Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Gamerith, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Johann Heinrich H***, Angestellter, Hamburg, Willerweg 29, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr. Robert Krepp, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Natalija H***, Hausfrau,
Wien 9.,Servitengasse 6/16, vertreten durch den Prozeßkurator Dr.Christian P***, Rechtsanwalt in Wien, wegen Ehescheidung infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 25.Oktober 1985, GZ 13 R 186/85-100, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 12. März 1985, GZ 9 Cg 19/84-95, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Die Streitteile haben am 7.April 1974 vor dem Standesamt Leningrad (UdSSR) die Ehe geschlossen; der Ehe entstammen keine Kinder.
Der Kläger begehrte die Scheidung der Ehe, weil ihn die Beklagte vor Dritten gröblich beschimpft habe, gegen ihn tätlich geworden sei und seit Jahren geschlechtliche Beziehungen zu anderen Männern unterhalte. Im Verlaufe des Verfahrens stützte er sein Begehren hilfsweise auch auf § 51 EheG, weil die geistige Gemeinschaft zwischen den Streitteilen infolge des Geisteszustandes der Beklagten aufgehoben sei, und zuletzt auch auf § 55 Abs1 EheG, weil die häusliche Gemeinschaft schon mehr als drei Jahre aufgehoben und die Ehe deshalb unheilbar zerrüttet sei.
Die Beklagte bestritt die ihr zur Last gelegten Eheverfehlungen und wendete hilfsweise ein, allfällige Eheverfehlungen könnten ihr wegen ihres Geisteszustandes nicht als Verschulden zugerechnet werden. Der Kläger habe sein Scheidungsrecht verwirkt, weil er sie wiederholt mißhandelt und ihre ehewidrigen Beziehungen zu Detlev A*** gekannt und gebilligt habe. Die Scheidung gemäß § 51 EheG sei deshalb nicht gerechtfertigt, weil die Beklagte angesichts ihrer geistigen Verfassung besonders hart getroffen werden würde; die Scheidung nach § 55 EheG treffe sie härter als den Kläger die Abweisung seines Begehrens, weil sie auf seine Unterhaltsleistungen angewiesen sei. Für den Fall der Stattgebung dieses Begehrens beantragte sie den Ausspruch, daß der Kläger, weil er sie verlassen habe, die Zerrüttung allein verschuldet habe.
Das Erstgericht schied die Ehe auch im zweiten Rechtsgang aus dem Alleinverschulden der Beklagten. Es stellte fest, die Ehe sei bis etwa 1978 normal verlaufen. Seither habe die Beklagte ihrem Ehegatten gegenüber ein zunehmend aggressives Verhalten an den Tag gelegt. Sie mißbillige jegliche Kontakte des Klägers zu Personen weiblichen Geschlechtes, selbst zu seiner Mutter und seiner Schwester. Ohne ihm ihr Verhalten näher zu erklären, habe sie bei derartigen Auseinandersetzungen wiederholt auf ihn eingeschlagen. So sei sie dem Kläger am 19.Dezember 1978 in ein Gasthaus gefolgt und habe ihn im Lokal von hinten attackiert. Kurz vorher habe der Kläger entdeckt, daß die Beklagte geschlechtliche Beziehungen zu Detlev A*** unterhalte; hierüber empörte habe er ihr, ohne daß dies den Tatsachen entsprochen habe, gesagt, auch er habe eine Freundin. Die Beklagte habe tatsächlich intime Beziehungen zu Detlev A*** unterhalten und das dem Kläger gegenüber auch nicht in Abrede gestellt. Ende 1979 habe sich der Kläger in Spitalspflege befunden. Dort sei es wegen der Bedingungen der in Aussicht genommenen Scheidung neuerlich zu einem Streit gekommen, in dessen Verlauf die Beklagte auf den Kläger eingeschlagen habe; dabei sei seine Brille zu Boden gefallen und beschädigt worden. Nach diesem Krankenhausaufenthalt sei der Kläger nicht mehr in die eheliche Wohnung zurückgekehrt; seither lebten die Streitteile getrennt. Die Beklagte habe ehewidrige Beziehungen auch zu Hannes N*** unterhalten; auch das habe sie sowohl dem Kläger wie auch dessen Mutter eingestanden. Daß der Kläger den ehewidrigen geschlechtlichen Beziehungen der Beklagten zugestimmt oder sie wenigstens gebilligt habe, könne ebensowenig festgestellt werden wie eine geistige Störung der Beklagten. Nach dem zur Beurteilung ihrer Prozeßfähigkeit eingeholten Gutachten zeige die Beklagte zwar das Bild einer paranoiden Geistesstörung, so daß sie unter dem Einfluß wahnhafter Verhaltensweisen nicht realitätsbezogen urteilen und entscheiden bzw. mangels effektiver Bremsmechanismen nicht situationsangepaßt handeln könne; in einem später eingeholten Gutachten habe aber eine akute psychotische Symptomatik nicht mehr objektiviert werden können. In einem ergänzenden Gutachten habe der gerichtsärztliche Sachverständige dargelegt, es könne nicht mit Sicherheit festgestellt oder ausgeschlossen werden, ob die Beklagte die festgestellten Eheverfehlungen als solche erkennen habe können. Das Erstgericht schloß aus seinen Feststellungen rechtlich, daß dem auf die §§ 47 und 49 EheG gestützten Begehren stattzugeben sei, weil eine geistige Störung der Beklagten nicht festgestellt werden könne; beweisbelastet sei jedoch die Beklagte. Es sei durch nichts belegt, daß die Beklagte am Erscheinen zur Parteienvernehmung gehindert gewesen sei. Ihr Verhalten lasse nur den Schluß zu, daß sie den Prozeßfortgang verschleppen habe wollen. Ein solches Verhalten sei einer Partei auch in einem amtswegigen Verfahren nicht gestattet.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Soweit die Beklagte als Verfahrensmangel rüge, daß sie weder vom Sachverständigen untersucht noch vom Gericht als Partei vernommen worden sei, übersehe sie, daß dies ausschließlich auf ihr Verhalten zurückzuführen sei. Man habe sie weder an ihrem im Verfahren angegebenen Wohnort antreffen können noch habe sie dem Gericht oder wenigstens ihrem Prozeßkurator mitgeteilt, wo sie erreichbar sei. Auf Grund ihrer viel zu unbestimmt gehaltenen Informationen habe der Kurator ihren Aufenthalt nicht ermitteln können. Betrachte man ihr gesamtes Verhalten während des Prozesses, in dem sie Termine trotz Zusage nicht eingehalten habe und sogar die Vernehmung eines für sie offenbar ungünstigen Zeugen verhindern habe wollen, so habe das Erstgericht zu Recht von ihrer Vernehmung Abstand genommen. Die Beklagte habe keine Rechtsrüge ausgeführt, im Rahmen der Beweisrüge jedoch Feststellungsmängel geltend gemacht. Sie habe zwar behauptet, daß der Kläger ihre Ehebrüche gebilligt habe, das Beweisverfahren biete jedoch keinerlei Anhaltspunkte hiefür, daß der Kläger sein Scheidungsrecht verwirkt habe. Stehe fest, daß ein Verhalten objektiv den Tatbeständen der §§ 47 ff. EheG zu unterstellen sei, so obliege es dem Beklagten, unter Beweis zu stellen, daß ihm das Verhalten subjektiv nicht vorwerfbar sei. Dieser Beweis sei der Beklagten mißlungen. Dem Kläger falle auch kein Mitverschulden zur Last. Abgesehen davon, daß seine Behauptung, er habe eine Freundin, nicht der Wahrheit entsprochen habe, sei ihm erst unmittelbar vorher bekannt geworden, daß seine Frau ehebrecherische Beziehungen zu Detlev A*** unterhalte. Unter diesen Umständen könne diese Äußerung nicht als schwere Eheverfehlung gewertet werden. Daß er nach dem Krankenhausaufenthalt nicht in die eheliche Wohnung zurückgekehrt sei, könne ihm nicht vorgeworfen werden, weil er unmittelbar vorher erfahren habe, daß die Klägerin Ehebruch getrieben habe, und auch im Spital von ihr tätlich angegriffen worden sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Beklagten ist berechtigt.
Das Schwergewicht der Revision liegt auf der Mängelrüge. Das Gericht zweiter Instanz teilte die Auffassung des Erstgerichts, das Verhalten der Beklagten im Verfahren erster Instanz lasse nur den Schluß zu, daß sie den Fortgang des Prozesses verschleppen habe wollen. Gegen diese Ansicht wendet sich die Beklagte unter anderem mit dem Argument, sie habe angesichts ihrer psychotischen Erkrankung auch die verfahrensrechtliche Tragweite ihrer Entscheidungen nicht absehen können. An sich können angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche erkannt worden sind, nicht auch noch in dritter Instanz geltend gemacht werden (SZ 22/106 uva.); dieser Grundsatz gilt gemäß § 460 Z 4 ZPO, welche Bestimmung durch das Bundesgesetz vom 11.November 1983 über Änderungen des Personen-, Ehe- und Kindschaftsrechts, BGBl. Nr.566, eingefügt wurde und gemäß dessen Art.X Z.4 auf Eheverfahren, in denen die mündliche Verhandlung erster Instanz nach dem 31. Dezember 1983 (im vorliegenden Fall: am 1.Februar 1985) geschlossen wurde, bereits anzuwenden ist auch in Ehescheidungsverfahren (1 Ob 669,670/85 ua.); er bleibt jedoch in Fällen unanwendbar, in welchen das Berufungsgericht wegen unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat; in solchen Fällen liegt ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor, der gemäß § 503 Abs1 Z.2 ZPO bekämpft werden kann (SZ 38/120; 1 Ob 636/78 ua.). Den Vorinstanzen war es schon deshalb verwehrt, Verschleppungsabsicht im Sinne des § 275 Abs2 ZPO anzunehmen, weil diese Bestimmung dem Zurückweisungsrecht des Richters nur jene Beweise unterwirft, die in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen, angeboten wurden (Fasching, Komm II 853, III 296). Gemäß § 275 Abs2 ZPO kann das Gericht nur die Aufnahme verspätet angebotener neuer Beweise verweigern, nicht aber die im Eheverfahren jedenfalls vorzunehmende - und hier dem Erstgericht vom Gericht zweiter Instanz überdies aufgetragene - Parteienvernehmung. Da das Verhalten, das zur Verzögerung des Verfahrens geführt hat, zudem nicht auch dem für die Beklagte bestellten Prozeßkurator zur Last fällt, sondern die damit verbundenen Verzögerungen ausschließlich auf sie selbst zurückzuführen sind, könnte es auch nur auf ihre damit verbundene Absicht ankommen. Das Berufungsgericht übergeht bei seinen zur Mängelrüge der Beklagten angestellten Erwägungen die Tatsache, daß für die Beklagte ein Prozeßkurator bestellt wurde, weil sie sonst Gefahr liefe, die Einzelheiten des Prozeßgeschehens nicht richtig zu erfassen, infolge affektiver Entgleisungen uneinsichtig und unangemessen in das Verfahren einzugreifen und sich durch ihre fixierten wahnhaften Verhaltensweisen selbst zu schädigen (ON 15 i. V.m. ON 7). Auch die später eingeholten gerichtsärztlichen Gutachten lassen keine gegenteiligen Schlußfolgerungen zu. Es liegt also nahe, daß ihr Verhalten im Verfahren erster Instanz infolge ihres Geisteszustandes, der das Erstgericht zur Bestellung eines Prozeßkurators veranlaßt hat, subjektiv nicht vorgeworfen werden kann, sondern auf eine paranoide Geistesstörung zurückzuführen und damit von ihr nicht zu verantworten ist (vgl. AS 39f. und 333 ff.). Das Berufungsgericht hätte sich demnach nicht bloß auf die Beurteilung des objektiven Geschehens beschränken dürfen, sondern hätte auch die der Aktenlage entnehmbare psychische Verfassung der Beklagten in seine Erwägungen miteinbeziehen müssen und dannach der Auffassung des Erstgerichtes nicht beitreten dürfen; in diesem Vorgehen liegt auch ein dem Berufungsgericht unterlaufener Verfahrensmangel. Da es keineswegs ausgeschlossen werden kann, daß es nach persönlicher Untersuchung der Beklagten durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen und ihrer Parteienvernehmung zu einer ihr günstigeren Entscheidung hätte kommen können und es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf (§ 510 Abs1 ZPO), sind die Urteile der Vorinstanzen zu beheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht - jedenfalls solange nicht feststeht, daß die Beklagte ihr Prozeßverhalten trotz des bisher festgestellten Geisteszustandes zu verantworten hat - darauf hinzuwirken haben, daß die Beklagte vom Gerichtsarzt untersucht und vom Gericht vernommen wird. Sollte die Beklagte ihr Verhalten fortsetzen, wird ihr Erscheinen erforderlichenfalls nach § 87 GOG durchzusetzen sein (§ 460 Z.1 ZPO). Erst wenn auch diese Zwangsmaßnahmen - auch zur Erwirkung der gerichtsärztlichen Untersuchung der Beklagten bei Gericht - ohne Erfolg bleiben sollten, wird die Beweispräklusion gemäß § 279 Abs1 ZPO in Erwägung gezogen werden dürfen. Als weiteres Beweismittel wird aber zunächst auch die Krankengeschichte der Beklagten betreffend ihren am 23. August 1985 beendeten Aufenthalt im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien - Baumgartner Höhe (vgl. dessen vom Prozeßkurator der Beklagten mit der Revisionsschrift vorgelegtes Schreiben vom 27. November 1985) in Betracht kommen.
Zum weiteren Vorbringen der Revision ist nicht Stellung zu nehmen, weil die Beurteilung der geltend gemachten Scheidungsgründe weitere Feststellungen im fortgesetzten Verfahren zur Voraussetzung hat.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs1 ZPO.
Anmerkung
E07718European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0010OB00538.86.0305.000Dokumentnummer
JJT_19860305_OGH0002_0010OB00538_8600000_000