Norm
ABGB §476 Z11Kopf
SZ 53/149
Spruch
Zweck einer Aussichtsdienstbarkeit ist regelmäßig die Erhaltung einer sich aus einer bestimmten örtlichen Lage ergebenden Wohnqualität für das berechtigte Gebäude oder nach den Umständen die Erhaltung des Gesamtpanoramas. Ungehinderte Sicht auf einzelne Bauwerke ist nur dann zu gewähren, wenn sich dies auf Grund ihrer Bedeutung zum Zeitpunkt der Einräumung der Dienstbarkeit oder einer besonderen Vereinbarung ergibt
OGH 12. November 1980, 1 Ob 672/80 (LG Feldkirch R 170/80; BG Bezau C 556/79)
Text
Der Kläger ist zu 31/32 Eigentümer der Liegenschaft EZ 1490 KG E mit dem Grundstück 676 Wohnhaus Nr. 499 mit Holzlage und Hofräumen. Die restlichen 1/32-Anteile stehen im Eigentum seines Sohnes Josef Guntram H. Der Kläger war auf Grund des Kaufvertrages vom 2. März 1959 zunächst zu 2/3 Miteigentümer der Liegenschaft EZ 1490 KG E geworden; die weiteren Miteigentumsanteile waren nach dem Tod seiner Gattin auf Grund der Einantwortungsurkunde vom 12. September 1967 einverleibt worden. Durch eine Gemeindestraße (Grundstück 10567/4) getrennt liegt südöstlich davon das Grundstück 3/2 der EZ 652 KG E, das die beklagte Partei auf Grund des Kaufvertrages vom 12. Oktober 1962 erwarb. Anton und Maria Anna G, Voreigentümer der beiden Grundstücke, vereinbarten mit Vertrag vom 4. Dezember 1898 u. a., daß Anton G als Eigentümer des Grundstückes 3/2 den Platz vor dem Haus Nr. 499 Grundstück 3/2 in keiner Weise so verbauen oder verwenden dürfe, daß dadurch die Aussicht für dieses Haus gestört würde, wogegen sich Maria Anna G als Eigentümerin des Grundstückes 676 ihrerseits verpflichtete, den ihrem Haus Nr. 499 zugeteilten Grund - von einem kleinen Gartenhaus abgesehen - sonst nie durch ein Haus oder ein sonstiges Gebäude zu verbauen. Auf Grund dieses Vertrages ist das Grundstück 3/2 grundbücherlich mit der Dienstbarkeit des Bauverbotes sowie des Verbotes jeglicher Verwendungsart, wodurch die Aussicht gestört würde, zugunsten des Grundstückes 676 belastet.
Der Kläger begehrt, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, die auf dem Grundstück 3/2 befindlichen Sträucher und Bäume zu entfernen und in Zukunft alle Handlungen zu unterlassen, durch die der Kläger in der Ausübung seines Dienstbarkeitsrechtes der freien Aussicht gestört werde. Die beklagte Partei habe vor einiger Zeit auf dem Grundstück 3/2 Bäume gepflanzt, die eine Höhe bis zu etwa 4 m erreichten. Auf dem Grundstück befänden sich verschiedene Sträucher, die ebenfalls mindestens 4 m hoch seien. Bäume und Sträucher behinderten die Aussicht von der Liegenschaft des Klägers aus. Die angepflanzten Kastanienbäume würden eine Höhe bis zu 15 m erreichen, sodaß noch eine weitaus schwererwiegende Beeinträchtigung der Aussicht des Klägers zu erwarten sei. Bei Abschluß der Vereinbarung im Jahre 1898 und bei Liegenschaftserwerb durch den Kläger hätten sich auf dem Grundstück 3/2 keine Bäume befunden. Die beklagte Partei habe zum größten Teil diese Bäume erst vor einem Jahr gepflanzt. Der Kläger habe mit Schreiben vom 9. Mai 1979 die beklagte Partei aufgefordert, die Bäume und Sträucher zu entfernen. Dieses Schreiben sei von der beklagten Partei nicht beantwortet worden, sie habe vielmehr am 14. Mai 1979 zwei weitere Bäume gepflanzt.
Die beklagte Partei wendete ein, der Kläger sei als Miteigentümer nicht aktiv klagslegitimiert. Auf dem Grundstück 3/2 seien seit jeher entlang des Baches Sträucher und Büsche und an der Grenze zur Gemeindestraße Grundstück 10567/4 mindestens vier Bäume gestanden. Diese Bäume seien vor zirka 20 Jahren aus Altersgrunden entfernt worden. Vor zirka vier Jahren seien dort fünf junge Bäume mit einer Höhe von 2.5 m gepflanzt worden. Aus Anlaß der Kanalisierung hätten vier dieser nunmehr schon drei Meter hohen Bäume wieder entfernt werden müssen, sie seien aber durch zwei Meter hohe Bäume ersetzt worden. Durch die Sträucher und Bäume werde die Aussicht des Klägers nicht gestört. Dem Kläger mangle es daher am Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger habe weder gegen das Pflanzen der Bäume noch gegen die auf dem Grundstück wachsenden Sträucher Einwendungen erhoben, sodaß gemäß § 1488 ABGB sein allfälliges Recht verjährt sei. Die Klage auf Entfernung von Bäumen und Sträuchern sei auch schon deshalb verfehlt, da die Dienstbarkeit kein Bestockungsverbot umfasse. Die beklagte Partei treffe keine Verpflichtung zu einer Leistung, sie sei daher auch nicht verpflichtet gewesen, die nachgewachsenen Sträucher, Büsche und Bäume zu entfernen. Eine solche Entfernung wäre auch nur nach den Bestimmungen des Vorarlberger Landschaftsschutzgesetzes möglich, die hiefür erforderliche Genehmigung würde nicht erteilt werden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Ob im Jahre 1898 das Grundstück 3/2 mit Bäumen und Sträuchern bewachsen gewesen sei, sei ungeklärt geblieben. Im Jahre 1937 seien auf dem Grundstück zirka vier Meter hohe Bäume gestanden. Auf der Böschung zum S-Bach hätten sich wild gewachsene Bäume und Sträucher befunden. Die vier Bäume seien zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt entfernt worden. Die Gewächse auf der Böschung zum Bach hin seien zwar gelegentlich ausgeholzt worden, im wesentlichen sei ihr Bestand aber unverändert geblieben. Heute ragten sie sechs bis sieben Meter über das Niveau des Grundstückes 3/2 hinaus. Im Jahre 1966 habe die beklagte Partei im Nordosten des Grundstückes 3/2 gegenüber dem Grundstück des Klägers drei zirka 2.5 m hohe Kastanienbäume gesetzt. Davon sei heute nur mehr der in der Nordostecke befindliche vier Meter hohe Baum vorhanden. Die beiden anderen Bäume seien im Herbst 1978 im Zuge von Kanalisationsarbeiten entfernt und im Frühjahr 1979 durch drei neue damals 2.5 m, heute 3.5 m hohe Kastanienbäume ersetzt worden. Gleichzeitig sei im Nordwesten bei der Brücke über dem Bach ein weiterer, heute ebenfalls 3.5 m hoher Kastanienbaum gepflanzt worden. Durch die wild gewachsenen Bäume und Sträucher auf der Bachböschung werde teilweise die Sicht auf die Einmundung der Gemeindestraße in die Bregenzerwald Bundesstraße und auf die Hinterfront des Postamtes genommen. Durch den Kastanienbaum in der Nordostecke werde teilweise die Sicht auf das Gasthaus T verdeckt.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß dem Wortlaut des Vertrages vom 4. Dezember 1898 nicht entnommen werden könne, ob die Dienstbarkeit auch das Verbot der Anpflanzung von Bäumen und Sträuchern beinhalte. Gemäß § 914 ABGB sei daher die Dienstbarkeitsvereinbarung so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspreche. Da die Aussicht für ein Haus durch die Anpflanzung von Bäumen und Sträuchern sowohl positiv als auch negativ beeinflußt werden könne, lasse sich auch nach den Regeln des redlichen Verkehrs nicht zwingend eine Auslegung des Dienstbarkeitsvertrages dahin ableiten, daß das Pflanzen von Bäumen und Sträuchern auf dem Grundstück 3/2 verboten sei.
Über Berufung des Klägers bestätigte das Berufungsgericht dieses Urteil. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes 60 000 S übersteige. Es führte aus, zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Grundstückes 676 sei die verneinende Hausservitut des § 476 Z. 11 ABGB vereinbart und verbüchert worden. Dem Kläger stehe daher das Recht zu, daß dem herrschenden Gebäude durch die im Eigentum der beklagten Partei stehende Liegenschaft die Aussicht nicht genommen werde. Es liege eine ungemessene Dienstbarkeit vor, bei deren Auslegung ihr Zweck und das jeweilige Bedürfnis maßgebend seien. § 484 ABGB ordne an, daß Dienstbarkeiten soweit als möglich eingeschränkt werden sollen. Der Dienstbarkeitsberechtigte müsse sich alle Maßnahmen des verpflichteten Eigentümers gefallen lassen, die die Ausübung der Dienstbarkeit nicht ernstlich erschwerten oder gefährdeten. Die Grenze des Ausmaßes der Dienstbarkeit werde durch den ursprünglichen Bestand und die ursprüngliche Bewirtschaftungsart bestimmt. Es stehe zwar nicht fest, ob und inwieweit das dienende Grundstück bei Abschluß des Dienstbarkeitsvertrages mit Bäumen und Sträuchern bewachsen gewesen sei, es seien aber schon vor mehr als 40 Jahren auf der dienenden Liegenschaft vier jeweils vier Meter hohe Bäume und auf der Böschung zum Bach noch weitere Bäume und Sträucher vorhanden gewesen. In der Folge sei, über längere Zeiträume gesehen, keine wesentliche Veränderung des Bestandes dieser Bäume und Sträucher eingetreten. Wohl sei objektiv gesehen eine Sichtbehinderung durch Bäume und Sträucher gegeben. Diese Situation habe sich aber über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten höchstens geringfügig, nicht jedoch prinzipiell geändert. Bis vor kurzer Zeit habe der Kläger die Anpflanzung und den Bestand von Bäumen und Sträuchern nicht beanstandet. Die beklagte Partei habe daher nach Treu und Glauben und den Grundsätzen des redlichen Verkehrs nicht damit rechnen müssen, daß der Kläger nach derart langen Zeiträumen ein Zuwiderhandeln der beklagten Partei gegen sein allerdings gemäß § 1488 ABGB nicht verjährtes Dienstbarkeitsrecht geltend machen werde. Die Bekämpfung des zur Zeit gegebenen Bestandes an Bäumen und Sträuchern habe der Kläger demnach verwirkt. Dazu komme, daß eine ernstliche Beeinträchtigung von achtenswerten Interessen des Klägers durch die auf dem Grundstück der Beklagten stehenden Bäume und Sträucher nicht bejaht werden könne.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Kläger nimmt als Miteigentümer der herrschenden Liegenschaft EZ 1490 KG E mittels einer Servitutenklage die beklagte Partei als Alleineigentümerin des dienenden Grundstückes in Anspruch. Er begehrt die Beseitigung der Beeinträchtigung und die Unterlassung künftiger Störungen. Wenn es nicht um die Feststellung und Verbücherung von Dienstbarkeiten, sondern um die Abwehr von Eingriffen in ein bestehendes Recht geht, ist, ähnlich wie bei der Eigentumsfreiheitsklage (JBl. 1951, 291; SZ 15/48; Klang[2] II, 602), jeder Miteigentümer zur Klage befugt (EvBl. 1974/275; Klang a. a. O., 601).
Zugunsten der Eigentümer des Grundstückes 676 KG E ist die verneinende Hausservitut nach § 476 Z. 11 ABGB eingeräumt und auch einverleibt worden. Die im § 476 Z. 10 und 11 ABGB aufgezählten verneinenden Hausservituten werden zusammengefaßt auch als "Fensterrecht" bezeichnet (Ehrenzweig[2] I/2, 324; Klang a. a. O., 569). Das Fensterrecht geht auf die schon im römischen Recht bekannte Doppelfunktion eines Fensters als bloße Lichtöffnung und als Aussichtsanlage zurück (Kahn, Fensterrecht, 5, 15). Während die im § 476 Z. 10 ABGB genannte Dienstbarkeit das Bauen und Pflanzen auf dem dienenden Grundstück nur insoferne verbietet, als dadurch aus den ungeöffneten Fenstern des untersten Stockwerkes des auf dem herrschenden Grundstück befindlichen Hauses der Anblick des Himmels geschmälert wird (Ehrenzweig a. a. O., 325; Endemann, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts[8] II, 466, FN 22), ist das Aussichtsrecht inhaltlich weitergehend: Auf dem dienenden Grundstück darf nichts unternommen werden, wodurch den Fenstern eines Wohnraumes des berechtigten Gebäudes oder einem davor liegenden Balkon (einer Terrasse) die freie Aussicht ganz oder teilweise entzogen würde (Ehrenzweig a. a. O.; Kahn a. a. O., 44, 129). Das Aussichtsrecht, auf das sich der Kläger berufen kann, geht unmißverständlich über ein bloßes Verbot der Verbauung hinaus (anders der der Entscheidung SZ 26/183 zugrunde liegende Sachverhalt).
Die Revision führt zutreffend aus, daß ein allfälliger Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch des Klägers nicht verwirkt wäre. Dem österreichischen Recht ist ein Institut der Verwirkung eines Anspruches durch bloße Nichtgeltendmachung fremd (SZ 49/127; SZ 39/210; MietSlg. 30 110; 1 Ob 504/80; Kramer, Verwirkung und Anspruchsverlust durch stillschweigenden Verzicht in JBl. 1962, 540 ff., insbesondere 555; Koziol - Welser[5] I, 156). Rechtsverlust vor Ablauf der Verjährungszeit tritt grundsätzlich nur dann ein, wenn der Berechtigte ausdrücklich oder schlüssig auf das ihm zustehende Recht verzichtet hat. Ein solcher Verzicht ist von der beklagten Partei nicht behauptet worden.
Selbst auf Grund der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen kann aber noch nicht davon gesprochen werden, daß die beklagte Partei die Dienstbarkeit des Klägers beeinträchtigt hätte. Das Ausmaß der Dienstbarkeit und der Umfang der dem Berechtigten zustehenden Befugnisse richtet sich nach dem Inhalt des Titels, bei dessen Auslegung insbesondere Natur und Zweck der Dienstbarkeit zur Zeit ihrer Einräumung zu beachten sind (MietSlg. 29.055; 7 Ob 603/79; 8 Ob 508/80; Klang a. a. O., 564). Die Art der Ausübung ist zwar nach § 484 ABGB in das Belieben des Berechtigten gestellt, Dienstbarkeiten müssen aber, soweit es ihre Natur und der Zweck der Bestellung gestatten, eingeschränkt werden. Dieser scheinbare Widerspruch findet darin seine Lösung, daß die Interessen des Berechtigten und die des Belasteten zueinander in ein billiges Verhältnis zu setzen sind (EvBl. 1966/277; 8 Ob 508/80; Klang a. a. O., 564). Zweck einer Aussichtsdienstbarkeit ist regelmäßig die Erhaltung einer sich aus einer bestimmten örtlichen Lage ergebenden Wohnqualität für das berechtigte Gebäude oder nach den besonderen Umständen die Erhaltung des Gesamtpanoramas. Auf Grund der Natur und des besonderen Zweckes der Dienstbarkeit zur Zeit ihrer Einräumung könnte sich ergeben, daß völlig ungehinderte Sicht auch auf einzelne Bauwerke, sei es wegen ihrer objektiven Bedeutung (kulturell bedeutende Häuser, Denkmäler und ähnliches), sei es auf Grund besonderer Vereinbarung bei Abschluß des Dienstbarkeitsvertrages gewährt bleiben muß. Solche Umstände wurden im vorliegenden Fall aber nicht behauptet. Unter Berücksichtigung der in ein billiges Verhältnis zu setzenden Interessen der Parteien kann dann aber derzeit noch keine Beeinträchtigung des Zweckes der Dienstbarkeit und damit ein Zuwiderhandeln der beklagten Partei angenommen werden. Die Bäume und Sträucher behindern den Sonneneinfall auf das Grundstück des Klägers nicht. Das Gesamtpanorama wird, da sich auch hinter dem belasteten Grundstück Bäume befinden, durch die auf dem belasteten Grundstück befindlichen Bäume und Sträucher nicht in Interessen des Klägers erkennbar verletzender Weise gestört. Beeinträchtigt ist nur die Sicht auf eine Straßeneinmundung, die Rückseite des Postamtes und ein Gasthaus, Gebäude und Anlagen, von denen nicht einmal feststeht, daß sie zum Zeitpunkt der Errichtung des Dienstbarkeitsvertrages schon bestanden. Der mit einer Aussichtsdienstbarkeit allgemein verbundene Zweck wird allein dadurch noch nicht in schützenswerter Weise beeinträchtigt. Da eine Verletzung der Rechte des Klägers nicht erwiesen ist und auch keine Anhaltspunkte bestehen, daß eine solche Absicht besteht, ist auch das Unterlassungsbegehren des Klägers nicht berechtigt.
Anmerkung
Z53149Schlagworte
Aussichtsdienstbarkeit als Mittel zur Erhaltung einer bestimmten, Wohnqualität, Dienstbarkeit der Aussicht als Mittel zur Erhaltung einer bestimmten, WohnqualitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1980:0010OB00672.8.1112.000Dokumentnummer
JJT_19801112_OGH0002_0010OB00672_8000000_000