Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 9.November 1978
unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Breycha in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller, Dr. Kral, Dr. Steininger und Dr. Walenta als Richter, sowie des Richteramtsanwärters Dr. Schnattinger als Schriftführer in der Strafsache gegen Wilhelm A wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage vor Gericht nach § 288 Abs. 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 4.Oktober 1978, GZ. 6 a E Vr 5210/77-33, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Hofrates des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller, der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Karollus, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen Wilhelm A und andere wegen Vergehens der falschen Beweisaussage vor Gericht und anderer strafbarer Handlungen, AZ. 6 d E Vr 5210/77
des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, verletzt der Beschluß des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 4. Oktober 1978, GZ. 6 d E Vr 5210/77-33, womit der Auftrag des Bundesministeriums für Justiz vom 28.September 1978 des Inhalts, daß die über Wilhelm A verhängte Freiheitsstrafe für den Fall, daß sie noch nicht angetreten worden ist, bis auf weiteres nicht zu vollziehen sei, als unzulässig zurückgewiesen wurde, und die Verfügung vom 8.Oktober 1978, soweit darin die Vorführung des Wilhelm A zum Strafvollzug angeordnet wurde, das Gesetz in der Bestimmung des § 411 Abs. 2 StPO Der Beschluß des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 4.Oktober 1978, GZ. 6 d E Vr 5210/77-33, und die auf diesem Beschluß beruhende Anordnung der Vorführung des Verurteilten Wilhelm A zum Strafvollzug werden aufgehoben.
Dem Erstgericht wird aufgetragen, in der Befolgung des Auftrages des Bundesministeriums für Justiz vom 28.September 1978, Z. 43.446/1-IV 4/78, dem Gesetz gemäß vorzugehen (§ 411 Abs. 2 zweiter Satz StPO).
Text
Gründe:
Mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 25.November 1977, GZ. 6 d E Vr 5210/77-17, wurde der am 22. Juli 1955 in Wien geborene Zeitungsherausgeber Wilhelm A des Vergehens der falschen Beweisaussage vor Gericht nach § 288 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens nach § 114 ASVG schuldig erkannt und hiefür nach § 288 Abs. 1 StGB unter Bedachtnahme auf § 28
StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt.
Gegen dieses Urteil hat Wilhelm A Berufung wegen Nichtigkeit und wegen des Ausspruches über die Schuld und die Strafe erhoben. Mit Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 29.März 1978, AZ. 12 Bs 91/78 (ON 25 der Akten 6 d E Vr 5210/77 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien) wurde die Berufung des Angeklagten Wilhelm A wegen Nichtigkeit verworfen, seiner Schuld- und Strafberufung wurde nicht stattgegeben.
Ein Antrag des Verurteilten auf Gewährung eines Strafaufschubes wurde mit Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24. Juli 1978, GZ. 6 d E Vr 5210/77-29, abgewiesen, der gegen diesen Beschluß erhobenen Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Wien mit Entscheidung vom 4.Oktober 1978, AZ. 12 Bs 454/78 (ON 34 der Akten 6 d E Vr 5210/77 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien) nicht Folge gegeben.
Am 3.Oktober 1978 langte beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein an das Bundesministerium für Justiz gerichtetes Gnadengesuch des Verurteilten Wilhelm A um bedingte Strafnachsicht ein, welches zufolge Erlasses des Bundesministeriums für Justiz vom 28.September 1978, Z. 43.446/1-IV 4/78, nach dem zweiten Absatz des § 411 StPO dem Gericht mit dem Auftrage übersendet wurde, das Gnadengesuch zu begutachten und die Akten auf dem vorgeschriebenen Wege vorzulegen; gleichzeitig wurde angeordnet, die Strafe, wenn sie noch nicht angetreten worden war, bis auf weiteres nicht zu vollziehen. Der Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wies jedoch mit Beschluß vom 4.Oktober 1978, GZ. 6 d E Vr 5210/77-33, den Auftrag des Bundesministeriums für Justiz betreffend Hemmung des Strafvollzuges als unzulässig zurück und begründete diese Entscheidung damit, daß gemäß § 411 Abs. 2 erstem Satz StPO Gnadengesuche keine aufschiebende Wirkung haben, weshalb ein Aufschub des Strafvollzuges nur auf der Grundlage des Strafvollzugsgesetzes erfolgen könnte; gemäß § 7 StVG stehe jedoch sowohl die Anordiung des Vollzuges als auch die Entscheidung über den Aufschub desselben dem Einzelrichter (Vorsitzenden) zu und ein Eingriff in die Entscheidungsfreiheit eines unabhängigen Richters durch ein Verwaltungsorgan sei auf der Grundlage der Bundesverfassung ausgeschlossen.
Am 8.Oktober 1978 wurde sodann die Vorführung des Wilhelm A zum Strafvollzug und die Vornahme von Gnadenerhebungen verfügt (Seite 163 d. A).
Rechtliche Beurteilung
Der Beschluß des Einzelrichters vom 4.Oktober 1978
(ON 33 d. A) und die am 8.Oktober 1978 getroffene Verfügung betreffend Vorführung zum Strafvollzug (ON 35 d. A) stehen mit dem Gesetz nicht in Einklang.
Das Gnadenverfahren ist ein Justizverwaltungsverfahren, in welchem das Bundesministerium für Justiz den Gerichten bindende Aufträge erteilen kann, wozu auch der Auftrag zur Hemmung des Strafvollzuges zählt (Foregger-Serini, StPO 1975, S 412 f).
Der Satz 'Gnadengesuche haben keine aufschiebende Wirkung' im § 411 Abs. 2 StPO besagt nur, daß ein Gnadengesuch als solches nicht von vornherein aufschiebende Wirkung hat und das Gericht auf Grund eines Gnadengesuches nicht berechtigt ist, mit der im § 397 StPO ihm zur Pflicht gemachten ungesäumten Vollstreckung des rechtskräftigen Strafurteils zuzuwarten.
Keineswegs ist jedoch damit ausgesprochen, daß im Zuge des Gnadenverfahrens nicht der Auftrag ergehen könnte, mit dem Strafvollzug innezuhalten. Aus dem zweiten Satz des § 411 Abs. 2 StPO ergibt sich, daß für die Mitwirkung der Gerichte am Gnadenverfahren die Bestimmungen der Absätze 3 und 4 gelten, sofern nicht im einzelnen Fall höhere Aufträge ergehen. Ein solcher höherer Auftrag ist eben der, mit dem Strafvollzug vorläufig innezuhalten. Gegenteiliges ergibt sich auch aus den Absätzen 3 und 4 nicht. Der Auftrag, in einer Gnadensache mit dem Strafvollzug bis zur Entscheidung über das Gnadengesuch zuzuwarten, ist nicht nur formell zulässig, sondern auch materiell zweckmäßig und unter Umständen sogar notwendig, um Gnadenmaßnahmen nicht von vornherein illusorisch zu machen. Ohne die Möglichkeit eines solchen Auftrages würde nämlich insofern in das dem Bundespräsidenten eingeräumte Begnadigungsrecht eingegriffen, als eine Begnadigung entweder nur noch in beschränktem Umfang erfolgen könnte oder sogar überhaupt ausgeschlossen würde, wenn die Strafe sofort vollzogen wird. Denn bis zur Erledigung eines Gnadengesuches vergeht selbst bei größtmöglicher Beschleunigung ein erheblicher Zeitraum. Die Zulässigkeit der Erteilung einer bindenden Weisung, mit dem Strafvollzug innezuhalten, ergibt sich daher auch daraus, daß Verfassungsrecht einfaches Bundesrecht bricht, die unbehinderte Ausübung des dem Bundespräsidenten gemäß Art. 65 B-VG zustehenden Begnadigungsgrechtes aber unter Umständen die Erteilung einer bezüglichen Weisung erforderlich macht.
Auch in der Lehre ist die Zulässigkeit eines solchen bindenden Auftrages, den Strafvollzug zu hemmen, anerkannt, in welchem Zusammenhang auf Mayer, Kommentar zu der Österreichischen Strafprozeßordnung, Band IV Seite 566; Amschl, Beiträge zur Anwendung des Strafverfahrens, Band III S 69; Lohsing-Serini, Österreichisches Strafprozeßrecht, Seite 662 und nunmehr auch Roeder, Lehrbuch 1963, Seite 402 Anmerkung 1, sowie auf den Aufsatz von Höpler, Die Stellung des Strafrichters im kommenden Gesetz, ÖRZ 1926, Seiten 101 ff, zu verweisen ist.
Dementsprechend hat sich auch der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit eines bindenden Auftrages, den Strafvollzug zu hemmen, ausgesprochen (siehe die in der von Lissbauer-Suchomel besorgten Ausgabe der Österreichischen Strafprozeßgesetze bei § 411 StPO angeführte Entscheidung vom 8.Februar 1916, Ds VI 9/15, und die Entscheidung vom 30.Jänner 1953, 5 Os 96/53, SSt XXIV/11 = EvBl. 1953/
309 = JBl. 1953 Seite 271).
Aus dem Umstand der übertragung der Anordnung des Strafvollzuges vom Vorsteher des Gerichtes auf den Vorsitzenden (Einzelrichter) des erkennenden Gerichtes (§ 7 Abs. 1 StVG) ist keineswegs auf eine Absicht des Gesetzgebers zu schließen, die Materie aus dem Bereich der Justizverwaltung herauszulösen und in jenen der Gerichtsbarkeit zu überführen, zumal den Bestimmungen des § 397 StPO in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Strafvollzugsgesetz, BGBl. 1969/145, und des § 7 Abs. 1 StVG offensichtlich nur der Gedanke zugrunde liegt, der - wie in der Entscheidung vom 30.Jänner 1953, 5 Os 96/53, ausgeführt - schon bisher geübten und durchaus sinnvollen Praxis der meisten Vorsteher der Gerichte, mit der Anordnung des Strafvollzuges die Vorsitzenden und Einzelrichter zu betrauen, Rechnung zu tragen. Daher bestehen gegen die Annahme der Zulässigkeit der in Rede stehenden Aufträge und deren Verbindlichkeit für die Gerichte auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil der erkennende Richter in dieser Sparte mit Justizverwaltungsaufgaben betraut und insoweit auch anderen Weisungen des Bundesministeriums für Justiz, die sich auf von § 411 Abs. 3 und 4 StPO abweichende Verfahrensschritte beziehen, nachzukommen verpflichtet ist.
Durch das Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes und die funktionelle Einschaltung des erkennenden Richters in den Strafvollzug hat sich somit am Normeninhalt des § 411 StPO nichts geändert, zumal - wie ebenfalls schon in der Entscheidung vom 30. Jänner 1953, 5 Os 96/53, dargelegt wurde - gerade die unbehinderte Ausübung des dem Bundespräsidenten durch die Bundes-Verfassung eingeräumten Begnadigungsrechtes die Erteilung und Befolgung solcher Weisungen weiterhin erforderlich macht. Die Zurückweisung des vom Bundesministerium für Justiz erteilten Auftrages, die Strafe, wenn sie noch nicht angetreten worden war, bis auf weiteres nicht zu vollziehen, und die ungeachtet der vom Bundesministerium für Justiz angeordneten Hemmung des Strafvollzuges getroffene Verfügung betreffend Vorführung des Wilhelm A zum Strafantritt verletzt daher das Gesetz in den Bestimmungen des § 411 Abs. 2 StPO als Ausführungsnorm für Art. 65 Abs. 2 lit. c B-VG, wobei sich die Gesetzesverletzung zum Nachteil des Verurteilten auswirkt.
Es war daher der gemäß § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes Folge zu geben und wie im Spruche zu entscheiden.
Anmerkung
E01540European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1978:0120OS00171.78.1109.000Dokumentnummer
JJT_19781109_OGH0002_0120OS00171_7800000_000