Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Petrasch sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurz, Dr. Warta und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A B C, Wien 1., Börsegasse 14, vertreten durch Dr.Friedrich Hohenauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Günther D, Pflach, Reuttener Straße 62, vertreten durch Dr.Dieter Außerladscheider, Rechtsanwalt in Reutte, wegen S 100.000,-- s.A. infolge ao.
Revision der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 19.Oktober 1984, GZ. 6 R 238/84-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 12.Juli 1984, GZ. 6 Cg 124/83-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Zwischenurteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Reutte vom 29.6.1981, U 236/81-11, wurde der Beklagte der fahrlässigen schweren Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB schuldig erkannt. Dem Schuldspruch wurde zugrundegelegt, daß der Beklagte am 26.2.1981 in Reutte als Lenker des PKW T 157.355 auf eisglatter Straße mit abgefahrenen Reifen (Profiltiefe 1 mm) und zu schnell gefahren ist, wobei es zur Kollision mit dem von Walter E gelenkten PKW kam und wodurch mehrere Personen zum Teil schwer und zum Teil leicht verletzt wurden. Das Landesgericht Innsbruck als Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil, hielt jedoch eine Überprüfung der Schuldkomponente des Fahrens mit abgefahrenen Reifen für entbehrlich, weil das Fahren mit relativ überhöhter Geschwindigkeit für den Schuldspruch ausreiche.
Die klagende Partei ist der Haftpflichtversicherer des vom Beklagten gelenkten PKW. Sie behauptet, an die Geschädigten Leistungen von mehr als S 100.000 erbracht zu haben. Sie macht wegen der abgefahrenen Reifen des vom Beklagten gelenkten PKWs Leistungsfreiheit auf Grund des Art. 7 der AKHB 1967 geltend und begehrt Ersatz ihrer Versicherungsleistungen im Ausmaß der Leistungsfreiheit von S 100.000 s.A.
Der Beklagte bestreitet die ihm angelastete Verletzung der Gefahrstandspflicht, die Höhe der Versicherungsleistungen und die Richtigkeit der von der klagenden Partei der Schadensliquidierung zugrunde gelegte Verschuldensteilung.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach seinen Feststellungen wiesen die am PKW des Beklagten montierten Winterreifen folgende Profiltiefen auf: Vorne rechts 2 mm, vorne links 2,5 mm, hinten rechts 3 mm und hinten links 4 mm. Der Beklagte fuhr bei einem Geschwindigkeitslimit von 70 km/h mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 70 km/h. Nach dem Gutachten des Sachverständigen könnten mit gut profilierten Reifen wohl größere Seitenführungskräfte und etwas größere Bremsverzögerungen erzielt werden als mit stark abgefahrenen Reifen. Der Unfall wäre mit größter Wahrscheinlichkeit aber auch dann gleichartig abgelaufen, wenn am PKW des Beklagten gut profilierte Winterreifen aufgezogen gewesen wären.
Das Erstgericht verneinte auf Grund der festgestellten Profiltiefen der Reifen eine Gefahrerhöhung.
Rechtliche Beurteilung
Das Berufungsgericht erkannte mit Zwischenurteil zu Recht, daß der Anspruch der klagenden Partei dem Grunde nach zu Recht bestehe. Nach der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes komme dem Strafurteil Bindungswirkung auch hinsichtlich der den Schuldspruch begründenden Tatsache des Fahrens des Beklagten mit abgefahrenen Reifen zu. Es handle sich hiebei nicht bloß um ein Illustrationsfaktum, weil nach dem Schuldspruch dem Beklagten zwei getrennte Tathandlungen zur Last gelegt worden seien. Daß es nach dem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck auf das Ausmaß der Beeinträchtigung durch die abgefahrenen Reifen nicht entscheidend ankomme, sei unerheblich, weil das Landesgericht Innsbruck den Urteilsspruch des Bezirksgerichtes Reutte nicht abgeändert habe. Zufolge der Bindungswirkung sei das Erstgericht aber nicht berechtigt gewesen, über die Profiltiefe vom Strafurteil abweichende Feststellungen zu treffen. Ausgehend vom Strafurteil falle aber dem Beklagten die von der klagenden Partei behauptete Obliegenheitsverletzung zur Last. Dem Beklagten sei auch der Beweis jeglicher Mitursächlichkeit der durch die abgefahrenen Reifen bewirkten Gefahrenerhöhung nicht gelungen, weil es für diesen Gegenbeweis nicht ausreiche, daß der Unfall bei gut profilierten Reifen mit größer Wahrscheinlichkeit gleichartig abgelaufen wäre. Das Berufungsgericht erklärte die Revision für nicht zulässig, weil es zur Frage der Bindungswirkung des Strafurteils der herrschenden Lehre und Rechtsprechung folge.
Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes erhobene außerordentliche Revision der beklagten Partei ist zulässig und auch berechtigt.
Die Zulässigkeit der Revision ist darin begründet, daß zu der hier entscheidungswesentlichen spezifischen (und im folgenden näher erörterten) Bindungsfrage bisher - soweit überblickbar - nur eine Entscheidung eines Strafsenates des Obersten Gerichtshofes vorliegt und das Berufungsgericht von der dort vom Obersten Gerichtshof vertretenen Rechtsansicht abweicht.
Die Frage nach der Tragweite der Bindungswirkung des § 268 ZPO ergibt sich hier daraus, daß das Strafgericht erster Instanz den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung in zwei Tathandlungen des Beklagten (dem Fahren mit abgefahrenen Reifen und mit überhöhter Geschwindigkeit) erblickte, während das Berufungsgericht die Tathandlung des Fahrens mit abgefahrenen Reifen als nicht entscheidend beiseiteließ, weil der Schuldspruch auch bei der jedenfalls zutreffenden anderen Schuldkomponente gerechtfertigt sei. Der Oberste Gerichtshof hat in einem ähnlich gelagerten Fall zu § 335 StG (11 Os 131/62 = ZVR 1963/52) ausgesprochen, daß die in einer Strafsache ergehenden Urteile erster und zweiter Instanz als Einheit anzusehen sind. Wenn daher das Urteil der zweiten Instanz zum Ausdruck bringt, es sei bei einem auf zwei Schuldkomponenten gestützten Schuldspruch wegen des Vergehens nach dem § 335 StG, wovon das Vorliegen der einen außer Zweifel steht, nicht erforderlich, die Stichhältigkeit der anderen Schuldkomponente noch weiter zu prüfen, dann besteht in Ansehung dieser Schuldkomponente keine Bindung des Zivilrichters. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsansicht aus der zusätzlichen Erwägung an, weil § 268 ZPO sicherstellen soll, daß die vom Gesetzgeber als weiterreichend und größer angesehenen (Richtigkeits)Garantien des offiziösen Strafprozesses bezüglich seiner Wahrheitsfindung dem Zivilgericht zugutekommen sollen (Fasching III 252;
EvBl. 1982/164). Wenn daher das Vorliegen einer von mehreren dem Beschuldigten angelasteten Tathandlungen im Strafverfahren keiner abschließenden Beurteilung unterzogen und diesem Tatumstand keine Bedeutung für den Schuldspruch beigemessen wird, kann die Richtigkeitsgarantie des offiziösen Verfahrens gar nicht wirksam werden und die Bindungswirkung des Strafurteils insoweit auch nicht eintreten. Dem Umstand, daß der Spruch des erstgerichtlichen Strafurteils vom (Straf)Berufungsgericht nicht abgeändert wurde, kommt dann - entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes - keine Bedeutung zu. Das Erstgericht konnte daher hinsichtlich des Reifenzustandes vom Strafurteil abweichende Feststellungen treffen. Diese Feststellungen wurden jedoch bekämpft. Das Berufungsgericht hat, ausgehend von einer unrichtigen Rechtsansicht, die Beweisrüge nicht behandelt, sodaß mit einer Rückverweisung an die zweite Instanz vorzugehen ist (§ 510 Abs. 1 ZPO). Hat das Berufungsgericht gegen die Beweiswürdigung und die Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes Bedenken - wofür die Ausführungen auf S. 11 des Berufungsurteiles sprechen - wird es nach § 488 ZPO zu verfahren haben.
Eine Behandlung der Beweisrüge durch das Berufungsgericht wäre nur dann entbehrlich, wenn die Rechtsansicht des Erstgerichtes zuträfe, daß dem Beklagten jedenfalls auch der Kausalitätsgegenbeweis gelungen sei, weil es diesfalls dahingestellt bleiben könnte, welche Profiltiefe die Reifen am PKW des Beklagten tatsächlich aufwiesen. An den dem Versicherungsnehmer obliegenden Beweis, daß die Verletzung der Obliegenheit nicht nur auf den Eintritt des Versicherungsfalles, sondern auch auf den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung keinen Einfluß gehabt hat, werden, wie das Berufungsgericht zutreffend darlegte, strenge Anforderungen gestellt, und schon eine teilweise Beeinflussung der Entstehung des Versicherungsfalles oder des Leistungsumfanges macht den Versicherer leistungsfrei. Der Versicherungsnehmer hat allerdings im allgemeinen seiner Beweispflicht dann entsprochen, wenn eine praktisch brauchbare Gewißheit über das Fehlen der Kausalität dargetan wurde (Petrasch in Der Sachverständige Heft 3/84, 67;
ZVR 1974/169; VersR 1972, 1133; VersR 1970, 1044; 7 Ob 48/79; 7 Ob 12/77 ua).
Zu Unrecht erblicken das Erstgericht und der Beklagte in den Feststellungen über die erzielbare Bremsverzögerung mit gut profilierten Winterreifen gegenüber stark abgefahrenen Reifen und den höchstwahrscheinlich gleichartigen Unfallsablauf bei Vorhandensein gut profilierter Winterreifen am PKW des Beklagten einen solchen Nachweis, weil sich daraus nicht ergibt, daß auch die Folgen der strittigen Obliegenheitsverletzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gleichen gewesen wären. Zweifel in dieser Richtung gehen aber zu Lasten des Versicherungsnehmers (Bruck-Möller VVG I/393).
Demgemäß ist der Revision Folge zu geben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.
Anmerkung
E05647European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1985:0070OB00015.85.0328.000Dokumentnummer
JJT_19850328_OGH0002_0070OB00015_8500000_000