Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Gamerith, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Manfred A, Kraftfahrer, Kaiserslautern, Tirolfstraße 15, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr.Walter Heel, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei REPUBLIK ÖSTERREICH, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1., Singerstraße 17-19, wegen S 47.234,41, DM 70.287,85 und Feststellung infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 13.März 1985, GZ 6 R 43/85-31, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 5.November 1983, GZ 12 Cg 413/83-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 14.546,55 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 29.Juni 1953 geborene Kläger, ein Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland, wurde am 30.Jänner 1974, 16,15 Uhr, in Graz in Polizeihaft genommen. Mit Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 2.Februar 1974, 15 Vr 55/74, wurde über den Kläger gemäß §§ 175 Abs 1 Z 2 und 3, 177 StPO die Verwahrungshaft, mit Beschluß desselben Gerichtes vom 8.Februar 1974 gemäß § 180 Abs 2 Z 1 bis 3 StPO die Untersuchungshaft verhängt. Der Kläger stand im Verdacht, mit einem PKW Haschisch nach Österreich verbracht, aus einem Hotel einen Perserteppich im Wert von ca. S 10.000 gestohlen sowie das Finanzvergehen des gewerbs- und bandenmäßigen Schmuggels begangen zu haben. Enthaftungsanträge des Klägers blieben vorerst erfolglos. Das Oberlandesgericht Graz sprach mit Beschluß vom 25.Juli 1974, 7 Ns 230/84, aus, daß die über den Kläger verhängte Untersuchungshaft wegen der besonderen Schwierigkeiten und des besonderen Umfanges der Untersuchung bis zu einem Jahr dauern dürfe. Nach Kundmachung der gegen den Kläger wegen des Verbrechens nach dem § 6 Abs 1 SGG, des Vergehens nach den §§ 35 Abs 1 lit b, 38 lit a und b FinStrG und des Vergehens des Diebstahls nach den §§ 127 Abs 1, 128 Abs 1 Z 4 StGB erhobenen Anklage wurde schließlich die Untersuchungshaft über ihn mit Beschluß der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 3. Februar 1975 unter Anwendung der gelinderen Mittel des § 180 Abs 5 Z 1, 3, 4 und 5 StPO aufgehoben. Der Kläger wurde am 3. Februar 1975 um 16 Uhr enthaftet. Nachdem der Kläger zur Hauptverhandlung vor dem Landesgericht für Strafsachen Graz am 13. Mai 1977 nicht erschienen war, wurde über Antrag der Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen ihn gemäß § 57 StPO ausgeschieden, nach dem § 422 StPO abgebrochen und am 12. Februar 1976, nachdem das Landgericht Kaiserslautern die weitere Strafverfolgung übernommen hatte, beendet. Mit Urteil des Landesgerichtes Kaiserslautern vom 27.November 1980, 14 Js 6749/76, KLs, wurde der Kläger freigesprochen. Das dem Kläger zur Last gelegte Handeltreiben mit Haschisch könne aus tatsächlichen Gründen nicht festgestellt werden. Hierauf gab die Staatsanwaltschaft Graz am 8.April 1981 die Erklärung ab, daß von weiteren Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger abgesehen werde. Am 20.März 1981 stellte der Kläger beim Landesgericht für Strafsachen Graz den Antrag auf Beschlußfassung, ob die im § 2 Abs 1 lit b und Abs 3 StEG normierten Anspruchsvoraussetzungen für eine Haftentschädigung gegeben seien und ob einer der im § 3 lit a und b StEG bezeichneten Ausschließungsgründe vorliege. Die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz sprach mit Beschluß vom 8.Juli 1981, 15 Vr 1024/81, aus, der Kläger sei zwar mit Urteil des Landgerichtes Kaiserslautern vom 27.November 1980 wegen des Verstoßes nach dem Betäubungsmittelgesetz freigesprochen worden, jedoch habe der Verdacht, daß der Kläger die ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen begangen habe, nicht entkräftet werden können. Eine dagegen vom Kläger erhobene Beschwerde wurde mit Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz vom 20.August 1981, 10 Bs 251/81, als unbegründet verworfen.
Mit dem ausdrücklich nur auf die Bestimmung des § 2 Abs 1 lit b StEG gestützten Klagebegehren begehrt der Kläger den Zuspruch der Beträge von S 47.234,41 samt Anhang und DM 70.287,85 samt Anhang als Ersatz des Verdienstausfalles, der Kosten von Rechtsanwälten, der im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von zwei Kraftfahrzeugen entstandenen Kosten, von Reisekosten, Unterhaltszahlungen, Fotokopierkosten, Inseratkosten, Porti, Telefonatgebühren und Bankgebühren sowie die Feststellung, daß die beklagte Partei dem Kläger wegen dessen ungerechtfertigter Anhaltung in der Zeit vom 30. Jänner 1974 bis 1.April 1975 für die Nachentrichtung der Beiträge zur Pensionsversicherung gemäß § 506 a ASVG hafte. Ungeachtet der Bestimmung des § 6 Abs 7 StEG käme den Beschlüssen des Landesgerichtes für Strafsachen Graz und des Oberlandesgerichtes Graz vom 8.Juli 1981 und 20.August 1981 keine bindende Wirkung zu.
§ 6 StEG sei auf einen Fall, in dem der Angehaltene in der Bundesrepublik Deutschland freigesprochen worden sei und dieses Urteil gemäß Art.XV lit b des Vertrages vom 31.Jänner 1972 zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung, BGBl.1977/36, rechtswirksam sei, nicht anzuwenden. Das Landesgericht für Strafsachen Graz habe den Kläger beschlußmäßig auch nicht außer Verfolgung gesetzt. Die Zuständigkeit des Landesgerichtes für Strafsachen Graz zur Beschlußfassung sei daher nach § 6 Abs 2 StEG nicht gegeben gewesen. Das Zivilgericht habe dann in eigener Verantwortung zu beurteilen, ob der Anspruch dem Grunde nach zu bejahen sei.
Die beklagte Partei wendete unter anderem ein, die Beschlüsse des Landesgerichtes für Strafsachen Graz und des Oberlandesgerichtes Graz vom 8.Juli 1981 und 20.August 1981 seien gemäß § 6 Abs 7 StEG für das weitere Verfahren bindend. Das Landesgericht für Strafsachen Graz habe nach Abgabe der Erklärung der Staatsanwaltschaft Graz vom 8. April 1981, daß von weiteren Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger abgesehen werde, den Kläger außer Verfolgung gesetzt. Die Voraussetzungen nach § 6 Abs 2 StEG seien daher gegeben. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Gemäß § 6 Abs 7 StEG komme dem Beschluß des zuständigen Oberlandesgerichtes Graz vom 20.August 1981 bindende Wirkung für das Zivilverfahren zu. Dem Zivilgericht sei es daher verwehrt, über die Entschädigungsvoraussetzungen dem Grunde nach selbständig zu entscheiden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. über das Bestehen eines Ersatzanspruches nach dem strafrechtlichen Entschädigungsgesetz entscheide gemäß § 6 StEG dem Grunde nach das Strafgericht. Gemäß § 6 Abs 7 StEG sei der rechtskräftige Beschluß des Strafgerichtes für das weitere Verfahren (vor dem Zivilgericht) bindend. Im gerichtlichen Verfahren heile die Rechtskraft grundsätzlich alle Verfahrensmängel. Aus diesem Grunde könne das Gericht niemals die Bindung an eine andere rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung mit dem Hinweis ablehnen, es handle sich um eine absolut nichtige gerichtliche Entscheidung. Das Zivilgericht könne daher weder prüfen, ob das Strafgericht die Entscheidung über den Grund des Entschädigungsanspruches überhaupt hätte treffen dürfen, noch ob jenes Strafgericht, das diese Entscheidung getroffen habe, überhaupt zuständig gewesen sei, noch ob die Verfahrensregelung für das Strafgericht verfassungswidrige Bestimmungen enthalte.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.
Nach § 6 Abs 2 StEG hat das Gericht, das eine Person freispricht oder sonst außer Verfolgung setzt oder milder verurteilt, von Amts wegen oder auf Antrag des Angehaltenen oder Verurteilten oder des Staatsanwaltes durch Beschluß festzustellen, ob die im § 2 Abs 1 lit b oder c und Abs 2 und 3 StEG bezeichneten Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind oder ob einer der im § 3 StEG bezeichneten Ausschlußgründe vorliegt. Es ist dies, wie die Revision richtig erkennt, keine Entscheidung über den Grund des Anspruches im Sinne des § 393 Abs 1 ZPO, weil nicht zu prüfen ist, ob ein Schaden überhaupt entstand, so daß selbst bei Bejahung der Anspruchsvoraussetzungen das Klagebegehren immer noch zur Gänze abgewiesen werden kann. Der Kläger wurde nach übernahme der Strafverfolgung vom Landgericht Kaiserslautern mit Urteil vom 27. November 1980, 14 Js 6749/76 KLs, freigesprochen. Das dem Kläger zur Last gelegte Handeltreiben mit Haschisch könne aus tatsächlichen Gründen nicht festgestellt werden. Da die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel gegen diesen Freispruch einlegte, wurde das Urteil gemäß § 267 Abs 5 dStPO gekürzt ausgefertigt. Auf Grund dieses Freispruches folgte gemäß Art.XV lit b des Vertrages vom 31.1.1972 zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.4.1959 und die Erleichterung seiner Anwendung, BGBl.1977/36, daß die österreichischen Behörden von weiteren Verfolgungs- und Vollstreckungsmaßnahmen wegen der angezeigten Tat abzusehen hatten. Eine solche Erklärung gab auch die Staatsanwaltschaft Graz ab.
Ein Gerichtsbeschluß, wonach das Verfahren eingestellt wurde, wurde anscheinend nicht gefaßt. Daraus kann der Kläger aber für die Berechtigung seines Begehrens keine günstigen Schlüsse ziehen. Würde das Argument des Klägers zutreffen, daß er ungeachtet dieser Erklärung vom Landesgericht für Strafsachen Graz noch nicht außer Verfolgung gesetzt worden wäre, wäre dem von ihm geltend gemachten Anspruch - unabhängig von der Frage der Bindungswirkung nach § 6 Abs 7 StEG - die Grundlage entzogen. Voraussetzung für eine Entscheidung des Strafgerichtes, ob die Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1 lit b StEG gegeben sind und ob ein Ausschlußgrund vorliegt, aber auch für einen Haftentschädigungsanspruch nach der genannten Gesetzesstelle ist unter anderem, daß der seinerzeit in Haft Befindliche freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt wurde. Stünde der Kläger noch in Verfolgung, wäre es überhaupt verfrüht, die Frage der strafrechtlichen Entschädigung zu prüfen. Dem strafrechtlichen Entschädigungsgesetz kann nicht entnommen werden, daß im Falle der übernahme der Strafverfolgung durch Behörden der Bundesrepublik Deutschland nach vorangegangener österreichischer Untersuchungshaft der Ausspruch des Strafgerichtes nach § 6 Abs 2 StEG sich nur auf den in den österreichischen Ermittlungsakten aufscheinenden Verfahrensabschnitt bezöge und Beweisaufnahmen über die Umstände, die zum Freispruch des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland geführt haben, nicht zu erfolgen hätten. Der Revisionswerber übersieht, daß nach Art.II Z 3 des genannten Vertrages vom 31.1.1972 das übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen und der Vertrag selbst auch im Verfahren über die Verpflichtung zur Entschädigung für unschuldig erlittene Haft oder andere Verfolgungsmaßnahmen oder ungerechtfertigte Verurteilung anzuwenden sind. Nach Art.3 des Rechtshilfeübereinkommens hätten daher die österreichischen Strafgerichte das Landgericht Kaiserslautern um die übermittlung von Beweisstücken, Akten oder anderen Schriftstücken ersuchen können. Sind im österreichischen Strafverfahren nach §§ 2 f.StEG wesentliche Umstände nicht erhoben worden, konnte und mußte das österreichische Strafgericht nach § 6 Abs 3 StEG die für diese Feststellungen erforderlichen Beweise selbst aufnehmen. Gemäß § 6 Abs 6 StEG war auch noch das Beschwerdegericht verpflichtet, sollten ihm die Unterlagen nicht ausreichend erschienen sein, durch das Strafgericht erster Instanz ergänzende Erhebungen anzuordnen. Die Ansicht des Revisionswerbers, diese Vorschriften sollten gerade dann nicht gelten, wenn die Aufnahme weiterer Beweise darüber, ob die Unschuld des seinerzeitig Inhaftierten zumindest wahrscheinlich geworden ist, erforderlich sind, ist daher durch den klaren Gesetzeswortlaut nicht gedeckt. Haben die Strafgerichte - über Antrag des Klägers - rechtskräftig gemäß § 6 Abs 2 und 6 StEG dahin entschieden, daß der Verdacht, der Kläger habe die ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen begangen, nicht habe entkräftet werden können, ist daher das Zivilgericht gemäß § 6 Abs 7 StEG an diesen rechtskräftigen Beschluß gebunden.
Der Oberste Gerichtshof hat, entgegen den Revisionsausführungen, auch keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit (Verstoß gegen Art.6 Abs 1 MRK) der Bestimmung des § 6 Abs 7 StEG. Nach Art.6 Abs 1 der gemäß Art.II Z 7 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl.1964/59 im Verfassungsrang stehenden Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten samt Zusatzprotokoll vom 4.11.1950, BGBl.1958/210, hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhendem Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Was unter zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen zu verstehen ist, kann nicht allein unter Bezug auf das jeweilige inländische Recht interpretiert werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt die Ansicht, daß diesem Begriff eine eigenständige Bedeutung zukommt. Ob ein Rechtsanspruch als zivilrechtlich im Sinne des Ausdruckes der Konvention anzusehen ist, bestimmt sich nicht nach seiner juristischen Bezeichnung im Recht des jeweiligen Vertragsstaates, sondern nach dem materiellen Gehalt und den Rechtsfolgen, die dieser Anspruch im Recht des Konventionsstaates hat (EuGRZ 1978, 406 - Fall König; Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts 5 439; Matscher, Die Verfahrensgarantien der MRK in Zivilrechtssachen, ZÖR 1980 1 ff., insbesondere 7; Ponzer, Kollegialbehörden nach Art.133 Z 4 B-VG und B, ÖJZ 1975, 115; vgl.EuGRZ 1981,551 - Fall Le Compte). Der Verfassungsgerichtshof schloß sich dieser Auslegung des Begriffes 'zivilrechtliche Ansprüche' durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Zivilrechtliche Ansprüche sind immer dann gegeben, wenn der Ausgang eines wenn auch vor der Verwaltungsbehörde eingeleiteten Verfahrens für Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur entscheidend ist (VfSlg.9430/1982, VfSlg.8856/1980; VfSlg.7492/1975; VfSlg.7099/1973 ua). Nicht nur in Österreich, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland (§§ 8 f., 13 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen) und in der Schweiz (siehe Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts 2 323 f.) entscheiden über Entschädigungsansprüche wegen ungerechtfertigter Haft letztlich die Gerichte. Von einer Privatperson gegen den Staat geltend gemachte Ansprüche auf Haftentschädigung sind daher zivilrechtliche Ansprüche im Sinne des § 6 Abs 1 MRK (Schantl-Schweinester, Die zivilrechtlichen Ansprüche im Sinn des Art.6 Abs 1 MRK, AnwBl.1979,524 ff.; Matscher, Die Verfahrensgarantien aaO 9; siehe auch RV 1197 BlgNR 11.GP 13). Die im § 6 Abs 7 StEG normierte Bindung des Zivilgerichtes an den rechtskräftigen, gemäß § 6 Abs 1 oder 2 StEG vom Strafgericht gefaßten Beschluß würde nur dann den Verfahrensgarantien des Art.6 Abs 1 MRK widersprechen, wenn diese Garantien - soweit sie überhaupt für Österreich gelten - in den vor dem Strafgericht abzuführenden Verfahren nicht gewährleistet wären (Matscher aaO 17). Österreich machte zu Art.6 MRK den Vorbehalt, daß diese Bestimmung mit der Maßgabe angewendet wird, daß die in Art.90 B-VG festgelegten Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden. Auch nach Art.90 Abs 1 B-VG sind die Verhandlungen in Zivil- und Strafsachen vor dem erkennenden Gericht zwar mündlich und öffentlich, Ausnahmen bestimmt aber das Gesetz. Das einfache Verfahrensgesetz kann daher ohne Verstoß gegen die in der MRK oder dem Bundes-Verfassungsgesetz verfassungsrechtlich gewährleisteten Verfahrensgrundsätze den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens bei einer Entscheidung des Strafgerichtes nach § 6 Abs 1 oder 2 StEG ausschließen. Ein solcher Ausschluß kann daher keine Verletzung der Konvention zur Folge haben (Matscher aaO 34). Eine Verkündigung des Beschlusses läge nicht im Interesse des Freigesprochenen, der durch Verneinung der Anspruchsvoraussetzungen nicht vor der Öffentlichkeit diffamiert werden soll (Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts 2 , Rz 1040).
Ein Verstoß der geltenden Regelung gegen Grundsätze des 'fair trial' ist nicht zu ersehen. Unter den Begriff des fairen Rechtsverfahrens nach Art.6 Abs 1 MRK wird verstanden, daß es den Parteien ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gibt, so daß nicht eine Partei der anderen gegenüber benachteiligt wird (Prinzip der Waffen- oder Chancengleichheit: Peukert, Die Garantie des 'fair trial' in der Straßburger Rechtsprechung EuGRZ 1980, 524; Matscher aaO 24). Der Betroffene muß sein Recht im Verfahren effektiv vertreten können (Erkenntnis des VfGH vom 3.12.1984, G 24/83; Walter-Mayer aaO 440). Der Revision kann nicht gefolgt werden, daß die MRK im Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche die Mündlichkeit des Verfahrens garantierte. Mündlichkeit und damit ein Recht der Partei auf Anwesenheit vor dem Gericht wird nur dann gefordert, wenn der persönliche Charakter und die Lebensweise der Partei unmittelbar erheblich für die Meinungsbildung des erkennenden Gerichtes ist (Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention 100; Schorn, Der Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 208; Peukert aaO 255 f). Die persönliche Anhörung des Freigesprochenen ist zudem im § 6 Abs 3 StEG ohnedies zwingend angeordnet.
Zur Chancengleichheit und damit zu den Garantien des Art.6 Abs 1 MRK gehört die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (SZ 54/124; Matscher aaO 24; Guradze aaO 101). Es ist allgemein anerkannt, daß das rechtliche Gehör im Sinn dieser Bestimmung nicht nur dann verletzt wird, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird. Eine solche Verletzung wird vielmehr auch dann angenommen, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekanntzugeben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen (SZ 54/124 mwN). Eine Beweisaufnahme ohne Zuziehung des Revisionswerbers (und auch der Staatsanwaltschaft) führt noch nicht zur Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es genügt, daß sich eine Partei zu den Tatsachen und Beweisergebnissen vor der Entscheidung äußern kann. Eine solche Äußerung ist durch das Strafrechtliche Entschädigungsgesetz nicht ausgeschlossen worden. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 6 StEG wird vielmehr dazu führen, daß im Einzelfall den Parteien eine solche Gelegenheit zur Stellungnahme geboten wird (OLG Innsbruck vom 6.7.1976, 3 Bs 239/76 = E 8 zu § 6 StEG in Mayerhofer-Rieder, Das österreichische Strafrecht III/2). Im Falle des Klägers läge ein solcher Verstoß schon deswegen nicht vor, weil die Strafgerichte keine Beweise ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben, die dem Revisionswerber nicht bekannt gewesen wären. Selbst eine allfällige Verletzung der Verfahrensvorschriften durch die Strafgerichte im Einzelfall machte aber die Bestimmung des § 6 Abs 7 StEG noch nicht verfassungswidrig, sondern könnte nur, da nicht der Oberste Gerichtshof entschieden hat, Amtshaftungsansprüche zur Folge haben.
Entspricht das vor den Strafgerichten abzuführende Verfahren nach § 6 StEG aber den durch den österreichischen Vorbehalt eingeschränkten Verfahrensgarantien des Art.6 MRK, ist es unbedenklich, den Zivilgerichten eine neuerliche überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen zu verwehren und sie an den rechtskräftigen Ausspruch der Strafgerichte zu binden.
Der Revision ist nicht Folge zu geben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41,50 ZPO.
Anmerkung
E06625European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1985:0010OB00014.85.0916.000Dokumentnummer
JJT_19850916_OGH0002_0010OB00014_8500000_000