Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Petrasch, Dr. Wurz, Dr. Warta und Dr. Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Rainer Blasbichler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei N*****, vertreten durch Dr. Walter Strigl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 148.060 S sA, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 13. Februar 1984, GZ 14 R 266/83-12, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. August 1983, GZ 21 Cg 70/83-8, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt und die klagende Partei schuldig erkannt wird, der beklagten Partei die mit 5.067,46 S bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin 327,96 S an Umsatzsteuer und 640 S an Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 7.332 S bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (darin 492 S an Umsatzsteuer und 1.920 S an Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin hat bei der Beklagten eine Transportversicherung für handelsüblich und transportgerecht verpackte Pilze und Waldbeeren mit einer Laufzeit ab 28. Juli 1982 abgeschlossen, auf die die „Zusatzbedingungen“, die „Besonderen Bedingungen“, die Allgemeinen österreichischen Binnen-Transport-Versicherungsbedingungen (AÖB 1965) und das „Havariekommissarverzeichnis“ Anwendung finden. Nach Punkt 2.1. der „Zusatzbedingungen“ gewährt die Beklagte für die bereits genannten Güter nach Maßgabe der AÖB 1965 Versicherungsschutz gegen folgende Gefahren: Transportmittelunfall, Feuer, Blitzschlag, Explosion und höhere Gewalt. Nach den „Begriffserläuterungen“ im „Prämientarif für die Versicherung von Binnentransporten“ – dessen Anwendung zwischen den Parteien nicht ausdrücklich vereinbart wurde – liegt ein Transportmittelunfall vor, wenn das Transportmittel durch ein unmittelbar von außen plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis eine Sachbeschädigung erleidet; Brems- und Betriebsschäden sowie gewöhnliche Bruch- und Leckageschäden sind nach derselben Begriffserläuterung keine Transportmittelunfallschäden. Nach seinen „Vorbemerkungen“ gilt der „Prämientarif“ für Binnentransporte mittels Bahn, Auto und Fluß-Schiff sowie für mit diesen Verkehrsmitteln kombiniert durchgeführte Beförderungen von Gütern aller Art.
Der LKW der Klägerin wurde am 9. August 1982 auf einer schmalen Landstraße zwischen Rosenheim und Bad Tölz durch ein entgegenkommendes Fahrzeug, das über die Fahrbahnmitte fuhr, derart abgedrängt, dass der Lenker Oskar H***** (Geschäftsführer der Klägerin), um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden, das Fahrzeug nach rechts verrreißen und an den Straßenrand lenken musste. Dadurch rutschten zwei Räder des Aufliegers (ca 16 Tonnen) auf das Bankett. Der Auflieger kam ins Schwanken, die Zugmaschine blieb gerade noch auf der Straße stehen. Lediglich unter Ausnutzung der Differenzialsperre konnte der Auflieger wieder hochgezogen werden. Der LKW der Klägerin wurde im Zuge des Unfallsablaufes nicht beschädigt.
Die Klägerin begehrt den Zuspruch von 148.050 S sA und bringt vor, sie habe am 9. August 1982 eine Ladung Pfifferlinge geliefert. Die Ladung sei ordnungsgemäß in ineinander verhakten Plastikkörben oben offen gepackt gewesen. Durch den geschilderten Unfall sei die Ladung verrutscht. Die Körbe seien reihenweise verschoben und von vorn bis rückwärts ausgeschüttet worden. Die Ladung sei dadurch zerstört worden und zwischen die Paletten gefallen. Die Käuferin der Ware habe für den Transportschaden einen Abzug von 2.000 kg à 10,50 DM, das seien umgerechnet insgesamt 148.050 S, vorgenommen. Die Beklagte lehne den Versicherungsschutz ab und behaupte unter anderem, der geltend gemachte Transportschaden sei in der abgeschlossenen Versicherung nicht gedeckt, weil die Klägerin „die billigste Versicherungsvariante gewählt habe“.
Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage und wendet ein, dass ein Transportmittelunfall im Sinne der Begriffserläuterungen im „Prämientarif“ nicht vorliege; denn das Transportmittel habe keine Sachbeschädigung erlitten. Nach den Erhebungen des Havariekommissärs seien darüber hinaus nur einige der – ungesicherten – Körbe während der Fahrt umgekippt, wobei ihr Inhalt herausgefallen sei. Die Ware sei jedoch wieder eingesammelt worden, sodass der Verlust minimal gewesen sei. Es habe jedoch die Empfängerfirma den schlechten Zustand der gelieferten Ware bemängelt, der beim Waschen und Blanchieren einen Schwund von 1.950 kg zur Folge gehabt habe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es vertrat die Ansicht, dass ein Transportmittelunfall nicht vorliege, weil auf den LKW der Klägerin eine mechanische Gewalt nicht eingewirkt und das Kraftfahrzeug selbst keine Beschädigung erlitten habe.
Das Berufungsgericht hob das Urteil des Ersturteils unter Rechtskraftvorbehalt auf. Es vertrat die Ansicht, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen seien wie Gesetze auszulegen. Es könne daher schon grundsätzlich auf die Definition des Transportsmittelunfalls im „Prämientarif“ – dessen Anwendung zwischen den Streitteilen nicht vereinbart worden sei – nicht ankommen; maßgebend für die Auslegung dieses Begriffs sei vielmehr sein objektiver Sinngehalt. Bei der Ermittlung des objektiven Sinngehalts einer generellen Norm nach ihrem Zweck sei der vom Normsetzer als typisch vorausgesetzte Lebenssachverhalt und der auf dieser Grundlage gebotene Interessenausgleich zugrundezulegen; eine Einzelfallgestaltung müsse vorerst unbeachtet bleiben. Im vorliegenden Fall dürfe nicht übersehen werden, dass allein die richtige Reaktion des Lenkers Oskar H***** es bewirkt habe, dass eine mechanische Gewalt auf den LKW der Klägerin nicht eingewirkt und daher der LKW Beschädigungen nicht erlitten habe. Es sei nicht einzusehen, weshalb ein Versicherter den Versicherungsschutz durch eine solche richtige Reaktion verlieren sollte. Eine derart enge Auslegung des Begriffs „Transportmittelunfall“ sei mit dem Sinn und Zweck des nach den AÖB 1965 zu gewährenden Versicherungsschutzes nicht in Einklang zu bringen. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts sei daher ein Transportmittelunfall anzunehmen. Das Erstgericht werde daher Feststellungen zu den weiteren von der Beklagten in Anspruch genommenen Gründen der Leistungsfreiheit zu treffen haben.
Die Beklagte bekämpft den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts mit Rekurs und beantragt, ihn dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichts bestätigt werde.
Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs der Beklagten nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist berechtigt.
Die Beklagte wendet sich gegen die Auslegung des Begriffs „Transportmittelunfall“ durch das Berufungsgericht. Sie meint, eine objektiv-telelogische Interpretation – die danach Frage, was jemand, der eine bestimmte Norm erlasse, damit für Zwecke erreichen bzw für Wertungen realisieren wolle – und eine (subsidiäre) Einzelanalogie führe zu der von ihr vorgenommenen Auslegung des genannten Begriffs. Der „Prämientarif“ sei ebenso wie die AÖB 1965 vom Verband der Versicherungsunternehmungen Österreichs ausgearbeitet worden. Er erläutere diese und sei auch dann zu deren Auslegung heranzuziehen, wenn er nicht ausdrücklich zum integrierenden Vertragsbestandteil erhoben worden sei. Die im „Prämientarif“ gegebene Erläuterung des Begriffs „Transportmittelunfall“ sei jedoch eindeutig, sodass die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung unzulässig erscheine. Das Ergebnis sei kein anderes, wenn man von den AÖB 1965 ausgehe, deren § 2 Abs 2 lit a von den „unmittelbaren Folgen eines dem Transportmittel zugestoßenen Unfalls“ spreche. Die Verhinderung der „Einwirkungen mechanischer Gewalt“ auf den das Gut befördernden LKW stelle keine Minderung des durch die Beklagte im Fall einer Kollision allenfalls zu ersetzenden Schadens dar, weil ein durch einen Unfall des Transportmittels an der Ladung hervorgerufener Schaden vom Unfallsgegner der Klägerin zu ersetzen sei. Gemäß § 1 Abs 2 lit c AÖB 1965 fänden nur Aufwendungen zur Abwendung oder Minderung des Schadens bei Eintritt des Versicherungsfalls Deckung, nicht aber dadurch entstandene Schäden, da diese gemäß § 1 Abs 2 lit a AÖB 1965 nur als unmittelbare Folge der versicherten Gefahr gedeckt würden.
Der Oberste Gerichtshof vermag sich gleich der Beklagten der Auslegung des Begriffs „Transportmittelunfall“ durch das Berufungsgericht nicht anzuschließen.
Dahingestellt bleiben kann, ob der seinerzeit ausgesprochene Grundsatz, Versicherungsbedingungen seien wie Gesetze auszulegen, aufrechterhalten werden kann, oder ob Allgemeine Versicherungsbedingungen als Allgemeine Geschäftsbedingungen (§ 914 f ABGB) zu behandeln sind (vgl 7 Ob 17/84); denn das Verfahrensergebnis wird hiedurch nicht beeinflusst.
Das Berufungsgericht hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Anwendung des „Prämientarifes“ zwischen den Streitteilen nicht vereinbart wurde, sodass dieser Tarif entgegen den Ausführungen des Erstgerichts AS 36 nicht Vertragsbestandteil geworden ist. Dadurch, dass der „Prämientarif“ nicht zur Vertragsgrundlage gemacht wurde, unterscheidet sich der vorliegende Fall auch deutlich von jenem Sachverhalt, der der Entscheidung 7 Ob 63/76 (= VersR 1978, 880) zugrunde lag. Wenn auch die dargestellte Erläuterung des Begriffs „Transportmittelunfall“ im „Prämientarif“ nicht zur Auslegung herangezogen werden kann, findet die Rechtsansicht der Beklagten, es müsse ein Unfall des Transportmittels und dessen Beschädigung einem durch diese Beschädigung entstandenen Schaden am Transportgut vorangehen oder mit dieser gleichzeitig eingetreten sein, in der Bestimmung des § 2 Abs 2 lit a der AÖB 1965 ihre Stütze, wonach unter anderem Schäden von der Versicherung ausgeschlossen sind, die durch Verstreuen ... der Güter verursacht werden, es sei denn, dass diese Schäden als unmittelbare Folge ... eines dem Transportmittel zugestoßenen Unfalls ... nachgewiesen werden. Sin die Schäden an den Gütern als Folge „eines dem Transportmittel zugestoßenen Unfalls“ nachzuweisen, kann dies nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nichts anderes bedeuten, als dass das Transportmittel einen Unfall mit einem dadurch verursachten Schaden erlitten haben muss. Unter Unfall ist nach ständiger Lehre und Rechtsprechung (Veit, MGA EKHG3, 14, Anm 1, und die dort angeführten weiteren Nachweise; ZVR 1965/200 ua) ein unmittelbar von außen her plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis zu verstehen. Zweifellos liegt ein Unfall nicht nur dann vor, wenn Schäden durch Berührung mit einem anderen Kraftfahrzeug entstanden sind (vgl Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht II2, 512; ZVR 1982/361 ua); doch wird von einem dem Transportmittel zugestoßenen Unfall dann nicht gesprochen werden können, wenn dieses – etwa wie hier bei einem Ausweichmanöver – unbeschädigt geblieben ist. Dass eine solche Auslegung des Begriffs „Transportmittelunfall“ dem Zweck der Transportversicherung wiederspräche, nach objektiv-teleologischer Interpretation also unhaltbar sei, kann nicht gesagt werden. Die in § 2 Abs 2 lit a AÖB 1965 getroffene Regelung, der Schaden am Gut müsse als unmittelbare Folge eines dem Transportmittel zugestoßenen Unfalls nachgewiesen werden, kann durchaus den Sinn haben, Schäden am Gut von der Haftung auszuschließen, die entstanden sind, obwohl eine Beschädigung des Transportmittels vermieden werden konnte. Die vorgenommene Regelung ist geeignet, das Vortäuschen von Schäden am Gut als Folge eines Unfalls, der nicht auch dem Transportmittel zugestoßen ist, sodass die Ursächlichkeit eines derartigen Unfalls für Schäden am Gut fragwürdig erscheint, zu unterbinden.
Die erörterte Bestimmung der AÖB konnte deshab von der Klägerin auch nach der Übung des redlichen Verkehrs (§ 914 ABGB) nicht anders als in der beschriebenen Weise verstanden werden.
Im Ergebnis mit Recht hat deshalb das Erstgericht einen Transportmittelunfall verneint. Es bedarf aus diesem Grunde keiner weiteren Erhebungen darüber, ob die von der Beklagten in Anspruch genommene Leistungsfreiheit (auch) aus anderen Gründen gegeben ist. Da die Streitsache zur Entscheidung reif ist, konnte der Oberste Gerichtshof durch Urteil in der Sache selbst erkennen und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherstellen (§ 519 Abs 2 ZPO).
Die Kostenentscheidung erfolgte nach §§ 41, 50 ZPO.
Textnummer
E116909European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1984:0070OB00021.840.0620.000Im RIS seit
31.01.2017Zuletzt aktualisiert am
31.01.2017