TE OGH 1984/12/14 6Ob708/84

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Veröffentlicht am 14.12.1984
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch, Dr.Schobel, Dr.Riedler und Dr.Schlosser als weitere Richter in der Vormundschaftssache der mj. Sandra A***, geboren 29.März 1976, derzeit bei den Pflegeeltern Josef und Franziska W***, Landwirte,

4753 Traiskirchen, Lacken 4, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wels als Amtsvormund, infolge Revisionsrekurses der Mutter Rosemarie T***, Hausfrau, 4600 Wels, Zieglerstraße 44, vertreten durch Dr. Siegfried Schwab, Rechtsanwalt in Wels,gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wels als Rekursgerichtes vom 28. Juni 1984, GZ R 553/84-64, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Wels vom 12. April 1984, GZ P 491/82-56, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die mj. Sandra Nicole A*** wurde am 29.3.1976 als

uneheliches Kind der Rosemarie A*** (nunmehr verehelichte T***) geboren. Günther Johann W*** hat die Vaterschaft zu diesem Kind anerkannt. Am 6.7.1979 wurde Sandra A*** im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe bei den Pflegeeltern Josef und Franziska W*** in Traiskirchen untergebracht. Am 7.7.1982 beantragte die Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis als Amtsvormund, den Verbleib der Minderjährigen bei den Pflegeeltern gemäß § 26 Abs 2 JWG zu genehmigen. Am 16.7.1982 beantragte die Mutter des Kindes, die am 5.6.1982 mit Franz T*** die Ehe geschlossen hatte, ihr das Kind in Pflege und Erziehung zurückzugeben. Sie behielt das Kind nach einem Besuch am 22.7.1982 zunächst bei sich. Hierauf kam es am 11.8.1982 vor dem Bezirksgericht Ried im Innkreis zum Abschluß eines "Vergleiches" zwischen den Ehegatten W*** und der Mutter des Kindes, wonach das Gericht zunächst die Unterbringung auf dem Pflegeplatz bei Josef und Franziska W*** gemäß § 26 Abs 2 JWG genehmigte. Gleichzeitig ordnete es aber auch die Übergabe des Kindes an die Mutter zur Pflege und Erziehung für den 4.9.1982 an. Bis zur Übergabe wurde der Mutter und ihrem Ehemann ein Besuchsrecht an jedem Samstag eingeräumt. Gleichzeitig wurde den Pflegeeltern für die Folgezeit nach der Übergabe des Kindes ein weitgehendes Besuchsrecht und zwar in den Monaten September und Oktober 1982 an jedem Wochenende von Samstag 9 Uhr bis Sonntag 18 Uhr und ab November 1982 an jedem 1. und 3. Wochenende eingeräumt. In der Folge wurde das Vormundschaftsverfahren gemäß § 111 Abs 1 JN an das Bezirksgericht Wels übertragen. Die Mutter des Kindes stellte am 25.10.1982 den Antrag, das Besuchsrecht der Pflegeeltern auf einen Tag im Monat zu beschränken. Diesem Antrag gab das Erstgericht mit rechtskräftigem Beschluß vom 3.3.1983 statt. Am 6.6.1983 beantragte die Mutter des Kindes, den Pflegeeltern jedes weitere Besuchsrecht zu entziehen. Am 27.9.1983 beantragte der uneheliche Vater Günther W***, ihm ein Besuchsrecht an jedem 1. Sonntag eines jeden Kalendermonates zu gewähren.

Am 17.2.1984 stellte der Amtsvormund den Antrag, die Minderjährige gemäß § 26 Abs 1 JWG in gerichtliche Erziehungshilfe zu überweisen. Zur Begründung wurde angeführt, bei der Minderjährigen liege ein Erziehungsnotstand vor, zu dessen Behebung die langfristige Unterbringung bei den ehemaligen Pflegeeltern Josef und Franziska W*** geplant sei.

Das Erstgericht überwies die Minderjährige gemäß § 26 Abs 1 JWG in gerichtliche Erziehungshilfe durch Unterbringung bei den Pflegeeltern Josef und Franziska W*** und ordnete den sofortigen Vollzug dieser Maßnahme an. Die Anträge der Mutter Rosemarie T***, den Pflegeeltern die Besuchsrechtsausübung zu untersagen, und den Antrag des Vaters auf Einräumun eines Besuchsrechtes wies es ab. Zur Begründung führte das Erstgericht aus, daß die Mutter Rosemarie T*** infolge Fehlens der Erziehungsfähigkeit die ihr obliegenden Pflichten nicht erfülle und das Kind psychisch krank und unglücklich mache. Es liege somit ein Erziehungsnotstand vor, der nur durch die bewährte langfristige Erziehung bei den Pflegeeltern im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe behoben werden könne. Vorsorglich sei jetzt schon dargetan, daß derzeit einem Antrag der Mutter auf Regelung ihres persönlichen Verkehrs mit der Minderjährigen nicht näher getreten werden könne. Der Antrag der Mutter auf gänzliches Versagen des Besuchsrechtes der Pflegeeltern sei durch die nunmehrige Entscheidung überholt und daher abzuweisen, ebenso der Antrag des Vaters auf Regelung seines Besuchsrechtes, zumal ihm die Pflegeeltern Besuche nicht verwehrten.

Mit dem angefochtenen Beschluß gab das Rekursgericht dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es ging bei seiner Entscheidung von folgendem Sachverhalt aus:

Rosemarie A*** wurde im Alter von noch nicht ganz

17 Jahren schwanger und versuchte, die unerwünschte Schwangerschaft mittels Spritzen abzubrechen. Nach drei vergeblichen Versuchen entschloß sie sich, das Kind auszutragen. In den ersten beiden Lebensjahren versorgte die Mutter ihr Kind selbst. In der Folge nahm sie wieder die Arbeit auf, so daß Sandra tagsüber in Pflege gegeben werden mußte. Von Jänner bis Juni 1979 wechselte das Mädchen wiederholt die Pflegeplätze und somit auch die Bezugspersonen. Der leibliche Vater kümmerte sich in dieser Zeit wenig um seine Tochter. Das Kind besuchte jedoch bereits den Kindergarten und nahm an Sprachübungen teil. Ab 6.7.1979 wurde die Minderjährige im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe bei den Pflegeeltern Josef und Franziska W*** in Traiskirchen untergebracht. Sandra war damals ein verschüchtertes Mädchen und auch in ihrer sprachlichen Entwicklung weit zurück. Durch den oftmaligen Wechsel der Bezugspersonen war bei ihr bereits ein Zustand von Frühverwahrlosung eingetreten. Ihre nunmehrigen Pflegeeltern führen eine Landwirtschaft. Sie haben keine eigenen Kinder, wohl aber einen Adoptivsohn Michael, geboren 5.4.1981, der mit fünf Monaten zu ihnen gekommen ist. Mit ihrem einfühlenden und wamrherzigen Verhalten gelang es ihnen, bei Sandra bestehende Entwicklungsrückstände und Verhaltensrückstände abzubauen. Das Mädchen akzeptierte die Pflegeeltern relativ schnell und bezeichnete sie von sich aus als Mama und Papa. Sandra entwickelte sich schließlich zu einem lebhaften Kind, das sich zwar nur schwer ruhig halten konnte, aber nicht nervös war. Das Mädchen spielte viel mit den Nachbarkindern und war sehr unternehmungslustig. Die Bindung zu den Pflegeeltern und zu dem kleinen Michael war sehr innig. Anfangs pflegte die leibliche Mutter kaum Kontakt zu ihrer Tochter. Im November 1979 wurde jedoch auf ihren Wunsch eine Besuchsrechtsregelung in der Form getroffen, daß die Mutter alle sechs Wochen einen Tag mit Sandra verkehren konnte. Sie hielt dieses Besuchsrecht aber nur sehr sporadisch ein und kümmerte sich oft monatelang nicht um ihre Tochter. Anläßlich ihrer Besuche erschien sie immer in Begleitung anderer Männer, so daß sie einen unbeständigen Eindruck erweckte. Der leibliche Vater Günther W*** sah in größeren Zeitabständen bei den Pflegeeltern nach Sandra, um sich über den Pflegeplatz und das Wohlbefinden seiner Tochter zu informieren.

Im November 1981 lernte die Mutter des Kindes ihren späteren Ehemann Franz T*** kennen. Einige Zeit später zog sie mit ihm zusammen und heiratete ihn am 5.6.1982. Zunächst bewohnten die Ehegatten T*** eine Dienstwohnung, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad und WC in Wels. Die Ehegatten T*** wollten nun das Kind zu sich nehmen. Entgegen der Empfehlung des zuständigen Amtsvormundes der Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis wurde das Kind am 23.7.1982 von der Mutter abgeholt und erst nach massiver Intervention des Amtsvormundes am 30.7.1982 zu den Pflegeeltern zurückgebracht. Auf Grund des zwischenzeitlich abgeschlossenen Vergleiches kam das Kind vor seiner Einschulung am 4.9.1982 zu seiner Mutter. Die Pflegeeltern übten ihr Besuchsrecht aus. Das Mädchen hatte immer große Freude an diesen Besuchen und äußerte auch einigemale den Pflegeeltern gegenüber, daß sie wieder bei ihnen bleiben wolle. Wenn die Zeit des Abschiednehmens gekommen war, wirkte Sandra immer sehr traurig. Zu dieser Zeit besuchte Sandra bei der Sonderschullehrerin Anneliese V*** den Sprachheilunterricht. Sie prach zwar stark dialektgebunden, war aber zudem ein "Sprachschwächetypus", das heißt sie war durch Entwicklungsverzögerungen in der Sprachentwicklung gestört gewesen. Die Behandlung hätte vorgesehen, in ca. 20-minütigen Sessionen mit dem Kind scherzhaft und munter zu plaudern. Solche Gespräche waren aber nicht möglich, da Sandra immer betrübt, gehemmt und unfroh war. Anläßlich einiger mit der Mutter geführten Gespräche gewann die Sonderschullehrerin den Eindruck, daß die Mutter kein Verständnis für die schwierige Situation der Kleinen hatte, sondern die Schuld an allfälligen Schwächen und Mängeln des Kindes den Pflegeeltern zuschob. Anneliese V*** teilte dem Jugendamt auch brieflich mit, daß ihr die Mutter mit der Erziehung des Kindes überfordert erschien. Es kam vor, daß Sandra nach diesen Besuchen nicht in die elterliche Wohnung zurückkehrte, sondern von ihrer Mutter gesucht werden mußte. In der Folge wurde das Mädchen vom Unterricht wieder abgemeldet, ohne daß die Mängel beseitigt worden wären. Die Abmeldung erfolgte vor allem auf Betreiben des Stiefvaters. Sandra hatte sich nun wieder in ein völlig verunsichertes Kind mit erheblichen psycho-somatischen Beschwerden (Schitzen an Händen und Füßen, zeitweiliges Erbrechen, Kopfschmerzen, übernervös und wegen Kleinigkeiten erschreckt) verwandelt. Bei jeder Gelegenheit setzten die Mutter und der Stiefvater dem Kind gegenüber die Pflegeeltern herab. Sie versuchten, die positiven Gefühle des Kindes zu den Pflegeeltern auszulöschen. Wenngleich an den äußeren Verhältnissen nichts mangelte - das Kind war gepflegt und ordentlich konnten die Mutter und der Stiefvater dem Kind nicht die Geborenheit, die es bei den Pflegeeltern verspürt hatte, vermitteln. Die Mutter erreichte durch ihre Beeinflussung auch, daß das Kind erklärte, die Pflegeeltern nicht mehr besuchen zu wollen. Um das Kind nicht noch weiter zu verunsichern, verzichteten die Pflegeeltern schließlich auf die Ausübung des Besuchsrechtes. Die schulischen Leistungen der Minderjährigen wurden während des ersten Halbjahres der ersten Klasse mit befriedigend beurteilt. Vor allem beim Schreiben und Lesen hatte das Mädchen große Schwierigkeiten. Es bediente sich einer kleinkindhaften Sprache und Ausdrucksweise und besaß nur eine geringe Merkfähigkeit. Durch ihren Fleiß, vor allem aber durch die überaus ehrgeizigen Eltern zum Üben angehalten, steigerte Sandra schließlich im zweiten Halbjahr ihre Leistungen auf gut bzw. sehr gut. Da weder die Mutter noch der Stiefvater große Geduld aufwiesen, kam es mitunter auch vor, daß Sandra, wenn sie nicht schön geschrieben hatte oder die Lösung einer Rechnung schuldig geblieben war, geschlagen wurde. Mitte Mai 1983 übersiedelten die Ehegatten in ein kleines gemietetes Einfamilienhaus mit Garten. Obwohl Sandra in der Zwischenzeit eine enge Beziehung zu einer Klassenlehrerin aufgebaut hatte, muteten die Ehegatten T*** dem Kind entgegen den Empfehlungen von Schule und Jugendamt einige Wochen vor Schulschluß einen Schulwechsel zu. Das aus drei Zimmern und Nebenräumen bestehende Haus kostet monatlich S 3.300,- Miete, zuzüglich S 1.900,- an Betriebskosten. Franz T***, der als Schlosser bei der ÖBB ca. S 10.000,- verdient, muß angesichts der Ausgaben für das Kind sparsam wirtschaften. Seit 1.12.1983 führen die Ehegatten eine Weinverkaufsstelle, um etwas dazu zu verdienen. Auch hat die Mutter des Kindes nunmehr eine Heimarbeit aufgenommen, die ihr monatlich S 2.000,- bis S 2.500,-

einbringt. Im Juni 1983, als Sandra wieder einmal unter der Aufsicht ihres Stiefvaters ihre Aufgaben machte und dabei seiner Meinung nach unartig war, schlug der Stiefvater erzürnt auf das Mädchen ein, zerrte es an den Kleidern und zwickte es in die Wange. Am darauffolgenden Tag klagte Sandra bei ihrer Lehrerin über Schmerzen am ganzen Körper und wies auch blaue Flecken auf der Wange auf. Daraufhin setzte sich die Lehrerin mit der Mutter des Kindes in Verbindung. Diese bagatellisierte jedoch den Vorfall. Da Sandra aber weiterhin über Kopfschmerzen klagte, wurde sie schließlich von ihrer Mutter ins Krankenhaus gebracht. Dort mußte Sandra angeben, daß sie sich bei einem Kasten im Kinderzimmer angestoßen habe, ansonsten drohte ihr die Mutter mit dem Kommen der Polizei. Der Arzt äußerte Verdacht auf eine leichte Gerhinerschütterung. Anläßlich einer Vorstellung bei der Erziehungsberatung im Juli 1983 benahm sich Sandra unsicher, ängstlich und scheu. Durch den plötzlichen Abbruch der starken positiven gefühlsmäßigen Bindung an die Pflegeeltern, "durch das eifersüchtige, nicht einfühlsame Verhalten der Mutter auf die Pflegeeltern" und durch die strenge Vorgangsweise des Stiefvaters war bei Sandra eine massive psychische Schädigung eingetreten. Der Erziehungsberatung erschien eine heilpädagogische Behandlung unbedingt erforderlich. Bei dem Gespräch mit der zuständigen Sozialarbeiterin des Jugendamtes der Stadt Wels bestätigte die Mutter auch die Mißhandlungen Sandras durch den Stiefvater, wenn sie beim Lernen nicht entsprach. Aber auch sie hatte Sandra mitunter gezüchtigt, weil ihr einfach die Ausdauer fehlte. Die Mutter selbst machte den Vorschlag, Sandra ab Herbst in den Hort zu geben, da sie dort Lernhilfe bekäme. Somit wurde Sandra auch vorgemerkt. Im Herbst 1983 lehnten die Eltern jedoch den Hortbesuch ab, weil dieser zu viel Geld gekostet hätte. In dieser Zeit hatte Sandra wieder Kontakt mit ihrem leiblichen Vater. Ebenfalls im Herbst verschlechterte sich das Eheleben der Ehegatten T*** zusehends, sodaß Rosemarie T*** eine Trennung von ihrem Gatten in Betracht zog.

Die schulischen Leistungen Sandras in der zweiten Klasse waren indessen im ersten Halbjahr recht gut. Sie war anfangs zurückhaltend, knüpfte aber mit der Zeit enge Kontakte zu einigen Mitschülerinnen. Auf Zurechtweisungen ihrer Lehrerinnen reagierte sie zu deren Verwunderung eigenartig. Sie erklärte dann, sie gehe zu Günther oder zu den Pflegeeltern, nie sagte sie aber, daß sie zu den Eltern gehe. Am Verhalten des Mädchens war überdies zu bemerken, daß es nunmehr begann, die beteiligten Personen gegeneinander auszuspielen, indem es jeweils etwas Nachteiliges über eine Partei der anderen Partei zutrug. Sandra nützte auch das Bemühen der Beteiligten in der Weise, daß sie gegenüber ihrem leiblichen Vater und gegenüber den Pflegeeltern, die sie mit diesem gelegentlich besuchte, "massive Ansprüche" äußerte.

Die kinderund jugendpsychologische Sachverständige Dr. Brigitte Hauk beschrieb die Situation, in der sich die Minderjährige befand, wie folgt:

Mit drei Jahren kam Sandra im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe zu den Pflegeeltern. Sie wies damals sichtbare Entwicklungsrückstände auf. Durch die liebevolle und einfühlsame Betreuung und Erziehung der Pflegeeltern hatte Sandra die Chance, in einer vollständigen und harmonischen Familie die bisher erfahrenen Defizite in der leib-seelischen Entwicklung abzubauen. Im Schutze der Geborgenheit der Familie entwickelte sie sich zu einem heiteren kontaktfreudigen Kind. Durch das Erlebnis des Betreutwerdens und das Beziehungsangebot sind die Pflegeeltern W*** in dieser Zeit die faktischen Eltern von Sandra geworden. Der abrupte Wechsel in die Familie der Mutter, das Verdrängenmüssen der positiven Erinnerungen an die liebgewordenen Pflegeeltern, um nicht in Konflikt mit ihren jetzigen Eltern zu geraten, und der Stiefvater, den das Mädchen fürchtet, führten dazu, daß Sandra wieder ängstlich und verunsichert wurde. Sie wies Kontaktschwierigkeiten und Verhaltensschwierigkeiten (Lügen aus Angst, Davonlaufen) sowie massive Beschwerden, deren Ursachen seelisch bedingt sind (Bauchschmerzen, häufiges Erbrechen, Gewichtverlust, Kopfschmerzen, starke Schweißhände und Nervosität), auf. Ebenso konnten Autoaggressionen in Form von exzessivem Kratzen beobachtet werden. In der Familie T*** fühlte sich das Kind total isoliert und allein gelassen. Die leibliche Mutter muß trotz der äußeren geregelten Lebensumstände als erziehungsuntüchtig bezeichnet werden. Echte mütterliche Gefühle, die auch Verständnis für kindgemäße Bedürfnisse und entwicklungsbedingte Schwierigkeiten zeigen, waren bei ihr nicht zu beobachten. Die Mutter betrachtete das Kind nur als Objekt, das man vorzeigen und über das man nach Lust und Laune verfügen kann. Sie und ihr Gatte waren weder zur Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern, der Klassenlehrerin oder der Psychologen bereit, noch hatten sie ein offenes Ohr für unterstützende Gespräche von seiten des Jugendamtes. Positive Beziehungen des Kindes, gefühlsmäßige Bindungen an andere Personen, wurden von der Mutter nicht respektiert, sondern aus Eifersucht unterbunden. Sie verstieß somit vehement gegen die Grundbedürfnisse eines heranwachsenden jungen Menschen. Sobald Sandra auf diese extreme Belastungssituation mit Verhaltensschwierigkeiten reagierte, wurden stets andere Personen, häufig die Pflegeeltern, dafür verantwortlich gemacht. Die Eheleute T*** waren nicht bereit, ihr eigenes Erziehungsverhalten in kritischen Beziehungen mit den Schwierigkeiten Sandras zu sehen oder es in der Folge zu korrigieren. Die Mutter, die einerseits bei Partnerproblemen das Kind als Verbündete mißbrauchte, anderseits voll hinter den Entscheidungen ihres Mannes stand, sich diesem dann zumindest vordergründig anpaßte und ihn sogar bei seinen Mißhandlungen deckte, stellt für Sandra durch ihr eigenes ambivalentes und äußerst unzuverlässiges Verhalten keine Stütze im derzeitigen Sozialisierungsprozeß dar, sondern ist vielmehr ein zusätzliches Risiko für eine mögliche störungsfreie Gesamtentwicklung. Die Sachverständige kam deshalb zu folgender Diagnose: Bei einem Weiterverbleib des Mädchens in dem krankmachenden Milieu muß damit gerechnet werden, daß sich die bereits vorhandenen neurotischen Reaktionsweisen des Kindes noch deutlicher manifestieren und es neurotisch bedingt verwahrlost. Auf Grund der nachgewiesenen erzieherischen Insuffizienz der Mutter und der mißbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge durch den Stiefvater wird dringend eine Fremdunterbringung Sandras empfohlen. Da das Kind nach wie vor eine positive Beziehung zu den Pflegeeltern hat und diese durch ihr bisheriges Verhaten ein hohes Ausmaß an Erziehungsfähigkeit unter Beweis gestellt haben, ist es naheliegend, dem Kind die Rückkehr zu den Pflegeeltern zu ermöglichen und eine langfristige Unterbringung im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe sicherzustellen. Rechtlich vertrat das Rekursgericht die Auffassung, angesichts der nachgewiesenen Erziehungsunfähigkeit der Mutter und der mißbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge durch den Stiefvater, sei ein Erziehungsnotstand eingetreten, der eine Fremdunterbringung der Minderjährigen dringend notwendig erscheinen lasse. Gegen diesen Beschluß richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter aus dem Grund der offenbaren Gesetzwidrigkeit mit den Anträgen, den angefochtenen Beschluß dahin abzuändern, daß die Minderjährige endgültig ihrer leiblichen Mutter zugewiesen und jegliches Besuchsrecht der bisherigen Pflegeeltern untersagt werde, oder den Beschluß aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist gerechtfertigt.

Gemäß § 26 Abs 1 letzter Satz JWG darf das Vormundschaftsgericht die gerichtliche Erziehungshilfe nur anordnen, wenn sie deshalb geboten ist, weil die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchen oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen. Wenn auch im Rahmen eines außerordentlichen Revisionsrekurses im allgemeinen nicht überprüft werden kann, ob die von den Vorinstanzen angenommenen tatsächlichen Umstände zur Rechtfertigung einer Maßnahme nach § 26 JWG ausreichen (Efslg 30.578, 32.647 u.a.), so ergibt sich aus dem Wortlaut des § 26 Abs 1 JWG doch klar, daß der Erziehungsnotstand seine Ursache in einem Mißbrauch der Erziehungsgewalt oder einer Nichterfüllung der mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten haben muß, mag letzteres auch darauf beruhen, daß der Erziehungsberechtigte nicht geeignet ist, dem Kind die erforderliche Hilfe zu gewähren. Es bedarf daher konkreter Feststellungen über die Handlungen und Unterlassungen des Erziehungsberechtigten und über die zum Wohle des Kindes erforderlichen erzieherischen Maßnahmen, und nicht bloß allgemeiner Wertungen, wie "nachgewiesene Erziehungsunfähigkeit" und "krankmachendes Milieu". Die diesbezüglich von den Vorinstanzen der Mutter vorgeworfenen konkreten Handlungen und Unterlassungen erschöpfen sich jedoch im wesentlichen darin, daß ihr vorgeworfen wird, sie habe die Bindung der Minderjährigen an ihre bisherigen Pflegeeltern plötzlich abgebrochen, sei auf die Pflegeeltern eifersüchtig, habe kein Verständnis für die schwierige Situation der Minderjährigen, überfordere sie in schulischen Belangen, sei nicht zur Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern, der Klassenlehrerin oder den Psychologen bereit und respektiere nicht die gefühlsmäßigen Bindungen der Minderjährigen an andere Personen. Alle diese Vorwürfe wurden jedoch in keiner Weise konkret umschrieben, sondern die Vorinstanzen begnügten sich damit, die diesbezüglichen Schlußfolgerungen der Sachverständigen wiederzugeben. Der einzige konkrete Vorwurf besteht darin, daß der Mutter die gelegentliche Züchtigung der Minderjährigen im Zusammenhang mit der Verrichtung von Hausaufgaben un die Deckung des Stiefvaters bei einem einmaligen gravierenden derartigen Vorfall vorgeworfen wird. Da jedoch im Verfahren nicht hervorgekommen ist, daß es sich bei den gelegentlichen Züchtigungen durch die Mutter auch nur entfernt um härtere Bestrafungen gehandelt hätte, könnten diese Vorwürfe allein einen Mißbrauch der Erziehungsgewalt nicht begründen. Würde eine derart einschneidende Maßnahme wie die langfristige Unterbringung der Minderjährigen auf einem Pflegeplatz und die damit verbundene, vom Gesetz jedoch nur in Ausnahmefällen vorgesehene Trennung von der leiblichen Mutter allein darauf gestützt, hätte das Gericht damit das ihm eingeräumte pflichtgemäße Ermessen überschritten, was auch im Rahmen eines außerordentlichen Revisionsrekurses aufgegriffen werden muß.

Damit erweist sich jedoch, daß die angeordnete gerichtliche Erziehungshilfe nach den derzeitigen Feststellungen offenbar gegen § 26 Abs 1 letzter Satz JWG verstößt.

Im fortgesetzten Verfahren wird zu beachten sein, daß Voraussetzung für die Gewährung der Erziehungshilfe das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes ist, der voraussetzt, daß seitens der Eltern (hier der unehelichen Mutter) für das Kind überhaupt nicht gesorgt wird oder die Fürsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes oder der Allgemeinheit gefährdet wird (SZ 47/137; SZ 49/38 u.v.a.). Daß die Erziehung bei einer dritten Person besser wäre als die an sich ordnungsgemäße Erziehung bei den Eltern, rechtfertigt keine Anordnung der Erziehungshilfe nach § 26 JWG (Efslg 33.605 u.a.). In diesem Zusammenhang kann auch auf Schwierigkeiten, die sich aus der Rückkehr des Kindes zu den Eltern in psychischer Hinsicht ergeben, nicht Bedacht genommen werden, weil den Eltern (hier der Mutter) das Recht auf Erziehung des Kindes primär zusteht (SZ 47/137 u.v.a.).

Das Erstgericht wird bei seiner neuerlichen Entscheidung in seine Erwägungen nicht allein das Gutachten der Sachverständigen, sondern auch die anderen Verfahrensergebnisse, wie etwa die Aussagen der Lehrerinnen und des Schulpsychologen einzubeziehen haben. Auch wird zu prüfen sein, ob die psychischen Störungen bei der Minderjährigen nicht darin ihre Ursachen haben, daß das Kind in den Interessenkonflikt zwischen den ehemaligen Pflegeeltern und seiner leiblichen Mutter verstrickt und hiedurch völlig verunsichert wurde, so daß es nicht mehr wußte, wo es hingehört. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß den ehemaligen Pflegeeltern keineswegs ein gesetzliches Besuchsrecht zustand und sich anderseits aus dem Akt eindeutig ergibt (vgl. das Vorbringen der Pflegeeltern ON 19 d.A.), daß die Pflegeeltern vehement gegen die Rückgabe der Minderjährigen in die Pflege der leiblichen Mutter aufgetreten sind. Auch wird zu prüfen sein, ob im Hinblick auf die beantragte einschneidende Maßnahme, welche eine lang andauernde Trennung der Minderjährigen von ihrer leiblichen Mutter bedeuten würde, die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zweckmäßig wäre, zumal im bisherigen Gutachten gewisse Widersprüche nicht zu übersehen sind. So wirft die Sachverständige der Mutter vor, die Einschulung der Minderjährigen sei eine Fehlentscheidung gewesen (ON 43 S 159), obgleich sich aus dem Akt ergibt, daß die Mutter diese Entscheidung nach Rücksprache mit dem Schulpsychologen Dr. M*** getroffen hat (ON 54 S. 205). Auch der Vorwurf, die Mutter habe immer wieder, wenn die Minderjährige eine positive Beziehung nach außen aufgebaut habe, diese kurzerhand unterbunden, was sogar so weit gegangen sei, daß zwar schon verschiedene Haustiere für das Kind angeschafft worden seien, diese aber immer nur kurzfristig in der Familie geblieben seien, ist in keiner Weise objektiv begründet, fehlen doch jegliche Hinweise darüber, aus welchen Gründen die Haustiere wieder entfernt wurden. Wenn die Sachverständige ausführt, bei weiterem Verbleib des Kindes bestehe die Gefahr von Eigentumsdelikten, so gibt sie dafür überhaupt keine Begründung. Auch stehen ihre Ausführungen, die Mutter betrachte ihr Kind nur als Objekt zum Herzeigen, über das sie nach Lust und Laune verfügen könne, bei ihr seien echte mütterliche Gefühle nicht zu beobachten, im kraßen Widerspruch zu den Aussagen des Schulpsychologen (ON 54 S 207 f) und der Lehrerin der Minderjährigen, Gerda B*** (ON 51 S 196 f). Gleiches gilt für die Behauptung der mangelnden Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin (vgl. ON 51 Seite 196 f). Schließlich können auch die Sprachschwierigkeiten des Kindes kaum der Mutter zum Vorwurf gemacht werden, befand sich das Kind doch in den letzten drei Jahren vor seiner Einschulung bei den Pflegeeltern. Da eine abschließende Beurteilung auf Grund des bisherigen Verfahrens nicht möglich ist, waren in Stattgebung des Revisionsrekurses die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben und war dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung aufzutragen. Dabei wird bis zur Rechtskraft dieser endgültigen Entscheidung ein neuerlicher Wechsel des Pflegeplatzes tunlichst zu vermeiden sein. Das Kind wäre daher vorerst bei den Ehegatten W*** zu belassen. Erst wenn die Frage der Pflege und Erziehung des Kindes gelöst ist, kann auch über die anderen Anträge (Besuchsrechtsregelung) entschieden werden.

Anmerkung

E08916

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1984:0060OB00708.84.1214.000

Dokumentnummer

JJT_19841214_OGH0002_0060OB00708_8400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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