Index
24/01 Strafgesetzbuch;Norm
ASVG §114;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des F in W, vertreten durch die Jirovec & Partner Rechtsanwalts-GmbH, 1010 Wien, Bauernmarkt 24, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Burgenland vom 25. September 2003, Zl. 6-SO-N1401/26-2003, betreffend Haftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Burgenländische Gebietskrankenkasse, 7001 Eisenstadt, Esterhazyplatz 3), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 28. Oktober 1998, mit dem der Beschwerdeführer als Geschäftsführer einer näher genannten GmbH gemäß § 67 Abs. 10 ASVG zur Zahlung eines Betrages von S 1.171.652,67 samt Zinsen in der Höhe von S 869.058,56 verpflichtet wurde, dahin abgeändert, dass die Höhe des Haftungsbetrages EUR 10.188,05 samt 6,97 % Zinsen aus EUR 6.064,48 ab 4. April 2003 betrage.
In der Begründung gab die belangte Behörde den Inhalt des Bescheides der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse wieder und stellte "auf Grund der Aktenlage" folgenden Sachverhalt fest:
"Unbestritten ist, dass über die prot. Baufirma T. GmbH ... am 7.6.1995 der Konkurs eröffnet und am 29.6.1998 aufgehoben wurde. Der (Beschwerdeführer) hat die Baufirma T. GmbH ... als Geschäftsführer vor Konkurseröffnung vertreten. Sämtlichen ehemaligen Dienstnehmern der insolventen Firma T. ... wurden ab 1.3.1995 für das laufende Entgelt bescheidmäßig Zahlungen des Insolvenzausgleichsfonds zugesprochen.
Aus der Stellungnahme der (mitbeteiligten Gebietskrankenkasse) vom 7.4.2003 ergibt sich, dass auf dem Beitragskonto der Primärschuldnerin Baufirma T. GmbH ... noch nachstehende Dienstnehmer-Beitragsanteile nach Überweisung der Dienstnehmerbeiträge vom IAG-Fonds offen sind:
Oktober
1994
ATS 9.296,34
Dezember
1994
ATS 54.141,16
Jänner
1995
ATS 366,48
Februar
1995
ATS 19.645,04
Insgesamt:
ATS 83.449,02 (EUR 6.064,48)
Hiezu kommen noch die bis 3. April 2003 errechneten Verzugszinsen in Höhe von insgesamt EUR 4.123,54. Der Haftungsbetrag errechnet sich somit mit EUR 10.188,05 zuzüglich der ab 4. April 2003 laufenden Verzugszinsen in der Höhe von 6,97 % p.A., gerechnet aus EUR 6.064,48."
In der Folge stellte die belangte Behörde unter Hinweis auf das Erkenntnis eines verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Dezember 2000, Zlen. 98/08/0191, 0192, die Rechtslage dar und führte aus, die Gleichbehandlung von Gläubigern könne der Beschwerdeführer nicht für sich ins Treffen führen, weil einbehaltene Dienstnehmeranteile von Beiträgen jedenfalls abzuführen seien. Zum Vorbringen des Beschwerdeführers, die T. GmbH habe in den Monaten Oktober und Dezember 1994 sowie Jänner und Februar 1995 an ihre Dienstnehmer keine Löhne und Gehälter ausbezahlt und daher keine Dienstnehmerbeiträge einbehalten, sei auf die vom Beschwerdeführer selbst vorgelegte Aufstellung zum Stichtag 31. Dezember 1994 verwiesen, nach der bezahlte Verbindlichkeiten an Löhnen und Gehältern im Dezember 1994 mit S 363.563,20 aufschienen. Dazu komme, dass der Beschwerdeführer trotz Aufforderung durch die belangte Behörde keine konkreten Unterlagen zum Nachweis seines diesbezüglichen Vorbringens vorgelegt habe. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass die Dienstnehmer der T. GmbH erst ab dem 1. März 1995 Zahlungen vom Insolvenzausgleichsfonds verlangt hätten, woraus sich "mit hoher Wahrscheinlichkeit" ergäbe, dass die Dienstnehmer bis Ende Februar 1995 ihre Löhne und Gehälter von der T. GmbH bezogen hätten. Die erfolgten Zahlungen seien mangels Widmung auf die jeweils älteste Beitragsschuld der T. GmbH angerechnet worden.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse - eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 Z 1 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Gemäß § 67 Abs. 10 ASVG haften (u.a.) die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.
Seit dem zitierten Erkenntnis eines verstärkten Senates vertritt der Verwaltungsgerichtshof die Auffassung, dass unter den "den Vertretern auferlegten Pflichten" im Sinne des § 67 Abs. 10 ASVG in Ermangelung weiterer, in den gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich normierter Pflichten des Geschäftsführers im Wesentlichen die Melde- und Auskunftspflichten, soweit diese im § 111 ASVG i.V.m. § 9 VStG auch gesetzlichen Vertretern gegenüber sanktioniert sind, sowie die in § 114 Abs. 2 ASVG umschriebene Verpflichtung zur Abfuhr einbehaltener Dienstnehmerbeiträge zu verstehen sind. Ein Verstoß gegen diese Pflichten durch einen gesetzlichen Vertreter kann daher, sofern dieser Verstoß verschuldet und für die gänzliche oder teilweise Uneinbringlichkeit der Beitragsforderung kausal ist, zu einer Haftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG führen. Auf die nähere Begründung dieses Erkenntnisses wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.
Die Heranziehung des Geschäftsführers zur Haftung wegen Verstoßes gegen § 114 ASVG setzt voraus, dass er Beiträge eines Dienstnehmers zur Sozialversicherung einbehalten und dem berechtigten Versicherungsträger vorenthalten hat. In subjektiver Hinsicht muss ihm in Ansehung aller Tatbestandselemente Vorsatz zur Last liegen (vgl. das Erkenntnis vom 4. August 2004, Zl. 2004/08/0063).
Als "einbehalten" geltend nicht nur jene Dienstnehmeranteile an Sozialversicherungsbeiträgen, die bei der Lohn- oder Gehaltsauszahlung an den Dienstnehmer beim Dienstgeber bar verbleiben. Es genügt auch die rechnungsmäßige Kürzung der Löhne und Gehälter um den vom Dienstnehmer zu tragenden Sozialversicherungsbeitrag bei der Auszahlung (Auszahlung der Nettolöhne). Vorenthalten sind die auf diese Weise einbehaltenen Dienstnehmeranteile frühestens ab dem Anfangszeitpunkt der gesetzlichen Verzugszinsen iSd § 59 ASVG. Unabhängig vom Gleichbehandlungsgebot verletzt der Geschäftsführer, der entgegen den Bestimmungen der §§ 60 iVm 114 ASVG die einbehaltenen Beiträge (Dienstnehmeranteil) nicht der Sozialversicherung abführt, seine gesetzlichen Pflichten in Zusammenhang mit der Beitragsentrichtung, weil diesen Bestimmungen ein Gebot der Abfuhr tatsächlich einbehaltener Dienstnehmeranteile zu Grunde liegt (vgl. das Erkenntnis vom 21. Februar 2001, Zl. 99/08/0142).
Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage erweist sich die Behauptung in der Beschwerde, die in Rede stehende Haftung setze eine tatsächliche Zahlung von Löhnen und Gehältern durch die Primärschuldnerin voraus, als zutreffend. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, in den fraglichen Zeiträumen seien von der T. GmbH keine Löhne und Gehälter bezahlt worden, vermag ihm dieser Umstand nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil er sich mit dieser Behauptung vom festgestellten Sachverhalt entfernt.
Allerdings kommt diesem Vorbringen im Hinblick auf die Verfahrensrüge des Beschwerdeführers wesentliche Bedeutung zu:
Gemäß § 45 Abs. 2 AVG hat die Behörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht.
Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat sich die Behörde - zwar ohne an formale Regeln gebunden zu sein, aber unter Wahrung aller Verfahrensgrundsätze (ordnungsgemäß und vollständig durchgeführtes Ermittlungsverfahren, Parteiengehör) - Klarheit über den maßgeblichen Sachverhalt zu verschaffen. Die freie Beweiswürdigung bezieht sich jedoch nur auf die bereits vorliegenden Ergebnisse eines Ermittlungsverfahrens und lässt es keineswegs zu, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen. Die Wertung der Glaubwürdigkeit eines Beweises setzt die Aufnahme des Beweises voraus. Eine Würdigung der Beweise hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit ist nur nach ihrer Aufnahme möglich, eine vorgreifende Beweiswürdigung ist somit unzulässig (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren I2, E 229 ff zu § 45 AVG).
Unter Verletzung dieser Regeln hat die belangte Behörde von der Einvernahme der vom Beschwerdeführer für das entscheidungswesentliche Beweisthema, nämlich ob Löhne und Gehälter bezahlt worden sind, namhaft gemachten Zeugen Abstand genommen und unter Heranziehung einzelner ausgewählter Beweismittel einen von den Behauptungen des Beschwerdeführers abweichenden Sachverhalt festgestellt.
Zwar ist der belangten Behörde zuzugestehen, dass Beitragsnachweisungen der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse sowie die vom Beschwerdeführer selbst vorgelegte Aufstellung zum Stichtag 31. Dezember 1994 geeignete Beweismittel zur - zumindest auf diesen Monat bezogenen - Feststellung einer Lohn- und Gehaltszahlung durch die T. GmbH sind. Zahlungen des Insolvenzausgleichsfonds erst ab 1. März 1995 mögen auch ein Indiz dafür darstellen, dass Gehaltszahlungen auch noch im Jänner und Februar 1995 erfolgt sind. Dieses Indiz könnte sein Gewicht aber erst dadurch erhalten, dass eine andere Deutung nicht in Betracht kommt. Überlegungen darüber, in welchem Umfang die Ansprüche der Dienstnehmer gemäß dem IESG gesichert waren, hat die belangte Behörde nicht angestellt. Auch vermag die Überzeugung der belangten Behörde von der Aussagekraft der von ihr herangezogenen Beweismittel nicht die Einvernahme des Beschwerdeführers und der genannten Zeugen zu ersetzen. Es darf nämlich nicht von Vornherein im Hinblick auf ein Beweismittel anderen Beweismitteln die Bedeutsamkeit abgesprochen werden. Angebotene Beweise dürfen nur dann von Vornherein abgelehnt werden, wenn die angebotenen Beweismittel an sich nicht geeignet sind, über den Gegenstand einen Beweis zu liefern (vgl. Walter/Thienel, aaO, E 235.) Davon kann aber im vorliegenden Fall keine Rede sein, zumal der Beschwerdeführer zum Beweis dafür, dass in den in Rede stehenden Monaten keine Löhne und Gehälter bezahlt worden sind, Zeugen namhaft gemacht und die Einvernahme seiner Person beantragt hat.
Die belangte Behörde hat durch die Unterlassung der beantragten Einvernahmen Verfahrensvorschriften außer Acht gelassen, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Der mit den genannten Verfahrensfehlern behaftete angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333. Das auf den
Ersatz der Barauslagen gerichtete Kostenbegehren war wegen der hier geltenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 Abs. 1 ASVG) abzuweisen.
Wien, am 29. Juni 2005
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2005:2003080239.X00Im RIS seit
01.08.2005