Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ernst M***, Frühpensionist, 6830 Rankweil, Ringstraße 61, vertreten durch Dr. Kurt Eckmair, Dr. Reinhard Neureiter, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei E*** A*** V***-A***, 1010 Wien,
Brandstätte 7-9, vertreten durch Dr. Oswald Karminski-Pielsticker, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 204.720 s.A. und Feststellung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 3.Juli 1985, GZ 16 R 155/85-33, womit das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 31.Jänner 1985, GZ 25 Cg 758/83-27, teilweise aufgehoben wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der Kläger wurde am 25.10.1985 als Fußgänger auf der Dammstraße in Lauterach von dem von Ludwig T*** gelenkten, bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Kennzeichen V 75.258 niedergestoßen und schwer verletzt. Ein wegen dieses Unfalles gegen Ludwig T*** eingeleitetes Strafverfahren endete mit dessen Freispruch (Verfahren U 2312/80 des Bezirksgerichtes Bregenz). In der vorliegenden, auf die Bestimmungen des KFG 1967 und des EKHG gestützten Klage wird ein in einer überhöhten Fahrgeschwindigkeit und unaufmerksamen Fahrweise gelegenes Fehlverhalten des Ludwig T*** im Straßenverkehr und demgemäß eine Haftung der beklagten Partei für die Unfallsfolgen im Ausmaß von 50 % behauptet. Davon ausgehend stellt der Kläger einen Leistungsanspruch in der Gesamthöhe von S 409.440 s.A. sowie ein Feststellungsbegehren dahin, daß die beklagte Partei schuldig sei, ihm im Rahmen der Haftpflichtversicherungssumme alle in Zukunft aus dem gegenständlichen Unfall entstehenden Schäden im Ausmaß von 50 % zu ersetzen.
Die beklagte Partei beantragt die Klagsabweisung. Den Kläger treffe das Alleinverschulden am Unfall, weil er so knapp vor dem herannahenden PKW des Ludwig T*** die Fahrbahn überquert habe, daß diesem keine unfallsverhindernde Maßnahme mehr möglich gewesen sei. Auch die Höhe der Leistungsansprüche und das Vorliegen von Dauerfolgen wurde bestritten. Schließlich wendete die beklagte Partei den Mangel der Aktivlegitimation ein, weil der Kläger seine Ansprüche einem Dritten verpfändet habe.
Das Erstgericht wies die Klage ab.
Das Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil hinsichtlich der Abweisung eines Teilbetrages von S 204.270 s.A. sowie hinsichtlich der Abweisung des eine Haftungsquote von 75 % betreffenden Feststellungsbegehrens. Diesbezüglich sprach es aus, daß der Wert des das Teilurteil betreffenden Streitgegenstandes S 300.000 übersteige. Im übrigen hob es das erstgerichtliche Urteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache in diesem Umfang an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung.
Gegen den berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschluß richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrage auf Aufhebung und Rückverweisung der Rechtssache in diesem Umfang an eine der Unterinstanzen oder auf diesbezügliche Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteiles.
Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist nicht gerechtfertigt.
Nach den erstgerichtlichen Urteilsfeststellungen ging der Kläger am 25.10.1980 gegen 19,40 Uhr im Ortsgebiet von Lauterach auf der rechts von der Fahrbahn der Dammstraße gelegenen, mit Gras bewachsenen Böschung außerhalb der Fahrbahn. Es herrschte Dunkelheit und es regnete. Auf Höhe des Plötzerweges wollte der Kläger die Fahrbahn überqueren. Die Überquerungslinie liegt rund 4 m nach einem auf dieser Böschung wachsenden Gebüsch. Für den mit dem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten PKW unter Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h nachkommenden Ludwig T*** war durch dieses Gebüsch die Sicht auf den Kläger "eingeschränkt". Mittels des Abblendlichtes konnte Ludwig T*** den Kläger ebenfalls "nicht erkennen", welcher sich auch außerhalb des 12 bis 15 m betragenden Lichtstreukreises in einer Entfernung von 9 m von der Überquerungslinie befindlichen Straßenbeleuchtung bewegte. Der dunkel gekleidete Kläger ging sodann ohne auf den herannahenden PKW zu achten, auf einer Gehstrecke von 1,8 m vom Fahrbahnrand aus in die Fahrbahn, wozu er bei einer Gehgeschwindigkeit von 5 km/h eine Zeit von 1,38 sec benötigte. Während dieser Zeit war er im Abblendlicht für Ludwig T*** wahrnehmbar, vorher, also bis zu seiner Annäherung an den Fahrbahnrand, war dies nicht der Fall. In dem Augenblick, in dem der Kläger die Fahrbahn betrat, war der in einem Seitenabstand von einem Meter zum rechten Fahrbahnrand fahrende PKW noch 18 m vom Unfallspunkt entfernt. Ludwig T*** wurde "durch den plötzlich vor seinem PKW befindlichen Kläger derart überrascht, daß er mit diesem reaktionslos kollidierte und sein Fahrzeug erst 40 m nach der Kollision zum Stillstand brachte". Die Anstoßstelle liegt in der Frontmitte des PKW.
In seiner rechtlichen Beurteilung lastete das Erstgericht dem die Fahrbahn unvorsichtig überquerenden Kläger das Alleinverschulden am Schadensereignis an. Ludwig T*** habe die Kollision mangels rechtzeitiger Wahrnehmbarkeit des Fußgängers nicht verhindern können. Das Berufungsgericht nahm eine teilweise Beweiswiederholung vor und kam abweichend von der erstgerichtlichen Annahme, der Kläger sei auf der rechts von der Fahrbahn befindlichen Böschung gegangen, zur Ansicht, der Verlauf der Gehstrecke des Klägers bis zu jenem Punkt, an dem er die Fahrbahn zu überqueren begann, könne nicht festgestellt werden und ebensowenig, welche unfallsverhütenden Maßnahmen dem Ludwig T*** konkret möglich gewesen wären. Im übrigen übernahm es die erstgerichtlichen Feststellungen. Rechtlich ging es davon aus, daß es zufolge der nicht feststellbaren Gehlinie des Klägers bis zum Beginn seines Überquerungsmanövers ungeklärt bleibe, "ob dem Ludwig T*** das verkehrswidrige Verhalten des Klägers vor oder während einer ihm zur Verfügung stehenden Abwehrzeit erkennbar war und inwieweit ihm unfallsverhindernde Maßnahmen zumutbar und möglich gewesen wären". Hieraus folge, daß die beklagte Partei den vom Kraftfahrzeughalter gemäß § 9 Abs2 EKHG geforderten Beweis, der Lenker habe jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt aufgewendet und den Unfall dennoch nicht verhindern können, nicht erbracht habe. Diesbezüglich sei nämlich erforderlich, daß der Kraftfahrzeuglenker seine besondere Sorgfalt auch darauf gerichtet habe, jede Situation zu vermeiden, aus welcher eine Gefahr entstehen könne. Bei der zufolge des Zusammentreffens der Halterhaftung mit dem Verschulden des geschädigten Klägers gemäß § 7 EKHG, § 1304 ABGB vorzunehmenden Schadensteilung komme dem Verschulden des Klägers am Unfall gegenüber der vom PKW ausgehenden Betriebsgefahr das wesentlich größere Gewicht zu. Demgemäß erscheine die Festsetzung einer Haftung der beklagten Partei für die Unfallsfolgen im Ausmaß von einem Viertel gerechtfertigt. Da das Erstgericht zufolge seiner abweichenden Rechtsansicht zu den einzelnen Schadenersatzansprüchen und zur Frage der von der beklagten Partei bestrittenen Klagslegitimation des Klägers keine Feststellungen getroffen habe, sei somit die teilweise Aufhebung und Rückverweisung der Rechtssache zur Verfahrensergänzung erforderlich.
Im Rekurs der Beklagten wird hinsichtlich der nach teilweiser Beweiswiederholung vom Berufungsgericht getroffenen Feststellung, der Verlauf der Gehstrecke des Klägers bis zum Beginn seiner Fahrbahnüberquerung könne nicht festgestellt werden, eine Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit des Berufungsverfahrens gerügt, welche jedoch nicht vorliegt (§ 528 a ZPO).
Unter dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung bringt die beklagte Partei vor, das Berufungsgericht habe nicht ausgeführt, worin der Sorgfaltsverstoß des Ludwig T*** konkret erblickt werde, sondern nur erklärt, daß ein solcher Verstoß nicht ausgeschlossen werden könne. Vorliegendenfalls stehe fest, daß der Kläger erst zu Beginn seines Überquerungsmanövers die Fahrbahn betreten habe, womit Ludwig T*** aber nicht habe rechnen müssen. Die Berücksichtigung bloß abstrakt denkbarer Unfallsmöglichkeiten werde bei der Führung des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs2 EKHG nicht gefordert. Schließlich komme es nach der im einzelnen zitierten Judikatur auf die Erbringung eines Entlastungsbeweises aber überhaupt nicht an, weil die vom PKW des Ludwig T*** ausgegangene Betriebsgefahr gegenüber dem krassen Fehlverhalten des Klägers völlig in den Hintergrund trete.
Diesen Ausführungen kann im Ergebnis nicht gefolgt werden. Gemäß § 9 Abs2 EKHG ist für die Annahme eines die Ersatzpflicht nach Abs1 ausschließenden unabwendbaren Ereignisses unter anderem vorausgesetzt, daß der Kraftfahrzeuglenker jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat. Diese Bestimmung wird von der ständigen Judikatur dahin ausgelegt, daß das Unfallsgeschehen auch bei Anwendung der äußersten nach den Umständen möglichen Sorgfalt nicht zu vermeiden war. Es kommt also darauf an, daß der Unfall auch für einen besonders sorgfältigen Kraftfahrer bei der gegebenen Sachlage unvermeidbar erschien (ZVR 1982/362; 2 Ob 130,131/83 u.a.).
Diese Voraussetzung ist vorliegendenfalls - worauf das Berufungsgericht allerdings nicht verwiesen hat - schon deswegen nicht erfüllt, weil Ludwig T*** trotz Dunkelheit, Regen und regennasser Fahrbahn im Ortsgebiet eine Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h einhielt. Die Ausschöpfung dieser in § 20 Abs2 StVO 1960 für das Ortsgebiet festgelegten Höchstgeschwindigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung aber nur unter den günstigsten Bedingungen, also bei optimalen Sicht- und Fahrbahnverhältnissen bzw. Bremsmöglichkeiten, zulässig (ZVR 1967/61; 1973/27; 1973/123; 1976/126; 1978/5; 1983/138 uva.). Im Hinblick auf diese vorschriftswidrige Fahrweise kann daher von der Erbringung eines Entlastungsbeweises nach § 9 Abs2 EKHG von vornherein nicht ausgegangen werden. Bei entsprechend herabgesetzter Fahrgeschwindigkeit und einer von einem besonders sorgfältigen, d.h. auch besonders aufmerksamen, Kraftfahrer geforderten Reaktion innerhalb von 0,6 bis 0,8 Sekunden (ZVR 1977/306) wäre der Unfall aber möglicherweise vermeidbar gewesen oder mit wesentlich geringeren Folgen eingetreten. Zweifel hinsichtlich dieser Abwendbarkeit des Unfallserfolges gehen im Rahmen des § 9 EKHG zu Lasten des Halters (ZVR 1974/101; 2 Ob 170/74 ua.) wie dieser überhaupt Unklarheiten darüber, ob ein gemäß § 9 EKHG zu berücksichtigender Umstand für die Entstehung des Unfalles ursächlich war, zu vertreten hat (ZVR 1970/91, 1974/190, 1978/304 uva.).
Bei ihrem Einwand, die vorliegendenfalls vom PKW ausgegangene Betriebsgefahr sei im Sinne der zitierten Entscheidungen ZVR 1983/262, 1983/288, 1983/299, 1982/36 und 1981/198 überhaupt nicht zu berücksichtigen, übersieht die Rekurswerberin, daß sich diese Entscheidungen ausschließlich auf Fälle beziehen, in welchen es um die gegenseitige Ersatzpflicht von Kraftfahrzeughaltern nach § 11 EKHG ging, sodaß der Rechtssatz, daß das Verschulden eines Beteiligten die vom anderen Beteiligten zu vertretende Betriebsgefahr in der Regel zurückdränge, zur Anwendung kam. Hier handelt es sich aber um die Frage der Mithaftung des geschädigten Fußgängers mit dem - mangels eines gelungenen Entlastungsbeweises nach § 9 Abs2 EKHG - nach den Bestimmungen des EKHG haftenden Kraftfahrzeughalters nach §§ 7 EKHG, 1304 ABGB.
In dem dem vorliegenden vergleichbaren Fall der Entscheidung ZVR 1973/27, in welchem ein Fußgänger ohne Bedachtnahme auf den Verkehr zwischen Fahrzeugen hervorkam und die Fahrbahn überquerte, der PKW-Lenker dagegen unter - ebenfalls - nicht optimalen Bedingungen die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h einhielt und nicht sofort voll bremste, wurde die Erbringung des Entlastungsbeweises verneint und eine Schadensteilung von 1 : 3 zu Lasten der Fußgängerin vorgenommen. Die gleiche Schadensteilung erfolgte mangels erbrachten Entlastunngsbeweises in der Entscheidung ZVR 1981/84, wobei ebenfalls ein schwerwiegendes Fehlverhalten des Fußgängers vorlag. Lediglich wenn trotz Rotlichtes auf der ampelgeregelten Kreuzung ein Fußgänger die Fahrbahn überquerte (ZVR 1978/260) bzw. eine Radfahrerin in die Kreuzung einfuhr (2 Ob 130,131/83) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, daß die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Unfallsgegners gegenüber einem derart gravierenden Verschulden in den Hintergrund trete. Somit kann im vorliegenden Falle entgegen der Ansicht der Rekurswerberin die Betriebsgefahr des von Ludwig T*** gelenkten Fahrzeuges nicht gänzlich außer acht gelassen und in der berufungsgerichtlichen Schadensteilung von 1 : 3 zu Lasten des Klägers daher kein Rechtsirrtum erkannt werden.
Dem Rekurs der beklagten Partei war demgemäß ein Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E07735European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0020OB00004.86.0218.000Dokumentnummer
JJT_19860218_OGH0002_0020OB00004_8600000_000