Norm
AktG §15 Abs2Kopf
SZ 54/94
Spruch
Ob eine Muttergesellschaft als Hauptaktionärin einer Tochtergesellschaft für Schulden der Tochtergesellschaft haftet (Durchgriffshaftung), richtet sich nach dem Personalstatut der Tochtergesellschaft
OGH 17. Juni 1981, 1 Ob 541/81 (OLG Wien 17 R 166/80; LGZ Wien 25 Cg 703/79)
Text
Die klagende Partei war Kasko- und Haftpflichtversicherer des im Eigentum des Helmut K stehenden Omnibusses Mercedes O 302 mit dem Kennzeichen W 770.660. Auf diesem Omnibus waren am 21. Juli 1976 Reifen montiert, die von der Firma The G Tyre and Rubber Co. Limited mit dem Sitz in Großbritannien hergestellt und in Österreich von der Firma G GesmbH vertrieben wurden. Die Firma The G Tyre & Rubber Co. Limited ist eine nach englischem Gesellschaftsrecht errichtete Public Company. Von Aktien im Nennwert von 40 526 000 Pfund hält die beklagte Partei als deren US-Muttergesellschaft 40 525 991 Pfund; die restlichen neun Aktien befinden sich in Händen anderer Gesellschafter. Am 21. Juli 1976 ereignete sich auf der Autobahn Zagreb-Beograd ein schwerer Verkehrsunfall: Am linken Vorderreifen des Omnibusses löste sich während der Fahrt das Profil, der Omnibus geriet auf die linke Fahrbahnhälfte und stieß mit einem entgegenkommenden PKW zusammen, wodurch fünf Personen getötet wurden. Die klagende Partei erbrachte aus Anlaß dieses Unfalles sowohl als Kasko- als auch als Haftpflichtversicherer Zahlungen.
Auf Grund der auf sie durch diese Zahlungen übergegangenen Ansprüche begehrt sie von der beklagten Partei die Bezahlung von 656 858.50 S samt Anhang, DM 68 230.22 samt Anhang sowie die Feststellung, daß die beklagte Partei ihr für alle Aufwendungen hafte, die sie aus dem Haftpflichtversicherungsvertrag leisten müsse. Sie brachte vor, die Reifen hätten nicht den Anforderungen der Technik entsprochen. Sie wären abweichend von der üblichen Fertigungsform hergestellt, es lägen weitere Fertigungsfehler aus dem Reifenbau vor, sie hätten auch eine mangelhafte und minderwertige Konfektionierung aufgewiesen. Diese Fehler wären der Erzeugerfirma bekanntgewesen, da es bereits vielfach zu Reklamationen und Ausfällen von Reifen der verwendeten Type gekommen sei. Die Firma The G Tyre and Rubber Co.
Limited hafte daher als Produzent des Reifens; der Durchgriff auf die beklagte Partei sei zulässig, da diese praktisch alleiniger Eigentümer des die Reifen produzierenden Unternehmens sei. Es sei vom Alleinaktionär mißbräuchlich eine Konstruktion verwendet worden, damit er nicht selbst hafte.
Das Herstellerunternehmen könne in Österreich nicht geklagt werden, es habe hier keinen Gerichtsstand.
Die beklagte Partei, die das Vorliegen eines Produktionsfehlers bestritt, wendete u.a. ein, daß die Voraussetzungen für eine Durchgriffshaftung insbesondere auch nach englischem Recht nicht vorlägen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Tatsache, daß die beklagte Partei die Mehrheit der Aktien der englischen Erzeugerfirma halte, ändere nichts daran, daß es sich um zwei verschiedene Rechtssubjekte handle. Das englische Unternehmen erzeuge selbständig Reifen und bringe sie in den Handel, es sei erheblich mit Kapital ausgestattet und habe einen entsprechenden Personalstand. Die beklagte Partei wirke an Produktion und Verkauf der Reifen nicht mit. Eine Produzentenhaftung treffe allenfalls die britische Herstellerfirma, nicht aber die beklagte Partei. Über die rechtliche Selbständigkeit einer juristischen Person könne man sich dort hinwegsetzen, wo diese rechtliche Selbständigkeit zur Gesetzesumgehung, zur Vertragsverletzung oder fraudulosen Schädigung Dritter mißbraucht werde. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor.
Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der klagenden Partei nicht Folge. Kaufe ein inländischer Konsument von einem österreichischen Unternehmen eine Ware eines ausländischen Produzenten, so gelte auch ohne ausdrückliche Rechtswahl und ohne Rücktritt auf den Abschlußort des Vertrages zwischen dem Warenhersteller und dem Importeur für die Frage der Produzentenhaftung inländisches Recht. Bei Anwendung österreichischen Rechtes sei dem Erstgericht kein Rechtsirrtum unterlaufen.
Der Begriff der Durchgriffshaftung sei im Gesetz nicht geregelt. Er sei vorwiegend im ausländischen Schrifttum entwickelt worden und habe in der österreichischen Rechtsprechung noch keine Anwendung gefunden. Der Grundgedanke der Durchgriffshaftung liege darin, daß sich niemand der Rechtsform einer juristischen Person zum Zwecke des Mißbrauchs, insbesondere zum Zwecke der Schädigung Dritter oder der Umgebung von Gesetzen, bedienen dürfe. Eine nähere Erörterung dieses Problems erübrige sich, weil die klagende Partei Behauptungen in dieser Richtung gar nicht aufgestellt habe.
Die Möglichkeit der Einflußnahme der beklagten Partei auf die Geschäftsführung des Produzenten rechtfertige jedenfalls ebensowenig eine Durchgriffshaftung wie der mangelnde Gerichtsstand der Produzenten in Österreich oder die Ungewißheit eines Prozeßerfolges im Ausland.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der klagenden Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Soweit die Vorinstanzen und die Revisionswerberin davon ausgehen, daß für die Frage der Durchgriffshaftung der Muttergesellschaft einer britischen Tochtergesellschaft österreichisches Recht anzuwenden sei, kann ihnen nicht gefolgt werden. Die Frage der Durchgriffshaftung hat mit dem Geschäftsstatut des einzelnen von der Tochtergesellschaft abgeschlossenen Geschäftes nichts zu tun (Wengler in BGB-RGRK[12] VI/1, 579 und VI/2, 1103). Es ist vielmehr allgemein anerkannt, daß für die Haftung des Gesellschafters (Aktionärs) einer juristischen Person das Personalstatut der Gesellschaft entscheidet. Das ist bei Beurteilung der Frage, ob die beherrschende Muttergesellschaft für Schulden der von ihr beherrschten Tochtergesellschaft aufzukommen hat, das Statut der abhängigen Gesellschaft (Wengler a.a.O. VI/1, 743; Kegel, IPR[4], 263 und 265; Mann, Beiträge zum IPR, 75, 85). Die Rechtsbeziehungen zwischen den außenstehenden Gesellschaftern, den Gläubigern, den Arbeitnehmern und sonst betroffenen Personen und dem die Gesellschaft beherrschenden (ausländischen) Unternehmen richteten sich daher nach dem Gesellschaftsstatut der abhängigen Gesellschaft (Wiedemann, Internationales Gesellschaftsrecht in Kegel-FS, 203). Nach dem hier maßgeblichen Sitz (GesRZ 1976, 132; SZ 40/48 mit weiteren Literaturhinweisen; Schwind, Handbuch des Österreichischen IPR, 133; Kegel a.a.O.) der Herstellerfirma ist daher englisches Recht anzuwenden. Rechtsquelle für das Recht der Kapitalgesellschaft ist der Companies Act von 1958. Die Herstellerfirma ist eine "Public Company" (im folgenden Gesellschaft). Sie führt den Beisatz "Limited", ihre Gesellschafter haften also grundsätzlich nur bis zur Höhe der nicht geleisteten Einlagen (Triebel, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 123, 134), wie vom House of Lords schon im Jahre 1897 im Fall Salomon v. Salomon anerkannt wurde (vgl. Triebel a. a.O., 134 FN 105).
Eine dem im deutschen Recht entwickelten Begriff der Durchgriffshaftung vergleichbare Haftung der Anteilseigner und anderer Personen kennt das englische Recht nur in zwei Fällen: Sinkt die Anzahl der Gesellschafter einer Gesellschaft über sechs Monate hindurch unter sieben und führt die Gesellschaft die Geschäfte fort, so bleibt sie zwar bestehen, jeder Gesellschafter, der hievon weiß, haftet aber persönlich neben der Gesellschaft (Section 31 Companies Act 1948). Die erforderliche Anzahl von Gesellschaftern liegt aber selbst dann vor, wenn die Minderheitsaktionäre nur Treuhänder des Hauptaktionärs sind (Triebel a.a.O., 134 f.; Baumann, Das Recht der Handelsgesellschaft im englischen Rechtskreis, 105; Palmer, Company Law[21], 132). Darüber hinaus haftet im Falle der Liquidation der Gesellschaft derjenige, der Geschäfte der Gesellschaft mit der Absicht der Gläubigerbenachteilung fortführte. In diesem Falle kann das Gericht alle Personen, die davon wußten, für alle Schulden und sonstigen Verbindlichkeiten der Gesellschaft persönlich und ohne Beschränkung ihrer Haftung verantwortlich machen (Section 332), allerdings nur der Gesellschaft und nicht den Gläubigern gegenüber (Palmer a.a.O., 133). Keiner dieser Fälle wurde von der klagenden Partei auch nur behauptet.
Wohl kennt das englische Recht weitere Bestimmungen, die geeignet sind, den "Schleier der Rechtspersönlichkeit" einer abhangigen Gesellschaft aufzuheben, wie Sondervorschriften für Bilanz- und Gewinn- und Verlustrechnungen (Baumann a.a.O., 105 f., 137 f.; Palmer a.a.O., 133, 627); diese Sonderregelung erweitern aber grundsätzlich nicht die Haftung der Muttergesellschaft. Aber selbst wenn man annehmen wollte, daß auch nach dem in Großbritannien geltenden Recht über die ausdrücklich geregelten Haftungsfälle hinaus die Eigentümerin einer juristischen Person hafte, wenn die nach außen hin auftretende juristische Person ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllen könne, wäre für die klagende Partei nichts zu gewinnen, weil eine Behauptung, die britische Herstellerfirma sei außerstande, ihre Verbindlichkeit aus einer Haftung als Produzent zu erfüllen, gar nicht aufgestellt wurde. Der Umstand allein, daß der wegen Fehlerhaftigkeit seiner Erzeugnisse in Anspruch genommene Produzent in Österreich keinen allgemeinen oder Wahlgerichtsstand hat, sondern nur seine Muttergesellschaft, führt, ganz abgesehen davon, daß die Rechtsverfolgung in Großbritannien weder als unzumutbar noch unverhältnismäßig erschwert anzusehen ist (EvBl. 1979/174), noch nicht zu einer Änderung ihrer materiellrechtlichen Haftung.
Anmerkung
Z54094Schlagworte
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ECLI:AT:OGH0002:1981:0010OB00541.81.0617.000Dokumentnummer
JJT_19810617_OGH0002_0010OB00541_8100000_000