TE OGH 1979/3/14 1Ob528/79

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Veröffentlicht am 14.03.1979
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Norm

Außerstreitgesetz §16
Jugendwohlfahrtsgesetz §9 Abs2
Jugendwohlfahrtsgesetz §26
Staatsvertrag von Wien

Kopf

SZ 52/38

Spruch

Das Wohl eines einer sprachlichen Minderheit angehörenden Kindes, das bisher zweisprachig erzogen wurde, erfordert es, die zweisprachige Erziehung auch nach Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe fortzusetzen

OGH 14. März 1979, 1 Ob 528/79 (LG Klagenfurt 2 R 411/78; BG Eisenkappel P 50/74)

Text

Der Amtsvormund des am 13. Oktober 1974 unehelich geborenen Kurt H beantragte die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe "wegen Gefahr in Verzug", die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes im Kinderheim T und die endgültige Unterbringung in einem SOS-Kinderdorf mit der Begründung, daß die Mutter des Kindes erziehungsunfähig sei und der Minderjährige in den äußerst ungünstigen häuslichen Verhältnissen der Gefahr einer körperlichen und seelischen Verwahrlosung ausgesetzt sei.

Das Erstgericht gab im ersten Rechtsgang dem Antrag auf Gewährung gerichtlicher Erziehungshilfe und vorläufiger Unterbringung im Kinderheim T statt und behielt sich die Entscheidung über den weiteren Antrag vor. Im zweiten Rechtsgang wies es den Antrag, der nach Ansicht des Rekursgerichtes als solcher nach § 26 Abs. 3 JWG zu behandeln war, ab. Im dritten Rechtsgang ordnete es gemäß § 26 Abs. 3 JWG die gerichtliche Erziehungshilfe durch Unterbringung im SOS-Kinderdorf M an.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.

Die Vorinstanzen gingen im wesentlichen davon aus, daß die Mutter in einfachsten Verhältnissen in ihrem Haus in W lebe und sich vorwiegend aus den Erträgnissen ihrer Kleinstlandwirtschaft und aus Zuwendungen des Vaters Albert L in der Höhe von 300 S bis 500 S monatlich erhalte. Im Hause der Mutter wohnten bis Feber 1977 auch noch deren Tochter Franziska H, jun., deren Kind Mario H sowie deren Freund Helmut P, der sich in der Folge bis April 1978 in Strafhaft befand. Gelegentlich hielt sich dort auch der Vater Albert L, der als Trinker und gewalttätiger Mensch gilt, auf. Es kam in Gegenwart der Kinder zu Alkoholexzessen und zu sexuellen Beziehungen zwischen Albert L und der Mutter, aber auch zwischen dem Genannten und Franziska H, jun., sowie zwischen Helmut P und Franziska H, jun. Unter Alkoholeinfluß kam es auch zu Streitigkeiten zwischen L, P, Franziska H, jun., und dem unehelichen Vater des minderjährigen Mario Heinz M. Die Mutter war nicht in der Lage, diese auf das Kind einwirkenden äußeren Einflüsse zu unterbinden.

Der minderjährige Kurt H ist nach den Untersuchungsergebnissen der heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt vom 15. April 1977 ein encephalopathisch aussehendes, ruhiges und ausgeglichenes Kleinkind. Er befindet sich seit dem 1. Juni 1977 im SOS-Kinderdorf M, wo er sich gut eingelebt und eine enge Bindung zu seiner Kinderdorfmutter aufgebaut hat. Seine Sprachentwicklung hat Fortschritte gemacht. Die Mutter des Kindes ist 44 Jahre alt, früh verbraucht, depressiv und nicht in der Lage, dem Kind irgendeine Förderung angedeihen zu lassen und insbesondere seine normale geistige und sittliche Entwicklung sicherzustellen.

Das Erstgericht vertrat die Auffassung, daß die im Hause der Mutter aufgetretenen Mißstände (Alkoholexzesse, tätliche Auseinandersetzungen und geschlechtliche Betätigung der Erwachsenen in Gegenwart von Kindern) einen negativen Einfluß auf das Kind ausübten und die Gefahr seiner sittlichen Verwahrlosung herbeiführten. Wenngleich es in letzter Zeit nicht mehr zu Vorfällen der beschriebenen Art gekommen sei, so bestehe gleichwohl auf Grund der bisherigen Verhaltensweise der Mutter die Gefahr einer Wiederholung derartiger Vorkommnisse, so daß das Kind im Falle seiner Rückführung in den Haushalt der Mutter weiterhin gefährdet sei.

Das Rekursgericht übernahm die Ausführungen des vom Erstgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Prim. Dr. W als schlüssig und unbedenklich. Das Verfahren habe zweifelsfrei ergeben, daß die Mutter - ungeachtet der ihr zuzubilligenden guten Vorsätze - nicht in der Lage sei, das Kind ordentlich zu erziehen, so daß dieses zur Vermeidung eines Erziehungsnotstandes der Obhut anderer Personen anvertraut werden müsse. Das Erstgericht habe auf Grund der Verhältnisse, wie sie im Hause der Mutter vor der Kindesabnahme geherrscht hätten, ohne Rechtsirrtum den Schluß gezogen, daß dem Kind die Gefahr der Verwahrlosung drohe. Der Fortbestand dieser Gefahr wäre nur dann nicht anzunehmen, wenn die Mutter Vorkommnisse, wie sie festgestellt worden seien, künftighin verhindern könnte. Dies sei aber bei Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit der Mutter des Kindes nicht zu erwarten. Die Rückführung des Kindes wäre für dieses - folge man dem Gutachten des Sachverständigen - mit Rückschlägen psychischer Art verbunden.

Über Revisionsrekurs der Mutter hob der Oberste Gerichtshof die Beschlüsse der Vorinstanzen auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung über den Antrag des Amtsvormundes auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe auf.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Die Revisionsrekurswerberin rügt, daß durch die Anordnung der Vorinstanzen eine Erziehung des Kindes in der zweiten Landessprache unterbunden werde, weil im SOS-Kinderdorf M ein Unterricht in der slowenischen Sprache nicht möglich sei.

Da die Bestimmung des § 9 Abs. 2 zweiter Satz JWG (§ 26 JWG verweist ausdrücklich auf § 9 JWG) ausdrücklich verlangt, daß bei der Unterbringung des Minderjährigen in einer fremden Familie oder in einem Jugendheim auf ... die Sprachzugehörigkeit des Minderjährigen Bedacht zu nehmen ist, ferner bei der zutreffenden Entscheidung primär auf das Wohl des Kindes Rücksicht genommen werden muß und die Verletzung des Grundprinzips der Wahrung des Kindeswohls als offenbar gesetzwidrig zu werten ist (1 Ob 249/71 u. a.), kommt diesen Ausführungen der Revisionsrekurswerberin besonderes Gewicht zu.

Nach der Aktenlage gehören die Mutter und der minderjährige Kurt der slowenischen Minderheit in Kärnten an. Die Mutter hat sinngemäß bekundet, daß sich der Minderjährige im Zeitpunkt seiner Einweisung in das SOS-Kinderdorf sowohl in der slowenischen wie auch in der deutschen Sprache verständlichmachen konnte.

Es liegt zweifellos im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung eines in Kärnten lebenden, bisher zweisprachig (Slowenisch-Deutsch) erzogenen vorschulpflichtigen Kindes, daß ihm die Möglichkeit gewahrt bleibt, sich in beiden in diesem Bundesland gesprochenen Sprachen fortzubilden. Nur so kommt es in die Lage, nach Erlangung der Schulreife die den österreichischen Staatsangehörigen der slowenischen Minderheit in Kärnten eingeräumten Rechte (vgl. Art. 7 Z. 1 und 2 des Staatsvertrages, BGBl. 152/1955, Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten, BGBl. 101/1959) auch ausüben zu können. Gleichviel, ob die Unterbringung des Kindes in einem Jugendheim oder in einer fremden Familie angeordnet würde, in jedem Fall müßte im Interesse des Kindes der Gefahr einer Verlernung (Entwöhnung) seiner Muttersprache vorgebeugt werden.

Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob auf diesen, für die Wahl der anzuordnenden Erziehungsmaßnahme entscheidenden Umstand Bedacht genommen wurde und die zweisprachige Erziehung des Minderjährigen in seiner derzeitigen Lebenslage sichergestellt ist. Damit ließen aber die Vorinstanzen das Wohl des Kindes in einer wesentlichen Frage unerwogen; insoweit ist ihre Entscheidung offenbar gesetzwidrig (EFSlg. 28 456, 30 555 u. a.).

Da mit der Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe gleichzeitig auch die zu treffende Maßnahme auszusprechen ist (EvBl. 1961/65), die gerichtliche Erziehungshilfe also durch die konkret bezeichnete Maßnahme erfolgt (RZ 1976/93), mußten die Beschlüsse der Vorinstanzen in ihrer Gesamtheit (und nicht etwa nur hinsichtlich der gewählten Erziehungsmaßnahme) aufgehoben werden. In dem ergänzenden Verfahren wird zu klären sein, welche Erziehungsmaßnahme geeignet ist, das Wohl des Kindes auch im Sinne dessen künftiger zweisprachiger Erziehung sicherzustellen.

Anmerkung

Z52038

Schlagworte

sprachliche Minderheiten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1979:0010OB00528.79.0314.000

Dokumentnummer

JJT_19790314_OGH0002_0010OB00528_7900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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