenommene Bevollmächtigung ihres Rechtsanwaltes Dr. Otmar H zu ihrer Vertretung in diesem Rechtsstreit.
Im Beschluß vom 12. September 1975 über die beschränkte Entmündigung der Klägerin stellte das Bezirksgericht für ZRS Graz fest, daß bei der nunmehrigen Klägerin eine Allgemeinsklerose mit erhöhten Blutdruckwerten sowie eine Cerebralsklerose mit Störungen vor allem der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses bestehe. Außerdem sei die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Klägerin infolge der Rückbildungserscheinungen im Gehirn herabgesetzt. Produktive psychotische Symptome seien aber nicht nachweisbar, wohl aber bestehe eine paranoide Einstellung gegenüber der Steiermärkischen Sparkasse, die einerseits aus einer gewissen primitiven Persönlichkeitsstruktur, andererseits aus einer Einschränkung der Kritikfähigkeit und des Urteilsvermögens der Klägerin resultiere. Infolge der psychopathologischen Erscheinungen sei die Klägerin nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten in gehöriger Weise selbst zu besorgen.
Zur Beweiswürdigung ist zu bemerken, daß die auf Grund der im wesentlichen übereinstimmenden Befunde von den Sachverständigen, Univ.-Doz. Dr. Otto E und Prim. Dr. Ernst T, gezogenen Schlußfolgerungen über die Fähigkeit der Klägerin, die am 7. September 1972 vorgenommenen Prozeßhandlungen (Zustellung der Klage und Ladung zur ersten Tagsatzung sowie Bevollmächtigung des Rechtsanwaltes Dr. H zur Vertretung der Klägerin im Prozeß) in ihrer Tragweite zu beurteilen, überzeugend sind. Diese Schlußfolgerungen erscheinen insbesondere auf Grund des heutigen Geisteszustandes der Klägerin durchaus unbedenklich, insbesondere wenn man dem Sachverständigen Prim. Dr. T folgt, daß hirnorganische Ausfälle, die in einem bestimmten Lebensalter bestanden haben sollten, durch zunehmendes Alter sich nicht bessern, sondern in der Regel verschlechtern. Im übrigen stehen die im Entmündigungsverfahren getroffenen Feststellungen über den Geisteszustand der Klägerin nicht im Widerspruch mit den im vorliegenden Prozeß erstatteten, auch im übrigen schlüssigen und unbedenklichen Gutachten der beiden genannten Sachverständigen.
Auf die im Schriftsatz der Klägerin vom 31. Mai 1978 gestellten Beweisanträge ist nicht weiter einzugehen, weil nicht zu klären ist, ob die Klägerin am 7. September 1972 fähig war, "ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen", also generell handlungsfähig war oder nicht, sondern bloß festzustellen ist, ob die Klägerin die Tragweite der oben näher bezeichneten Prozeßhandlungen zu beurteilen vermochte.
In rechtlicher Hinsicht ergibt sich auf Grund des festgestellten Sachverhaltes, daß die Klägerin am 7. September 1972, dem Tag der Zustellung der Klage (und Ladung zur ersten Tagsatzung) sowie der Bevollmächtigung ihres Vertreters Dr. Otmar H in Ansehung dieses Prozesses, nicht prozeßunfähig im Sinne des § 1 ZPO war.
Die Nichtigkeitsklage war daher abzuweisen.
Anmerkung
Z51093Schlagworte
Handlungs- und Prozeßunfähigkeit, Prozeßunfähigkeit und Vertretung, Vertretung und ProzeßunfähigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1978:0030OB00613.76.0620.000Dokumentnummer
JJT_19780620_OGH0002_0030OB00613_7600000_000