Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 3. Dezember 1985 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich, Dr. Reisenleitner, Dr. Kuch und Dr. Massauer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Regen als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Roman Hubert A wegen des Verbrechens der Kärperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach §§ 83 Abs. 1, 85 Z 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Schöffengericht vom 11. Jänner 1985, GZ 10 Vr 1249/84-18, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil, das im übrigen (insbesondere auch in der Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche) unberührt bleibt, im Ausspruch, daß die Tat (für immer) eine schwere Schädigung der Fortpflanzungsfähigkeit des Herwig B zur Folge hatte, demgemäß auch in der rechtlichen Beurteilung der Tat nach § 85 Z 1 StGB sowie im Strafausspruch aufgehoben und die Sache an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung in diesem Umfang zurückverwiesen. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Angeklagte Roman Hubert A des Vergehens (richtig: Verbrechens) der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach §§ 83 Abs. 1, 85 Z 1 StGB schuldig erkannt. Darnach hat er am 14. April 1984 in Klagenfurt den Herwig B durch einen Kniestoß gegen den Unterleib vorsätzlich am Körper verletzt (Ruptur des rechten Hodens), wobei die Tat den Verlust des rechten Hodens, somit eine schwere Schädigung der Fortpflanzungsfähigkeit (gemeint wohl: für immer) zur Folge hatte. Nur gegen den Ausspruch über den Eintritt einer solchen schweren Dauerfolge und demgemäß gegen die rechtliche Qualifikation der Tat nach § 85 Z 1 StGB richtet sich die auf die Gründe der Z 5 und 10 des § 281 Abs. 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, in der er mit Beziehung auf gutächtliche Aussagen des medizinischen Sachverständigen Primarius Dr.C
Begründungs- und Feststellungsmängel geltend macht. Schon aus dem erstbezeichneten Nichtigkeitsgrund kommt der Beschwerde Berechtigung zu.
Dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen (ON 10), das in der Hauptverhandlung vorgetragen und mündlich ergänzt worden ist (S 65 f), läßt sich entnehmen, daß anläßlich der durch die Tat notwendig gewordenen Amputation des verletzten (rechten) Hodens bei Herwig B als Nebenbefund ein angeborener Pendelhoden (links) festgestellt worden ist. Der Sachverständige äußerte sonach angesichts dieses Geburtsfehlers sowie des Ergebnisses von Hormonanalysen Zweifel, ob B vor dem Vorfall zeugungsfähig war, ließ diese Frage aber offen (S 66).
Rechtliche Beurteilung
Indem das Erstgericht in den Entscheidungsgründen (US 4 oben) dies erwähnt und somit einerseits ersichtlich von der Möglichkeit ausgeht, daß eine Zeugungsfähigkeit des B für die Zeit vor der Tat gar nicht bestanden haben könnte, andererseits aber im Rahmen der rechtlichen Beurteilung eine 'erhöhte Gefahr der (gemeint wohl: für die) Fortpflanzungsfähigkeit' des B als gegeben ansieht, welchen Umstand es zur Verwirklichung der rechtlichen Qualifikation für ausreichend erachtete, widerspricht es sich selbst (Z 5): denn eine Fortpflanzungs(hier: iS von Zeugungs-)fähigkeit, die für die Zeit vor einem Verletzungsgeschehen mäglicherweise gar nicht vorhanden war, kännte letzterenfalls durch eben dieses Verletzungsgeschehen denkgesetzlich auch nicht in Gefahr geraten sein.
Schon dieser vom Beschwerdeführer aufgezeigte, eine entscheidungswesentliche Tatsache betreffende Widerspruch bewirkt Nichtigkeit des angefochtenen Qualifikationsausspruches, weshalb in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten das Urteil in dem aus dem Spruch ersichtlichen Umfang bereits bei einer nichtäffentlichen Beratung sofort aufzuheben und ein zweiter Rechtsgang anzuordnen war (§ 285 e StPO).
Im erneuerten Verfahren wird das Erstgericht in rechtlicher Hinsicht zu beachten haben:
Fortpflanzungsfähigkeit des Mannes ist seine Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit. Bereits eine empfindliche Herabsetzung der Potenz (für immer oder doch für lange Zeit) ist als schwere Schädigung dieser Fähigkeit iS des § 85 Z 1 StGB anzusehen, was insbesondere bei der Zerstörung eines Elements eines paarigen Geschlechtsorgans (zB eines der Hoden) der Fall sein kann. Selbstverständliche Voraussetzung hiezu ist allerdings, daß die Fortpflanzungsfähigkeit im Tatzeitpunkt noch bestanden haben muß (Leukauf-Steininger, Kommentar 2, § 85 RN 4; Burgstaller im WK § 85 Rz 10), mag sie auch bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt gewesen sein, ohne daß jedoch diese Einschränkung bereits ein Ausmaß erreicht haben darf, das ihrem gänzlichen Verlust praktisch gleichzuhalten ist. Die bloße Gefahr, daß der Verlust oder eine schwere Schädigung der Fortpflanzungsfähigkeit eingetreten sein (oder eintreten) könnte, stellt hingegen - den allenfalls auch dahin zu verstehenden Rechtsausführungen des Erstgerichtes zuwider - noch nicht den Qualifikationstatbestand her, der erst bei tatsächlich eingetretenem Verlust oder schwerer Schädigung der Potenz erfüllt ist. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen und weil das Erstgericht - wie seinem Literaturzitat (Leukauf-Steininger w.o.) und einer daran angelehnten Wortwahl entnommen werden könnte - sich per analogiam darauf zu berufen scheint, sei noch hinzugefügt, daß die durch traumatische Schädigung hervorgerufene erhöhte Bereitschaft der Frau zum Abortus, die auch als durch organische Veränderung konkret 'erhöhte Gefahr' eines Fruchtabganges umschrieben werden kann, zwar an sich bereits eine schwere Schädigung ihrer Fortpflanzungsfähigkeit darstellt, aber nicht mit der - noch nicht tatbildlichen - bloßen Gefahr, daß eine solche erhöhte Bereitschaft gegeben sein könnte, verwechselt werden darf. Demnach lassen sich aus einer derartigen geschlechtsspezifischen (medizinischen) Fallkonstellation nicht ohne weiteres (rechtliche) Ähnlichkeitsschlüsse in bezug auf die vorliegend aktuelle Schädigung eines männlichen Fortpflanzungsorganes ableiten.
In tatsächlicher Hinsicht wird somit das Erstgericht im zweiten Rechtsgang durch Beiziehung desselben oder eines anderen Sachverständigen festzustellen haben, ob Herwig B vor der Tat (überhaupt oder allenfalls bloß eingeschränkt) fortpflanzungs(dh beischlafs- und zeugungs-)fähig war und ob durch den Verlust des rechten Hodens gegebenenfalls diese Fähigkeit für immer oder doch für lange Zeit (worüber das angefochtene Urteil keine ausdrückliche Aussage enthält) wirklich verloren oder schwer geschädigt worden ist. Feststellungen in dieser Richtung erscheinen übrigens trotz der negativen Depositionen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht offenbar ausgeschlossen, ergibt doch ein Vergleich des Gutachtensauftrages (S 1) mit dem schriftlichen Gutachten (S 43), daß der Sachverständige den Auftrag zur Begutachtung allfälliger Dauerfolgen (iS des § 85 Z 1 StGB) mißverstanden und im schriftlichen Gutachten nur zur (nicht gefragten) Minderung der Erwerbsfähigkeit Stellung genommen hat, sohin möglicherweise die Untersuchungen zur Frage der Fortpflanzungsfähigkeit oder die Auswertung der beim Verletzten erhobenen Befunde sowie der Hormonanalysen (vgl hiezu ua insbesondere die allerdings nur äußerst kursorischen Angaben des Sachverständigen S 66 oben, wonach die Hormonanalysen auf einen Schaden - gemeint: der Zeugungsfähigkeit - hinweisen) zufolge dieses Mißverständnisses unvollständig geblieben sind und demnach auch das Gutachten - zumal unter dem dargelegten (geänderten) rechtlichen Aspekt - nicht als abschließende medizinische Aussage gewertet werden kann. Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die auch den Strafausspruch umfassende kassatorische Entscheidung zu verweisen. Der - nicht angefochtene - Ausspruch über die Zuerkennung von 3.000 S aus dem Titel des Schmerzengeldes (§ 1325 ABGB) an den Privatbeteiligten blieb von der Teilaufhebung unberührt, da die erlittenen Schmerzen durch die Verletzung an sich und unabhängig von allfälligen Dauerfolgen verursacht worden sind.
Anmerkung
E0699910Os143.85European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1985:0100OS00143.85.1203.000Zuletzt aktualisiert am
12.03.2009