Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 27. September 1983 durch den zehnten Senat unter dem Vorsitz des Hofrates des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich sowie in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini, Dr. Hörburger, Dr. Lachner und Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Richter unter Beiziehung des Richteramtsanwärters Dr. Maresch als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung der Aloisia A in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 (§§ 15, 75) StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung der Betroffenen gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Kreisgericht Ried im Innkreis vom 3. Juni 1983, GZ 6 Vr 1118/82-35, nach öffentlicher Verhandlung - Vortrag des Berichterstatters, Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini, Anhörung der Ausführungen des Verteidigers Dr. Lirk sowie des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Scheibenpflug - zu Recht erkannt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Der Berufung wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, welches im übrigen unberührt bleibt, im Ausspruch über die Unterbringung der Betroffenen in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher aufgehoben sowie die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung in diesem Umfang an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem auf dem Wahrspruch der Geschwornen beruhenden angefochtenen Urteil wurde Aloisia A über Antrag (im Urteil unrichtig: Anklage) der Staatsanwaltschaft gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Darnach liegt ihr zur Last, daß sie am 6. Dezember 1982 in Neukirchen an der Enknach unter dem Einfluß eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhte, (ihre damals neunjährige außereheliche Tochter) Raphaela B (zugleich mit sich selbst) zu töten versuchte, indem sie ihr mit 20 Schlaftabletten vermengten Kakao zu trinken gab und Auspuffgase in das Innere eines PKWs leitete, (in welchem sie beide einschliefen), wodurch sie das Verbrechen des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB begangen haben würde, wenn sie zurechnungsfähig gewesen wäre.
Rechtliche Beurteilung
Die auf § 345 Abs 1 Z 5, 7 (gemeint: 6) und 12 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Betroffenen gegen dieses Urteil erweist sich als unberechtigt.
Einen Verfahrensmangel im Sinn des zuerst bezeichneten Nichtigkeitsgrundes (Z 5) erblickt die Beschwerdeführerin in der Abweisung von Beweisanträgen ihres Verteidigers (S 289 f.), die aus Anlaß der für eine Anstaltsunterbringung nach § 21 Abs 1 StGB vorauszusetzenden Gefährlichkeitsprognose auf die Feststellung ihres derzeitigen psychischen Zustands abzielten.
Die damit relevierte Prognose ist jedoch - anders als die keinem Ermessen zugängliche Entscheidung über die übrigen Einweisungsvoraussetzungen - nur mit Berufung anfechtbar (vgl EvBl 1977/8, 1978/32 ua), sodaß die Betroffene mit ihrem darauf bezogenen (und demgemäß bei der Erledigung jenes Rechtsmittels zu berücksichtigenden) Vorbringen der Sache nach einen Nichtigkeitsgrund gar nicht geltend macht.
Zu Unrecht aber rügt die Beschwerdeführerin die Nichtaufnahme einer (vom Verteidiger beantragten) Zusatzfrage (§ 313 StPO) nach (absoluter) Untauglichkeit des Versuchs (§ 15 Abs 3 StGB) in das Fragenschema als eine Verletzung der Vorschriften über die Fragestellung an die Geschwornen (Z 6).
Denn bei der Annahme, daß die Vollendung einer inkriminierten Tat mangels persönlicher Eigenschaften und Verhältnisse, die das Gesetz beim Handelnden voraussetzt, oder nach der Art der Handlung oder des Gegenstands, an dem sie begangen wurde, unter keinen Umständen möglich war, geht es auch nach neuem Recht (§ 15 StGB) - gleichwie vordem nach § 8 StG - nicht um das Vorliegen eines Strafausschließungsoder Strafaufhebungsgrundes im Sinn des § 313 StPO, sondern vielmehr von vornherein schon um eine negative Begriffsvoraussetzung strafbaren Versuchs überhaupt, deren Wirksamkeit im geschwornengerichtlichen Verfahren (bereits) zur Verneinung der betreffenden Hauptfrage führen muß (so schon 11 Os 159/82).
Soweit die Betroffene schließlich eine rechtliche Beurteilung der ihr zur Last fallenden Tat bloß als versuchter Totschlag (§§ 15, 76 StGB) anstrebt, ficht sie damit zwar (entgegen der von der Generalprokuratur vertretenen Rechtsansicht) - ähnlich wie in Ansehung eines verdeckten Delikts beim Vergehen nach § 287 Abs 1 StGB (vgl ÖJZ-LSK 1978/158 ua) - zulässigerweise die Subsumtion der Anlaßtat an (vgl die ausführlich begründete E EvBl 1980/203 uam), doch wird diese Rechtsrüge (Z 12) nicht zur gesetzmäßigen Darstellung gebracht, weil sie nicht von dem im Wahrspruch der Geschwornen enthaltenen Tatsachensubstrat ausgeht, sondern letzteres durch die Annahme von Sachverhaltselementen ergänzt, die Gegenstand einer anderen Frage, und zwar der von den Geschwornen im Hinblick auf die Bejahung der Hauptfrage mit Recht nicht beantworteten Eventualfrage nach versuchtem Totschlag, waren.
Die Nichtigkeitsbeschwerde war demnach zu verwerfen. Der Berufung hingegen kann Berechtigung nicht abgesprochen werden. Das Geschwornengericht nahm als erwiesen an, daß die Betroffene bei allgemeiner Charakterneurose mit endogenem Inhalt an einer neurotischen reaktiven Depression leide und daß diese seelische Abartigkeit von höherem Grad nicht nur dem Zustand ihrer Zurechnungsunfähigkeit zugrundegelegen sei, in dem sie den verfahrensgegenständlichen erweiterten Selbstmordversuch verübt habe, sondern auch befürchten lasse, sie werde unter deren Einfluß abermals eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen. Ihre in Rede stehende Abartigkeit sei deshalb eminent gefährlich, weil deren Entwicklung gezeigt habe, daß sie jetzt nicht mehr (wie früher schon einmal) allein den Tod suche, sondern dazu übergegangen sei, andere, ihr liebe Menschen 'mitzunehmen', wobei es nach dem Verfahrensergebnis keines besonderen Anlasses bedürfe, um sie gänzlich aus dem Gleichgewicht zu bringen und Selbstmordideen in ihr aufkeimen zu lassen.
Auch wenn der Betroffenen, die ihr drittes Kind erwarte, in Hinkunft keines ihrer Kinder mehr belassen werde, könne doch nie verhindert werden, daß sie, sofern sie in Freiheit sei, eines von ihnen wiederfinde; nach dem Sachverständigengutachten müsse als naheliegend befürchtet werden, daß ihre Depressionen schon aus nichtigem Anlaß eine Wiederholung des Mordversuchs nach sich ziehen könnten.
Bei diesen überlegungen hat aber das Erstgericht nicht ausreichend bedacht, daß jene Wahrscheinlichkeit, durch welche die bloß hypothetisch-abstrakte Besorgnis einer (durch die höhergradige seelische Abartigkeit der Betroffenen bedingten) neuerlichen Tatbegehung mit schweren Folgen zu einer für eine Anstaltseinweisung nach § 21 Abs 1 StGB vorauszusetzenden real-konkreten Befürchtung verdichtet werden könnte, im gegebenen Fall zu einem ganz erheblichen Teil von der gesamten künftigen Lebensführung der Täterin und von deren nunmehriger Grundeinstellung hiezu abhängt; hat doch der Sachverständige Dr. C - und im wesentlichen damit übereinstimmend auch der Privatgutachter Dr. D, dessen Expertise vom Verteidiger der Betroffenen dem Obersten Gerichtshof vorgelegt wurde - mehrmals ausdrücklich bekundet, daß die Gefahr einer Tatwiederholung in Konfliktsituationen nur dann aktuell sei, wenn die Betroffene mit ihren Kindern allein gelassen werde, wogegen ansonsten eine direkte Gefahr für andere Personen durch sie nicht bestehe (S 176 f., 281 f., 286).
Auch diese entscheidende Prämisse der konkreten Gefährlichkeitsprognose müßte demnach mit so hoher Wahrscheinlichkeit vorliegen, daß bei realistischer Betrachtung mit ihrer Aktualität als naheliegend zu rechnen wäre; der Umstand allein, daß ein Wiederfinden ihrer Kinder durch die Betroffene nicht zu verhindern ist, vermag eine darauf beruhende reale Befürchtung, sie könnte auf Grund ihrer seelischen Abnormität bei einem solchen Anlaß gegen jene (abermals) Aggressionshandlungen mit schweren Folgen setzen, solang nicht zu begründen, als nicht auch die konkrete Wahrscheinlichkeit des durch die äußeren Umstände oder gezielt durch sie selbst herbeigeführten künftigen Eintritts derartiger Situationen dargetan wird.
Zur Prüfung aller damit zusammenhängenden Fragen, die das Geschwornengericht bisher verabsäumt hat, sind - entsprechend der Schwere der gegebenenfalls zu verhängenden, für die jetzt dreißigjährige unbescholtene Betroffene mit zeitlich (potentiell) unbegrenztem Freiheitsentzug verbundenen Sanktion - eingehende Erhebungen unumgänglich.
In Stattgebung der Berufung war daher der Ausspruch über die Anstaltseinweisung aufzuheben und insoweit die Erneuerung des erstinstanzlichen Verfahrens anzuordnen.
Anmerkung
E04406European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1983:0100OS00134.83.0927.000Dokumentnummer
JJT_19830927_OGH0002_0100OS00134_8300000_000