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24/01 Strafgesetzbuch;Norm
SPG 1991 §16 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Nowakowski, Dr. Pelant und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Matt, über die Beschwerde des ML in W, vertreten durch Dr. Johannes Müller, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Landhausgasse 4, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 13. Februar 2002, Zl. 10.440/263-II/13/02, betreffend Löschung erkennungsdienstlicher Daten, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 24. Jänner 2001 auf Löschung erkennungsdienstlicher Daten ab.
Zur Begründung dieser Entscheidung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei auf Grund eines Vorfalles vom 20. November 2000 wegen des Verdachtes nach §§ 202 und 218 StGB der Staatsanwaltschaft Wien zur Anzeige gebracht worden. Er sei dieser Anzeige zufolge verdächtig gewesen, am Schwarzenbergplatz beim Überqueren des Fußgängerüberganges eine Fußgängerin zwischen den Beinen im Genitalbereich berührt zu haben. Dieser Vorfall sei Anlass für die erkennungsdienstliche Behandlung und (gemeint: Letztere) zulässig gewesen.
Die Staatsanwaltschaft Wien habe (dem Akt zufolge: mit Schreiben vom 24. Jänner 2002) mitgeteilt, die Anzeige sei mangels Vorliegens eines gerichtlich strafbaren Tatbestandes gemäß § 90 Abs. 1 StPO zurückgelegt worden. Für eine geschlechtliche Nötigung nach § 202 Abs. 1 StGB fehle es am Begehungsmittel "Gewalt" bzw. "gefährliche Drohung"; eine unzüchtige Handlung unter Ausnützung des Überraschungsmomentes sei nicht tatbildlich. Ebenso sei das Tatbild der öffentlich unzüchtigen Handlung nach § 218 StGB nicht zu erweisen; die Wahrnehmbarkeit der konkreten unzüchtigen Handlung des Beschwerdeführers durch einen größeren Personenkreis sei nicht gegeben gewesen.
Die weitere Begründung des angefochtenen Bescheides lautet wie folgt:
"Nach den oben gemachten Ausführungen wären gem. § 74 Abs. 1 SPG die erkennungsdienstlichen Daten zu löschen. Gem. § 74 Abs. 2 SPG ist jedoch dem Antrag nicht stattzugeben, wenn weiteres Verarbeiten erforderlich ist, weil aufgrund konkreter Umstände zu befürchten ist, der Betroffene werde gefährliche Angriffe begehen. In der Regierungsvorlage XVIII GBP 148 der Beilagen NR wird zu dieser Bestimmung ausgeführt, dass 'in jenen Fällen, in denen das Tatbild mangels eines bestimmten Merkmales nicht verwirklicht worden ist (z.B. der 'Öffentlichkeit' im § 218 StGB) von einer Löschung Abstand zu nehmen ist, wenn auf Grund konkreter Umstände ein Rückfall zu befürchten ist'.
Der Gesetzgeber hat somit - wie aus den Gesetzesmaterialen zu entnehmen ist - ausdrücklich einen Sachverhalt angeführt, wie er auch im gegebenen Fall vorliegt.
In diesem Zusammenhang muss auch auf den Vorfall vom 1.7.1999 Bedacht genommen werden, wo Sie im Verdacht standen, eine Körperverletzung zum Nachteil von R und F M begangen zu haben. Von diesem Vorwurf wurden Sie gem. § 259 Zif. 3 StPO aus dem Grund des § 42 StGB rechtskräftig freigesprochen.
Beide Vorfälle (vom 1.7.1999 und 20.11.2000) zeigen ein übersteigertes Aggressionspotential und Aggressionsneigung, insbesondere auch hinsichtlich Ihres Verhaltens während der Amtshandlung vom 20.11.2000, währenddessen Sie mehrere Verwaltungsübertretungen nach dem SPG und dem WLSG begangen haben und dabei unter anderem lautstark und gröblichst schimpften. Im Zusammenhang mit der relativen zeitlichen Nähe beider Vorfälle, liegen nach ho. Ansicht konkrete Umstände im Sinne des § 74 Abs. 2 SPG vor.
Die Erstbehörde hat somit rechtsrichtig Ihren Antrag abgewiesen und war daher spruchgemäß zu entscheiden."
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegenden Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
1. Gemäß § 74 Abs. 1 SPG sind erkennungsdienstliche Daten, die gemäß § 65 Abs. 1 SPG ermittelt wurden, auf Antrag des Betroffenen zu löschen, wenn der Verdacht, der für ihre Verarbeitung maßgeblich ist, schließlich nicht bestätigt werden konnte oder wenn die Tat nicht rechtswidrig war.
Gemäß § 74 Abs. 2 SPG ist dem Antrag jedoch nicht stattzugeben, wenn weiteres Verarbeiten deshalb erforderlich ist, weil auf Grund konkreter Umstände zu befürchten ist, der Betroffene werde gefährliche Angriffe begehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit den Überlegungen des Gesetzgebers, auf denen diese Regelung beruht, und mit den für ihr richtiges Verständnis maßgeblichen Gesichtspunkten vor allem in den Erkenntnissen vom 22. April 1998, Zl. 97/01/0623, Slg. Nr. 14.879/A, und zuletzt vom 2. Oktober 2001, Zl. 2000/01/0233, im Einzelnen auseinander gesetzt. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf diese Ausführungen verwiesen.
2. Im vorliegenden Fall ist die belangte Behörde mit Recht davon ausgegangen, dass der für die Verarbeitung der auf Grund des Vorfalls vom 20. November 2000 ermittelten erkennungsdienstlichen Daten maßgebliche Verdacht schließlich nicht bestätigt werden konnte, weil nach der der Zurücklegung der Anzeige zugrunde liegenden Ansicht der Strafverfolgungsbehörde das dem Beschwerdeführer in der Anzeige zur Last gelegte Verhalten das Tatbild keiner der in Betracht gezogenen Tatbestände des Strafgesetzbuches erfüllte. In Bezug auf § 218 StGB war dies von der Staatsanwaltschaft Wien in ihrer Mitteilung vom 24. Jänner 2002 mit dem Fehlen der Wahrnehmbarkeit des Verhaltens durch einen größeren Personenkreis begründet worden. Diese Beurteilung war von der belangten Behörde - ungeachtet der Behauptungen in der Anzeige, wonach der Vorfall "von mindestens zehn unbekannten Zeugen und einem namentlich bekannten Zeugen ... wahrgenommen" worden sei - auch der Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers zugrunde zu legen (vgl. in dieser Hinsicht vor allem die Ausführungen in dem zitierten Erkenntnis vom 2. Oktober 2001).
Die Nichtverwirklichung der Tatbilder bedeutete im vorliegenden Fall (im Unterschied zu bestimmten anderen einer strafrechtlichen Verurteilung entgegen stehenden Umständen und abgesehen von Fragen des Versuchs oder der Beteiligung an einer strafbaren Handlung sowie von Vorbereitungshandlungen im Sinne des § 16 Abs. 3 SPG) eine Nichtbestätigung des Verdachtes eines gefährlichen Angriffs, sodass dem Antrag des Beschwerdeführers - vorbehaltlich des § 74 Abs. 2 SPG - stattzugeben war.
3. Für ihre Annahme, der Antrag sei jedoch gemäß § 74 Abs. 2 SPG abzuweisen gewesen, stützte sich die belangte Behörde zunächst auf den Umstand, dass die "Öffentlichkeit" im Sinne des § 218 StGB in der Regierungsvorlage zum SPG (148 BlgNR XVIII. GP 50, mit offenbar versehentlicher Verwendung des Wortes "Tag" statt des Artikels "das") - dem Zusammenhang nach - als Beispielsfall eines "zwar für die Setzung des Tatbildes erforderlichen, für die Gefährlichkeit des Täters aber unerheblichen Tatbestandsmerkmales" erwähnt wurde.
Dass dies nicht im Zusammenhang mit § 74 Abs. 2 SPG, sondern im Zusammenhang mit den Voraussetzungen der amtswegigen Löschung von Daten in § 73 Abs. 1 Z 4 SPG geschah, lässt sich diesem Argument der belangten Behörde mit Rücksicht auf die Gleichartigkeit der in beiden Fällen maßgeblichen Voraussetzungen nicht entgegen halten.
Auch die Materialien erwähnen das Fehlen eines solchen Tatbestandsmerkmales aber nur als Fall, in dem die Aufbewahrung der Daten aus Gründen kriminalpolizeilicher Prävention unerlässlich sein "kann", und verweisen ausdrücklich auf das im Gesetz normierte Erfordernis "konkreter Umstände", die eine Begehung gefährlicher Angriffe für die Zukunft "befürchten" lassen. Dass dabei - nicht im Gesetz, sondern an der zitierten Stelle in den Materialien - von der Gefahr eines "Rückfalls" die Rede ist, wird man allerdings nicht wörtlich nehmen dürfen. Gemeint sein können nur künftige Vorfälle, in denen kein für die Bejahung eines gefährlichen Angriffs im Sinne des § 16 Abs. 2 oder 3 SPG (wenn auch nicht notwendigerweise für dessen Strafbarkeit) erforderliches Merkmal fehlt.
Dass ein Vorfall wie der in der Anzeige vom 20. November 2000
behauptete - danach hätte der Beschwerdeführer zur Mittagszeit
einer ihm unbekannten Fußgängerin beim Überqueren der
Lothringerstraße zwischen die Beine gegriffen und sie im Anschluss
daran noch "während der gesamten Sachverhaltsaufnahme" in
aggressiv obszöner Weise beschimpft, im Besonderen lautstark
Geschlechtsverkehr mit ihr gefordert - zu derartigen Befürchtungen
Anlass geben könnte, ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes
nicht auszuschließen. Die belangte Behörde hat aber über den
Verlauf der Ereignisses nur die schon wiedergegebenen
Feststellungen getroffen, der Beschwerdeführer sei "nach dieser
Anzeige ... verdächtig" gewesen, "am Schwarzenbergplatz beim
Überqueren des Fußgängerüberganges eine Fußgängerin zwischen den
Beinen im Genitalbereich berührt zu haben", und er habe im Verlauf
der nachfolgenden Amtshandlung "mehrere Verwaltungsübertretungen
nach dem SPG und dem WLSG begangen ... und dabei unter anderem
lautstark und gröblichst" geschimpft.
Damit hat die belangte Behörde vor allem eine Auseinandersetzung damit vermieden, dass der Beschwerdeführer selbst - der sich nach seiner Festnahme zunächst einer Aussage entschlagen hatte und später wegen der Zurücklegung der Anzeige nicht mehr einvernommen wurde - den Vorfall in seiner an die belangte Behörde gerichteten Berufung völlig anders schilderte. Angesichts dieser Bestreitung des in der Anzeige behaupteten Sachverhalts, des schon im erstinstanzlichen Bescheid hervorgehobenen Fehlens unbeteiligter Zeugen (der in der Anzeige erwähnte namentlich bekannte Zeuge gab an, nur aus größerer Entfernung einen Streit zwischen dem Beschwerdeführer und einer Frau gesehen zu haben, aber nichts über dessen Ursache sagen zu können) und der offensichtlichen Mängel der polizeilichen Anzeige selbst (Verlegung des Geschehens auf den Gehsteig u.a.m.) hätte es für eine auf diesen Vorfall gestützte Gefährdungsprognose näherer Feststellungen auf der Grundlage einer ins Einzelne gehenden Beweiswürdigung bedurft.
Ohne tragfähige Feststellungen über einen Angriff des Beschwerdeführers auf eine Passantin, der im zuvor beschriebenen Sinn Anlass zur Befürchtung gefährlicher Angriffe in der Zukunft geben würde, lässt sich die Abweisung des Antrages auf Löschung der erkennungsdienstlichen Daten im vorliegenden Fall aber weder mit den (im Einzelnen ebenfalls nicht festgestellten) Verbalinjurien des Beschwerdeführers im Zuge des anschließenden polizeilichen Einschreitens noch mit dem unterstützend herangezogenen Vorfall vom 1. Juli 1999 begründen. Auch über den zuletzt genannten Vorfall hat die belangte Behörde keine Feststellungen getroffen. Den darüber im Akt befindlichen Unterlagen zufolge handelte es sich um eine tätliche Auseinandersetzung zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Bruder einerseits und einer Hausbesorgerin sowie deren Mann andererseits, wobei es durch Kratzen, Zwicken u.dgl. zu geringfügigen Verletzungen aller vier Beteiligten gekommen sein soll und schließlich der Beschwerdeführer und sein Bruder die Polizei verständigten. Nach dem Freispruch aller Beteiligten aus dem Grunde des § 42 StGB lässt sich aus diesem Vorfall nicht auf ein Aggressionspotential schließen, das die Befürchtung gefährlicher Angriffe in der Zukunft rechtfertigen würde.
Da die belangte Behörde den maßgeblichen Sachverhalt aber jedenfalls nicht festgestellt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 28. Juni 2005
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2005:2002010235.X00Im RIS seit
01.08.2005