Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 17.Feber 1983 unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller und in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral, Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Hörburger und Dr. Lachner als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Hankiewicz als Schriftführer in der Strafsache gegen August A wegen des Vergehens des militärischen Diebstahls nach §§ 127 Abs 1 StGB, 31 Abs 2
MilStG. und anderer strafbarer Handlungen über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 28.Juli 1982, GZ. 24 Bs 173/82, ON. 14
in 10 E Vr 793/81 des Kreisgerichtes Wiener Neustadt, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Hörburger und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Gehart, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen August A, AZ. 10 E Vr 793/81 des Kreisgerichtes Wiener Neustadt, verletzt der Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 28.Juli 1982, AZ. 24 Bs 173/82, das Gesetz in der Bestimmung des § 55 Abs 1 StGB
Text
Gründe:
Mit Beschluß des Kreisgerichtes Wiener Neustadt vom 12.Mai 1982, GZ. 10 E Vr 793/81-11, wurde die bedingte Nachsicht der über August A mit Urteil dieses Gerichtes vom 5.Oktober 1981, GZ. 10 E Vr 793/81- 6, verhängten Freiheitsstrafe mit der Begründung widerrufen, daß der Genannte mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 29.Oktober 1981, AZ. 24 Vr 3199/81, wegen anderer vor dem erstbezeichneten Urteil begangener Taten zu einer nicht bedingt nachgesehenen weiteren Freiheitsstrafe verurteilt worden sei und die bedingte Nachsicht bei gemeinsamer Aburteilung nicht gewährt worden wäre (§ 55 Abs 1 StGB).
Der dagegen gerichteten Beschwerde des Verurteilten gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluß vom 28.Juli 1982, AZ. 24 Bs 173/82 (ON. 14) Folge, hob den angefochtenen (Widerrufs-) Beschluß auf und wies den ihm zugrundegelegenen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht ab. Dem Erstgericht sei nämlich im Zeitpunkt der Urteilsfällung die Anhängigkeit des weiteren Verfahrens beim Landesgericht Innsbruck bekannt gewesen, zumal es dem Verurteilten die bis dahin in jenem anderen Verfahren erlittene Vorhaft auf die Strafe angerechnet habe (§ 38 Abs 1 Z. 2 StGB); sei dem Verurteilten dennoch die bedingte Strafnachsicht gewährt worden, dürfe diese nicht nachträglich wegen der diesbezüglich ergangenen Verurteilung widerrufen werden.
Rechtliche Beurteilung
Der Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien steht mit dem Gesetz nicht im Einklang.
§ 55 Abs 1 StGB sieht den Widerruf der bedingten Nachsicht einer Strafe vor, wenn eine nachträgliche Verurteilung gemäß § 31 StGB erfolgt und die bedingte Nachsicht bei gemeinsamer Aburteilung nicht gewährt worden wäre. Diese Regelung greift dann ein, wenn der Rechtsbrecher mehrere strafbare Handlungen begangen hat, jedoch zunächst nur ein Teil derselben abgeurteilt wird, weil die übrigen entweder noch nicht bekannt oder (infolge Ausscheidung gemäß § 57 StPO bzw. gesonderter Verfahrensführung) nicht Gegenstand des Verfahrens sind, wobei bedingte Strafnachsicht gewährt wurde. Erfolgt sodann wegen der übrigen Straftaten in einem zeitlich späteren Verfahren eine Verurteilung, so ist die im früheren Urteil gewährte bedingte Nachsicht zu widerrufen, wenn sie bei gemeinsamer Aburteilung aller Straftaten in einem einzigen Urteil nicht gewährt worden wäre (Leukauf-Steininger, Kommentar 2, § 55 StGB, RZ. 4). Die zitierte Gesetzesstelle ermöglicht somit den Widerruf der bedingten Strafnachsicht auch dann, wenn bei Gewährung der Nachsicht jene Tat(en), die erst im nachträglichen Urteil erledigt wurde(n), schon bekannt und Gegenstand abgesonderter Verfolgung war(en) (Dokumentation zum StGB, S. 106 r.Sp.; Leukauf-Steininger StGB2 § 55 RN. 4; Kunst im WK. § 55 Rz. 2 a.E.). Lediglich für den hier nicht aktuellen Fall einer im späteren Urteil gewährten bedingten Nachsicht gilt, daß deren Widerruf unzulässig ist, wenn die (Vor-) Verurteilung, auf die gemäß § 31 StGB Bedacht zu nehmen gewesen wäre, (bekannt oder doch) aus den Akten ersichtlich war (§ 55 Abs 2 StGB).
Abgesehen davon wird - wie die Generalprokuratur mit Recht hervorhebt - gemäß Artikel 6 Abs 2 MRK. bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Diese (auf Verfassungsstufe stehende) Vorschrift verbietet es grundsätzlich, an ein bestimmtes strafbares Verhalten einer Person in einem ein anderes Verhalten jener Person betreffenden Verfahren für sie nachteilige Folgen zu knüpfen, solange nicht im Strafverfahren der 'gesetzliche Nachweis ihrer Schuld' erbracht ist; deshalb kann bei der Entscheidung, ob eine Strafe bedingt nachzusehen ist (§ 43 StGB), auf ein gegen den Rechtsbrecher (noch) anhängiges Strafverfahren nicht Rücksicht genommen werden (vgl. 10 Os 50/79; zur Tragweite der Unschuldsvermutung nach Art. 6
Abs 2 MRK. auch VfSlg. 8483/1979).
Die in der Begründung des erwähnten Beschlusses unter Hinweis auf Mayerhofer/Rieder StGB2 § 55 Nr. 1 zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 19.September 1955, 5 Os 858/55, vermag die nach dem zuvor Gesagten irrige Rechtsansicht des Oberlandesgerichtes Wien nicht zu stützen:
Jene (übrigens noch vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Menschenrechtskonvention BGBl. Nr. 210/1958 ergangene) Entscheidung betraf, wie aus ihrem a.a.O. unter Nr. 3
wiedergegebenen weiteren Inhalt hervorgeht, eine bedingte Strafnachsicht, deren Voraussetzungen das Berufungsgericht bejaht hatte, obwohl bereits ein rechtskräftiges Strafurteil über die abgesondert verfolgten Taten vorlag, also einen gerade im wesentlichen Punkt vom hier gegebenen abweichenden Sachverhalt. Mithin hätte das Oberlandesgericht Wien, vom Vorliegen einer nachträglichen Verurteilung (§ 31 StGB) ausgehend, seine Entscheidung über die Beschwerde des Verurteilten gegen den erstgerichtlichen Widerrufsbeschluß im Sinne des § 55 Abs 1 StGB darauf abstellen müssen, ob die bedingte Strafnachsicht bei gemeinsamer Aburteilung gewährt worden wäre oder nicht. Da aber die in Stattgebung der Beschwerde erfolgte, anders und - wie dargetan - gesetzwidrig begründete Abweisung des Widerrufsantrags der Staatsanwaltschaft durch das Oberlandesgericht den Verurteilten begünstigt, muß es mit der Feststellung dieser Gesetzesverletzung sein Bewenden haben.
Anmerkung
E04067European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1983:0120OS00008.83.0217.000Dokumentnummer
JJT_19830217_OGH0002_0120OS00008_8300000_000