Norm
Amtshaftungsgesetz §9Kopf
SZ 52/153
Spruch
Aus Art. 5 Abs. 5 MRK abgeleitete, über das Strafrechtliche Entschädigungsgesetz hinausgehende Haftentschädigungsansprüche sind mittels Amtshaftungsklage geltend zu machen
Eine Parteienvereinbarung, daß die Sache von dem Einzelrichter entschieden werde, ist im Amtshaftungsverfahren unzulässig
OGH 30. Oktober 1979, 1 Ob 30/79 (OLG Innsbruck 2 R 167/79; LG Feldkirch 3 Cg 864/79)
Text
Mit rechtskräftigem Beschluß des Landesgerichtes Feldkirch vom 9. November 1977, 18 Vr 1471/73-123, wurde festgestellt, daß dem Kläger für die durch die Anhaltung vom 29. September 1973, 9 Uhr, bis 24. März 1974, 9 Uhr, und vom 10. Oktober 1974, 1.45 Uhr, bis 20. Dezember 1974, 24 Uhr (Verwahrungs- bzw. Untersuchungshaft), sowie vom 21. Dezember 1974 bis 5. August 1977 (Strafhaft) und für die Verurteilung durch das Geschwornengericht am Sitze des Landesgerichtes Feldkirch vom 10. Oktober 1974, GZ Vr 1472/73, entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile gegen den Bund ein Ersatzanspruch zusteht, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Der Kläger hielt sich am Abend des 28. September 1973 gemeinsam mit Richard P und Leopold M im Gasthaus "A" in F auf, wo sie miteinander zechten. Der stark alkoholisierte Leopold M prahlte vor seinen beiden Zechgenossen mit einem Bargeldbetrag von etwa 10 000 S, den er in der Tasche mit sich führte. Um etwa Mitternacht verließen alle drei gemeinsam das Gasthaus. Kurz darauf hörte der Wirt Hilferufe und fand Leopold M schwerverletzt liegend. Leopold M bezeichnete den Kläger und Richard P als jene, die ihn niedergeschlagen und seiner Barschaft beraubt hätten. Während der Verdächtige Richard P nach der Tat flüchtig war, konnte der Kläger am 29. September 1973 um etwa 9 Uhr in Verwahrungshaft genommen werden. Er bestritt seine Täterschaft und gab an, am Vorabend so viel getrunken zu haben, daß er sich an nichts mehr erinnern könne.
Am 4. Oktober 1973 wurde über den Kläger die obligatorische Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs. 7 StPO verhängt und dieser Beschluß mit der örtlichen Ungebundenheit des Klägers, dem Fehlen familiärer Bindungen, seinen privaten Arbeitsplätzen und starkem Hang zum Alkohol begrundet. Am 29. März 1974 wurde der Kläger auf Grund des damaligen Standes der Untersuchung, insbesondere der Aussage des Mitbeschuldigten Richard P, der eine Mittäterschaft des Klägers ausschloß, gegen Gelöbnisleistung nach § 191 StPO enthaftet. Am 8. Oktober 1974 änderte aber Richard P seine Aussage dahin ab, daß auch der Kläger an diesem Raubüberfall beteiligt, ja sogar der Anstifter hiezu gewesen sei. Daraufhin wurde der Kläger am 10. Oktober 1974 neuerlich verhaftet und vor das am selben Tag stattfindende Geschwornengericht am Sitze des Landesgerichtes Feldkirch gestellt. Die Geschwornen bejahten einstimmig die an sie gerichtete Hauptfrage, ob der Kläger und Richard P im Sinne der Anklage schuldig seien, und verneinten einstimmig die Zusatzfrage, ob der Kläger die Tat in voller, Berauschung begangen habe. Sowohl der Kläger als auch Richard P wurden wegen Verbrechens des Raubes nach den §§ 190 ff. StGB zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt. Die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Klägers an den OGH hatten keinen Erfolg. Der Kläger wurde in Strafhaft genommen und in die Strafvollzugsanstalt Garsten überstellt.
Die in den Jahren 1975 und 1976 gestellten Anträge des Klägers auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens blieben vorerst erfolglos. Mit Beschluß des Landesgerichtes Feldkirch vom 1. Juli 1977 wurde die Wiederaufnahme des Strafverfahrens bezüglich des Klägers für statthaft erklärt und das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 10. Oktober 1974 aufgehoben. Einer dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Feldkirch wurde vom Oberlandesgericht Innsbruck keine Folge gegeben. Daraufhin wurde der Kläger am 5. August 1977 auf freien Fuß gesetzt und das Verfahren schließlich auf Grund einer entsprechenden Erklärung der Staatsanwaltschaft Feldkirch vom Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Feldkirch mit Beschluß vom 26. August 1977 gemäß § 109 Abs. 1 StPO eingestellt.
Der Kläger forderte die beklagte Partei, die Republik Österreich, mit Schreiben vom 9. März 1978 zur Anerkennung eines Entschädigungsbetrages nach Art. 1 StEG und Art. 5 MRK in folgender Höhe auf: Verdienstentgang S 690 000,-; Verteidigerkosten S 40 540.50; Ersatzanspruch für die durch die Anhaltung erlittene körperliche und seelische Unbill S 150 000,-.
Die beklagte Partei erkannte dem Kläger aus dem Titel des Verdienstentganges und der Verteidigerkosten S 637 381.74 zu, ersetzte ihm aber den für körperliche und seelische Unbill begehrten Betrag von 150 000 S nicht.
Der Kläger begehrt Zahlung dieses Betrages und stützt seine Ansprüche ausdrücklich auf Art. 5 Abs. 5 MRK, wobei er auf die Entscheidung SZ 48/69 verwies; er brachte vor, daß die Haftung denjenigen Rechtsträger treffe, dessen Organe Art. 5 MRK in Vollziehung der Gesetze verletzten. Die beklagte Partei beantragte Abweisung der Klage. Die Streitteile verzichteten vor Eingehung in die Streitverhandlung auf Senatsbesetzung.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren - in der Besetzung durch einen Einzelrichter - statt.
Das Berufungsgericht hob das angefochtene Urteil und das diesem vorangegangene Verfahren ab und einschließlich der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 23. April 1979 unter Rechtskraftvorbehalt auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Verhandlung und Entscheidung in Senatsbesatzung gemäß § 9 Abs. 3 AHG auf.
Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß die vom Kläger ausdrücklich herangezogene Bestimmung des Art. 5 Abs. 5 MRK jedermann, dem seine Freiheit zufolge Festnahme oder Haft durch einen Träger der öffentlichen Gewalt entzogen wurde, selbständige, unmittelbare, in Österreich ohne weiteres Ausführungsgesetz unter Anwendung der Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes geltend zu machende Schadenersatzansprüche gegen jenen Rechtsträger gewähre, dessen Organe Art. 5 MRK in Vollziehung der Gesetze verletzten; Art. 5 Abs. 5 MRK erweitere die österreichischen Amtshaftungsbestimmungen. Haftentschädigungsansprüche, die - wie der gegenständliche - dem Gründe oder dem Umfange nach nicht unter das StEG fielen, unterlagen zur Gänze dem Amtshaftungsgesetz. Der Schriftwechsel des Klägers mit der Finanzprokuratur habe den Erfordernissen eines Aufforderungsverfahrens nach § 8 AHG genügt. Da das Amtshaftungsverfahren anzuwenden sei, erweise sich die vor Eingehung in die mündliche Streitverhandlung getroffene Vereinbarung der Streitteile, auf Senatsbesetzung zu verzichten, als unwirksam. Eine solche Vereinbarung sei zwar nach § 8 Abs. 2 StEG, der auf § 7a JN verweise, nicht aber nach dem AHG zulässig, dessen § 9 Abs. 3 ausdrücklich anordne, daß die Gerichtsbarkeit in Amtshaftungssachen ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes durch Senate ausgeübt werde. Eine Einigung auf den Einzelrichter komme in Amtshaftungssachen nicht in Frage. Damit leide jedoch die vom Einzelrichter gefällte Entscheidung an einer aus Anlaß der Berufung von Amts wegen wahrzunehmenden Nichtigkeit im Sinne des § 477 Abs. 1 Z. 2 ZPO.
Der Oberste Gerichtshof erachtete den gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes erhobenen Rekurs des Klägers als zulässig, gab ihm jedoch nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist nicht nach § 519 Z. 2 ZPO zu beurteilen, weil das Berufungsgericht wohl die Nichtigkeit des erstrichterlichen Beschlusses, nicht aber die Zurückweisung der Klage durch Beschluß ausgesprochen hat, sondern nach § 519 Z. 3 ZPO. Die Anbringung eines Rechtskraftvorbehaltes nach dieser Gesetzesstelle ist auch dann zulässig und wirksam, wenn die Aufhebung des Urteiles wegen eines Nichtigkeitsgrundes erfolgt (Fasching IV, 411 und 413; Arb. 7164; Neumann, Kommentar zur ZPO[4], 1388; RZ 1965, 161 u. v. a.; zuletzt 4 Ob 584, 585/78).
Das Berufungsgericht hat unter Bezugnahme auf die über eine Amtshaftungsklage ergangene Entscheidung des OGH SZ 48/69 und das Schrifttum (Binder, Der Haftentschädigungsanspruch - Entschädigung durch Amtshaftung? ZfV 1977, 124 ff.) zutreffend erkannt, daß über Haftentschädigungsansprüche, die über den Ersatzanspruch nach dem StEG hinausgehen (vgl. § 11 Abs. 1 StEG) und sich unmittelbar auf die Bestimmung des Art. 5 Abs. 5 MRK grunden, nur unter Anwendung der Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes, also auch unter Beachtung der dort normierten Verfahrensvorschriften, erkannt werden kann. Davon geht auch der Rekurswerber aus, meint aber, daß die Bestimmung des § 7a Abs. 4 JN auch in Amtshaftungssachen angewendet werden könne und demnach die Anordnung des § 9 Abs. 3 AHG, daß die Gerichtsbarkeit in Amtshaftungssachen ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes durch Senate durchgeführt werde, einer (ausdrücklichen) Einigung der Parteien auf den Einzelrichter nicht entgegenstehe. Die vom Berufungsgericht für die gegenteilige Ansicht angeführten Belegstellen aus dem Schrifttum seien nicht überzeugend. Die Anordnung des Amtshaftungsgesetzes, wonach der Streitwert für die Senatsbesetzung nicht entscheidend sei, stehe einer Anwendung des § 7a Abs. 4 JN (Einigung auf den Einzelrichter) nicht entgegen.
Dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden. Die Entscheidung über die Gerichtsbesetzung unterliegt grundsätzlich nicht der Parteiendisposition. Hievon macht § 7a Abs. 4 JN im Interesse der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens insofern eine Ausnahme, als die Parteien auch in Rechtsstreitigkeiten, deren Streitgegenstand an Geld oder Geldeswert den Betrag von 300 000 S übersteigt, ausdrücklich vereinbaren können, daß die Sache vor dem Einzelrichter entschieden werde und daß unter bestimmten Voraussetzungen das Vorliegen einer derartigen Vereinbarung fingiert wird.
Diese Bestimmung ist im Zusammenhang mit der Anordnung des § 7a Abs. 1 JN zu sehen, wonach in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, die vor die Gerichtshöfe erster Instanz gehören, der Einzelrichter entscheidet, wenn der Streitgegenstand an Geld oder Geldeswert den Betrag von 300 000 S nicht übersteigt. Den Parteien wird durch § 7a anheimgestellt, sich auch bei einem die Grenze des § 7a Abs. 1 JN übersteigenden Streitwert dem Einzelrichter zu unterwerfen und damit auf die mit der Senatsbesetzung verbundene erhöhte Rechtssicherheit zu verzichten.
In Amtshaftungssachen ist aber die Höhe des Streitwertes kein Kriterium für die Gerichtsbesetzung. Die Gerichtsbarkeit wird dort vielmehr ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes durch Senate ausgeübt (§ 9 Abs. 3 AHG). Es war die Absicht des Gesetzgebers, den Einzelrichter ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes von jeder Entscheidung in Amtshaftungssachen auszuschließen. Dies geht deutlich aus dem Bericht und Antrag des Ausschusses für Verwaltungsreform (515 BlgNR, 5. GP, 4; abgedruckt auch bei Loebenstein - Kaniak, Komm z. AHG, 162 ff., insbesondere
166) hervor, wonach die Bestimmung des § 9 Abs. 3 AHG "mit Rücksicht auf die Gewichtigkeit und Schwierigkeit der Rechtssachen ohne Rücksicht auf den Streitwert in Senaten zu verhandeln" ist. Die stenographischen Protokolle über die Bundesratsitzung vom 4. März 1948 (Loebenstein - Kaniak a. a. O., 199) verdeutlichen diese Absicht; der Abgeordnete Dr. Fleischhacker verwies in seinem Referat über das in Beratung stehende AHG darauf, daß durch die ausschließliche Ausübung der Gerichtsbarkeit in Senaten zweifellos eine erhöhte Rechtssicherheit gewährleistet sei. Es kann daher nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber, der die gesamte Gerichtsbarkeit in Amtshaftungssachen ohne Rücksicht auf den Streitwert Senaten übertrug, den Parteien die Möglichkeit offenhalten wollte, sich auf die Entscheidung durch den Einzelrichter zu einigen. Als historisches Argument gegen eine derartige Annahme sei schließlich noch bemerkt, daß der Entwurf des Bundeskanzleramtes vom Jahre 1929 zu einem Amtshaftungsgesetz (abgedruckt bei Loebenstein - Kaniak a. a. O., 149 ff.), dem Vorbilde des damals geltenden Syndikatsgesetzes vom 12. Juli 1872, RGBl. 112, bzw. der Bestimmung des § 600 ZPO folgend als erste Instanz für die Entscheidung in Amtshaftungssachen die Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes vorsah. Da bei den Oberlandesgerichten die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen in aller Regel in Senaten von drei Richtern ausgeübt wird (§ 8 Abs. 1 JN), setzte auch dieser Entwurf stillschweigend voraus, daß in Amtshaftungssachen ausschließlich Senate entscheiden. Die schon durch die erste Gerichtsentlastungsnovelle vom 1. Juni 1914, RGBl. 118/1914, eingeführte Bestimmung des § 7a JN sah nämlich eine vom Streitwert abhängige Abgrenzung zwischen Einzelrichter und Senat nur in solchen Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche vor, die vor die Gerichtshöfe erster Instanz gehören.
Daß der Einzelrichter in Amtshaftungssachen stets ausgeschlossen ist, entspricht auch der Ansicht des Schrifttums. Nach Fasching (I, 178) ist der Einzelrichter in Amtshaftungsstreitigkeiten niemals zur Entscheidung berufen. Loebenstein - Kaniak (a. a. O., 108 FN 2) schon in der Anordnung des § 9 Abs. 3 AHG eine Ausnahme von der Bestimmung des § 7a JN. Das Berufungsgericht ist daher zum zutreffenden Ergebnis gelangt, daß in Amtshaftungssachen § 7a Abs. 4 JN nicht anzuwenden und daher eine ausdrückliche Einigung auf den Einzelrichter nicht zulässig ist.
Der damit vorliegende Mangel in der Besetzung des Gerichtes (Einzelrichter statt Senat) bildet eine in jeder Lage des Verfahrens wahrzunehmende Nichtigkeit (JBl. 1966, 430; ÖBl. 1973, 95), die das Berufungsgericht zutreffend aufgegriffen hat.
Anmerkung
Z52153Schlagworte
Amtshaftungsverfahren, kein Parteieneinigung auf Einzelrichter, Haftentschädigungsansprüche, GeltendmachungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1979:0010OB00030.79.1030.000Dokumentnummer
JJT_19791030_OGH0002_0010OB00030_7900000_000