Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Juni 1981
unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska, in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, Dr. Walenta, Dr. Schneider und Dr. Reisenleitner als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Ruiter-Birnbauer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Franz A wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs 1 StGB über die von der Generalprokuratur gegen die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Raabs/Thaya vom 23. Jänner 1981, GZ U 318/80-10, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur Generalanwalt Dr. Nurscher zu Recht erkannt:
Spruch
Die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Raabs a.d.
Thaya vom 23. Jänner 1981, GZ U 318/80-10, mit der über Franz A wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs 1 StGB eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 200 S verhängt wurde, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 461 Z. 1 StPO und 42 StGB.
Diese Strafverfügung sowie alle sich darauf gründenden Verfügungen, insbesondere die Endverfügung vom 5. März 1981 (ON 12), werden aufgehoben und es wird das Verfahren gegen Franz A wegen des Vergehens nach dem § 95 Abs 1 StGB eingestellt.
Text
Gründe:
Am 5. Juni 1980 gegen 21 Uhr kam Erwin B mit seinem Motorrad auf der Landeshauptstraße 59 in Thuma beim Haus Nr. 14 zum Sturz. Dabei wurde seine Soziusfahrerin Sylvia C verletzt, die einen Bruch (Abspaltung) des rechten Mittelfingerknochens sowie Prellungen und Schürfwunden am rechten Knie erlitt und nach ambulanter Versorgung dieser Verletzungen im Krankenhaus Horn drei Wochen lang einen Gipsverband tragen mußte. Das durch den Sturz verursachte Geräusch hatte der in der Nähe der Unfallsstelle wohnende Franz A gehört und, als er aus dem Fenster sah, auf der Straße das Motorrad und die beiden Personen liegen gesehen, von denen nur der Lenker sogleich aufstand.
In der am 5. November 1980 wegen dieses Verkehrsunfalls beim Bezirksgericht Raabs a.d.Thaya zu AZ U 160/80 gegen Erwin B und Johann D, dem Mitverschulden am Unfall angelastet worden war, wegen Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 StGB durchgeführten Hauptverhandlung beantragte der Bezirksanwalt u. a. auch die Bestrafung des als Zeugen vernommenen Franz A 'wegen § 95 StGB', worauf gegen letzteren der Strafakt U 318/80 angelegt wurde.
In der Folge wurde über Franz A mit Strafverfügung vom 23. Jänner 1981, GZ U 318/80-10, wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs 1
StGB eine unbedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen a 200 S verhängt, weil er 'am 5. Juni 1980 in Thuma bei einem Unglücksfall, nämlich als er Zeuge des Sturzes des Motorradfahrers Erwin B und seiner Beifahrerin Sylvia C wurde, es unterlassen' habe, 'die offensichtlich erforderliche und zumutbare Hilfe für die Verletzte Sylvia C zu leisten'.
Diese Strafverfügung wurde am 3. Februar 1981 dem öffentlichen Anklägers, der gegen sie keinen Einspruch erhob, und am 25. Februar 1981 auch dem Beschuldigten Franz A zugestellt, der am 2. März 1981 die Geldstrafe erlegte, worauf vom Richter, der dies offenbar als Verzicht auf einen Einspruch wertete, am 5. März 1981 - noch vor Ablauf der vierzehntägigen Einspruchsfrist des § 461 Z. 4 StPO - die Endverfügung getroffen wurde.
Rechtliche Beurteilung
Die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Raabs a.d.
Thaya vom 23. Jänner 1981 verstäßt gegen die Bestimmungen des § 461 Z. 1 StPO und des § 42 StGB.
Gemäß dem § 461 Z. 1 StPO müssen in einer Strafverfügung die Beschaffenheit der strafbaren Handlung sowie die Zeit und der Ort ihrer Begehung angegeben sein.
Dieser Anforderung, die nach ständiger Rechtsprechung dahin zu verstehen ist, daß aus der Strafverfügung die (vollständige) Tatbestandsverwirklichung hervorgehen muß (vgl. Mayerhofer-Rieder, Strafprozeßordnung, Entscheidungen Nr. 1 und Nr. 2 zu § 461), wird der vorliegende angefochtene Gerichtsakt nicht gerecht, weil ihr bei der Darstellung der Tat das für § 95 StGB essentielle Tatbestandsmerkmal der (vom Vorsatz des Täters umfaßten) Kenntnis vom Bestehen einer Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung nicht zu entnehmen ist (vgl. Kienapfel BT I RN 602;
Leukauf-Steininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch2, RN 10 zu § 95).
Einer solchen Klarstellung hätte es aber umsomehr bedurft, als die Verletzungen der Sylvia C nicht besonders schwerwiegend waren und sich daher aus den Unfallsfolgen die vom Gesetz geforderte Gefahrenlage nicht von selbst ergibt. Sie könnte allerdings unter Umständen in der Möglichkeit eines Folgeunfalls ersehen werden, weil Sylvia C nach dem Unfall auf der Fahrbahn zu liegen kam. Wenngleich nur mäßiger Verkehr herrschte (S. 11 d.A.), war allenfalls doch zu besorgen, daß sie (insbes. bei den gegebenen Sichtverhältnissen / Dämmerung, Unübersichtlichkeit der Unglücksstelle - S. 11 /) durch Kontakt mit einem anderen Fahrzeug abermals, und zwar beträchtlich, körperlich zu Schaden käme. Sylvia C war nämlich ihren Angaben zufolge zunächst nahezu bewegungsunfähig und (somit) auf fremde Hilfe angewiesen (S. 37 d.A.).
Schon aus dem vorerwähnten Grund erweist sich eine Aufhebung der dem Beschuldigten Franz A damit zum Nachteil gereichenden Strafverfügung als geboten.
Die Strafverfügung verstäßt aber auch gegen die Bestimmung des § 42 StGB.
Denn selbst wenn man die Möglichkeit eines - vom Beschuldigten bedachten - Folgeunfalls in Betracht zieht, wäre die Schuld des Täters gering, weil sich im Hinblick auf die doch relativ rasch einsetzende Hilfe von anderer Seite (siehe insbes. S. 19, 21, 27, 53, 55 d.A.) der Vorwurf darauf beschränken müßte, sich nicht sofort bei Wahrnehmung der Hilfsbedürftigkeit der Verunglückten auf die Straße begeben und der erkannten Gefahr (gemeinsam mit B) entgegengewirkt zu haben. Zudem hätte die Tat jedenfalls keine Folgen nach sich gezogen und wäre eine Bestrafung des nach der Aktenlage bisher unbescholtenen Franz A auch nicht geboten, um ihn selbst von strafbaren Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken. Da das Vergehen nach dem § 95 Abs 1 StGB nicht mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist, liegen sämtliche Voraussetzungen des § 42 Abs 1 StGB vor, weshalb sich eine Fortsetzung des Strafverfahrens verbietet (§ 42 Abs 2 StGB).
Es war daher auch (in sinngemäßer Heranziehung des § 451 Abs 2 StPO) sogleich die Einstellung des Verfahrens auszusprechen.
Anmerkung
E03305European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1981:0110OS00101.81.0629.000Dokumentnummer
JJT_19810629_OGH0002_0110OS00101_8100000_000