Norm
Haager Minderjährigenschutzübereinkommen Art1Kopf
SZ 55/153
Spruch
Pflegschaftsbehördliche Entscheidungen über eheliche Kinder fallen nicht unter das Vormundschaftsabkommen zwischen der Republik Österreich und dem Deutschen Reich vom 5. 2. 1927, BGBl. 269/1927, sondern unter das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen vom 5. 10. 1961, BGBl. 446/1975
Haben Behörden des Staates, dem ein Minderjähriger angehört, pflegschaftsbehördliche Maßnahmen getroffen, dürfen im Geltungsbereich des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens vom 5. 10. 1961, BGBl. 446/1975, andere Behörden nur Notmaßnahmen nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens treffen
Die Übergabe einer Beschlußausfertigung des Gerichtes des Heimatstaates durch die Mutter an das österreichische Gericht erfüllt den Zweck der Verständigungspflicht nach Art. 4 Abs. 1 des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens vom 5. 10. 1961, BGBl. 446/1975
OGH 14. Oktober 1982, 7 Ob 724/82 (LG Klagenfurt 2 R 239/82; BG Völkermarkt P 58/72)
Text
Die Ehe der Eltern der mj. Markus und Olaf M wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes Köln vom 4. 2. 1974 geschieden. Die Kinder leben mit ihrer Mutter seit Jänner 1971 im Sprengel des Erstgerichtes; der Vater hat seinen Wohnsitz in Bonn. Die beiden Kinder und der Vater besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, die Mutter ist österreichische Staatsbürgerin. Mit Beschluß des Amtsgerichtes Bonn vom 26. 9. 1978 wurde die elterliche Gewalt über die beiden Kinder der Mutter übertragen und das Besuchs- und Verkehrsrecht des Vaters in der Weise geregelt, daß dem Vater das Recht zugestanden wurde, die Kinder während der Hälfte der jährlichen Schulsommerferien, maximal jedoch für die Dauer von vier Wochen, sowie im jährlichen Wechsel in dem einen Jahr während der gesamten Osterferien, im nächsten Jahr während der Weihnachtsferien in der Zeit ab 26. 12. zu besuchen und zu sich zu nehmen. Das Recht des Vaters zum persönlichen Umgang mit den beiden Kindern wurde mit Beschluß des Oberlandesgerichtes Köln vom 24. 6. 1980 dahin erweitert, daß der Vater über die vom Amtsgericht Bonn getroffene Besuchsregelung hinaus das Recht erhielt, beide Kinder in jedem zweiten Jahr in den sogenannten Energieferien zu besuchen und zu sich zu nehmen.
Mit Schriftsatz vom 30. 3. 1981 stellte der Vater beim Erstgericht den Antrag, ihm "neben der gültigen Besuchsrechtsregelung" für die Ferien - die keine Änderung erfahren solle - "zur Überbrückung der mehr als sechsmonatigen Trennung" je einmal im April (allenfalls statt dessen im Mai oder Juni) und Oktober 1981 für jeweils vier Tage ein Besuchsrecht in Kärnten einzuräumen.
Die Mutter sprach sich gegen eine derartige Erweiterung des Besuchsrechtes des Vaters aus, zumal dieses Besuchsrecht durch die Entscheidungen des Amtsgerichtes Bonn und des Oberlandesgerichtes Köln geregelt worden sei.
Mit Beschluß vom 28. 4. 1981 wies das Erstgericht den Antrag des Vaters ab, da kein Anlaß bestehe, von der Regelung des Besuchsrechtes durch das Amtsgericht Bonn und das Oberlandesgericht Köln durch Einräumung eines zusätzlichen Besuchsrechtes abzugehen. Das Rekursgericht hob diesen Beschluß, der im übrigen unbekämpft geblieben war, hinsichtlich eines Besuchsrechtes in der Zeit vom 28.
10. bis 2. 11. 1981 auf und trug dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Rekursgericht führte aus, daß das Erstgericht seine Zuständigkeit im Hinblick auf das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen, BGBl. 446/1975, mit Recht in Anspruch genommen habe. Der Antrag des Vaters, außerhalb der durch deutsche Gerichte bereits getroffenen Regelung seines Besuchsrechtes, die Kinder zu bestimmten Terminen in Kärnten, an ihrem Wohnort, zu besuchen, sei jedoch noch nicht spruchreif.
Mit Beschluß vom 30. 9. 1981 bewilligte das Erstgericht dem Vater ein Besuchsrecht in der Zeit vom 31. 10. bis 2. 11. 1981; dem von der Mutter dagegen erhobenen Rekurs gab das Rekursgericht mit Beschluß vom 28. 10. 1981 nicht Folge.
Am 3. 11. 1981 stellte der Vater den Antrag, ihm "zur Überbrückung zwischen den Ferienbesuchszeiten" (auch) in den Jahren 1982 und 1983 je zwei Besuchszeiten zu Pfingsten und zu Allerheiligen - die er datumsmäßig genau fixierte - einzuräumen.
Die Mutter sprach sich auch diesmal gegen den Antrag des Vaters aus.
Das Erstgericht wies den Antrag ab, da das Recht auf persönlichen Verkehr zwischen Vater und Kindern mit Beschluß des Oberlandesgerichtes Köln vom 24. 6. 1980 geregelt worden sei und kein Anlaß bestehe, dieses Recht auszudehnen.
Die Abweisung des Antrages auf Einräumung eines Besuchsrechtes zu Pfingsten 1982 blieb unbekämpft. Im übrigen gab das Rekursgericht dem Antrag des Vaters statt und räumte ihm das Recht ein, über das mit den Beschlüssen des Amtsgerichtes Bonn vom 26. 9. 1978 und des Oberlandesgerichtes Köln vom 24. 6. 1980 geregelte Besuchsrecht hinaus seine beiden Kinder in der Zeit vom 30. 10. bis 2. 11. 1982, vom 20. bis 24. 5. 1983 und vom 29. 10. bis 2. 11. 1983 zu besuchen. Es verwies zur Frage der Zuständigkeit auf seine bereits zuvor geäußerte Rechtsansicht und vertrat die Meinung, daß die "erweiterte Besuchsrechtsregelung" dem Wohl der Kinder entspreche. Eine unzumutbare Störung der Beziehung der Mutter zu ihren Kindern sei nicht zu erwarten.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Revisionskurs der Mutter Folge, hob die Beschlüsse der Vorinstanzen im Umfang der Anfechtung als nichtig auf und wies den Antrag des Vaters auf Einräumung eines weiteren Besuchsrechtes zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Österreich und die Bundesrepublik Deutschland sind Vertragsstaaten des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens vom 5. 10. 1961, BGBl. 446/1975. Die Bestimmungen dieses Abkommens können daher auf den vorliegenden Fall angewendet werden. Daß es gemäß seinem Art. 18 Abs. 2 bereits bestehende zwischenstaatliche Übereinkünfte der Vertragsstaaten (mit Ausnahme des Haager Vormundschaftsabkommens von 1902) unberührt läßt, ist dabei ohne Bedeutung. Das Vormundschaftsabkommen zwischen der Republik Österreich und dem Deutschen Reich vom 5. 2. 1927, BGBl. 269/1927 (das seit 1. 10. 1959 zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland wieder anzuwenden ist; JABl. 1959, 143), regelt nämlich nur die Vormundschaft (= gesetzliche Vertretung Minderjähriger, die nicht unter elterlicher Gewalt stehen) im engen Sinn der Bedeutung, die diesem Begriff jeweils im berufenen deutschen oder österreichischen Sachrecht zukommt; Regelungen der elterlichen Gewalt oder sonstige pflegschaftsbehördliche Entscheidungen über eheliche Kinder fallen daher nicht unter das Abkommen (Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechts, 243 f.; EvBl. 1960/340).
Nach Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens sind die Behörden, seien es Gerichte oder Verwaltungsbehörden, des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art. 3, 4 und 5 Abs. 3 des Übereinkommens dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Da als Schutzmaßnahmen iS dieser Bestimmung alle schützenden Eingriffe und regelnden Maßnahmen mit Gestaltungscharakter zur Wahrung und Förderung des Kindeswohles zu werten sind, gehört dazu auch die Regelung des Besuchsrechtes (Schwimann aaO 248).
Die Zuständigkeit der Behörden, am gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen, greift nach dem zitierten Wortlaut des Art. 1 des Abkommens allerdings insoweit nicht ein, als "gesetzliche Gewaltverhältnisse" des Heimatrechtes (Art. 3) oder Schutzmaßnahmen der Heimatbehörden des Kindes (Art. 4, Art. 5 Abs. 3) vorliegen. In solchen Fällen verbleibt den Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt gemäß Art. 8 Abs. 1 lediglich eine Notzuständigkeit zur Abwehr einer "ernsten Gefährdung" von Person oder Vermögen des Minderjährigen (Schwimann aaO 250).
Daß die Voraussetzungen für eine "Notzuständigkeit", also die "Gefährdungszuständigkeit" iS des Art. 8 oder die "Eilzuständigkeit" iS des Art. 9 des Abkommens, vorlägen, kann mit Rücksicht auf den Inhalt und die Beschaffenheit des Antrages des Vaters nicht gesagt werden. Es sind weder Maßnahmen zur Beseitigung einer besonderen Gefährdungssituation erforderlich, noch ist ein "dringender Fall" gegeben da von einem solchen im allgemeinen nur dann gesprochen werden kann, wenn die anderen zuständigen Staaten nicht rechtzeitig eingreifen könnten (Schwimann aaO 252; vgl. auch Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen, JBl. 1976, 246).
Nach Art. 4 Abs. 1 des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens "können" die Heimatbehörden, wenn es nach ihrer Auffassung das Wohl des Minderjährigen erfordert, nach ihrem eigenen Sachrecht Schutzmaßnahmen treffen, nachdem sie die Behörden jenes Staates verständigt haben, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Schutzmaßnahmen der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes hindern den Heimatstaat nicht (Art. 4 Abs. 4 des Abkommens), sie fallen höchstens bei der Prüfung der Erforderlichkeit ins Gewicht. Die Maßnahmen der Heimatbehörden verdrängen jedoch jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 3) und schließen für die Zeit ihrer Dauer (mit Ausnahme der Gefährdungszuständigkeit des Art. 8) auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthaltes aus (Art. 1; vgl. zu diesen Ausführungen auch Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechts 251 f.). Es besteht daher ein ganz eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden (Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen, JBl. 1976, 241).
Im vorliegenden Fall haben die Behörden des Heimatstaates der Kinder ihre Zuständigkeit in Anspruch genommen und die elterliche Gewalt und das Besuchsrecht geregelt. Sie haben sich mit der Frage ihrer Zuständigkeit ausführlich auseinandergesetzt und diese nach den obigen Ausführungen auch zu Recht bejaht.
Das Oberlandesgericht Köln hat sich in seiner Entscheidung vom 24. 6. 1980 auch mit der im Art. 4 Abs. 1 des Abkommens statuierten Verständigungspflicht befaßt und die Ansicht vertreten, dieser Pflicht sei dadurch entsprochen worden, daß die österreichischen Behörden (das Jugendamt Völkermarkt) seit vielen Jahren in die Ermittlungen eingeschaltet worden seien und hiedurch von dem Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland Kenntnis erlangt hätten. Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob dieser Ansicht beizupflichten ist. Die Frage, welche Wirkungen die Verletzung der im Art. 4 des Abkommens vorgesehenen Verständigungspflicht hat - ob nämlich die Verständigungspflicht bedingende Voraussetzung für die Zuständigkeit der Behörden des Heimatstaates ist oder ob die Verletzung der Verständigungspflicht nur einen Verfahrensmangel begrundet (EvBl. 1978/128) -, ist ohne ausdrückliche Regelung geblieben. Schwimann (Das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen; JBl. 1976, 242) bezeichnet es als nicht unvertretbar, die Wirkung der getroffenen Maßnahme in den anderen Vertragsstaaten im Falle der zunächst unterbliebenen Verständigung erst mit der nachgeholten Verständigung eintreten zu lassen (vgl. hiezu auch EvBl. 1978/128). Die Entscheidungen des Amtsgerichtes Bonn und des Oberlandesgerichtes Köln wurden dem Erstgericht - dem der Umstand, daß das Pflegschaftsverfahren über die beiden Kinder vom Amtsgericht Bonn geführt wird, vom Beginn seines Verfahrens an bekannt war - spätestens durch Übergabe von Ausfertigungen bzw. Ablichtungen dieser Beschlüsse durch die Mutter der Kinder zur Kenntnis gebracht. Folgt man der Ansicht Schwimanns, wurde der Zweck der im Art. 4 Abs. 1 des Abkommens vorgesehenen Verständigung damit erfüllt.
Da das Besuchsrecht des Vaters durch die Entscheidungen der deutschen Gerichte - entgegen der Ansicht des Vaters - umfassend geregelt worden ist, ist die Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts und damit die inländische Gerichtsbarkeit für eine Ergänzung und Erweiterung dieser Besuchsrechtsregelung nicht gegeben.
Anmerkung
Z55153Schlagworte
Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (BGBl. 1975/446), Anwendung auf pflegschaftsbehördliche Entscheidungen über eheliche Kinder im Verhältnis Österreich-BRD Haager (BGBl. 1975/446), Berechtigung zu Notmaßnahmen Haager (BGBl. 1975/446), Erfüllung der Verständigungspflicht (Art. 4 Abs. 1) durch Übergabe einer Beschlußausfertigung Minderjährigenschutzübereinkommen, s. Haager - Vormundschaftsabkommen zwischen der Republik Österreich und dem Deutschen Reich (BGBl. 1927/269), keine Anwendung auf pflegschaftsbehördliche Entscheidungen über eheliche KinderEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1982:0070OB00724.82.1014.000Dokumentnummer
JJT_19821014_OGH0002_0070OB00724_8200000_000