Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 10.April 1986 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral, Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Hörburger und Dr. Kuch als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Breycha als Schriftführer in der Strafsache gegen Peter B*** wegen des Verbrechens des Zwanges zur Unzucht nach dem § 203 Abs 1 und Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 16. Juli 1985, GZ 2 a Vr 1.750/85-30, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Peter B*** wegen des Verbrechens des Zwanges zur Unzucht nach § 203 Abs 1 und Abs 2 (erster Fall) StGB schuldig erkannt, weil er am 4.Februar 1985 in Wien Helga S*** mit Gewalt, nämlich mit Fußtritten gegen Gesicht und Körper, widerstandsunfähig gemacht und sie in diesem Zustand unter weiteren Schlägen zur Durchführung eines Mundverkehrs zur Unzucht mißbraucht hat, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung bei Helga S*** zur Folge hatte, nämlich Abschürfungen an der rechten Augenbraue und am Nasenrücken, schmerzhafte Schwellungen im Bereich des Hinterhauptes, der Stirn und beider Schläfen, Blutergüsse in den Augenlidern und an der Oberkiefergegend rechts, eine Schwellung der Oberlippe, Schürfungen im Mundvorhof, Kratzspuren an der rechten oberen Brustseite und der linken Brustdrüse, eine 5 cm große Prellmarke am rechten Oberschenkel, einen handtellergroßen schmerzhaften Bluterguß an der linken Gesäßhälfte, Blutergüsse am linken Ober- und rechten Unterarm, oberflächliche Hautabschürfungen an der Innen- und Vorderseite des linken Oberschenkels sowie einen Nasenbeinbruch mit traumatischer Mitbeteiligung der Kieferhöhle.
Er wurde hiefür nach dem ersten Strafsatz des § 203 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Jahren verurteilt. In der Hauptverhandlung hat der Staatsanwalt den Antrag gestellt, den Angeklagten in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter einzuweisen und ein psychiatrisches Gutachten darüber beizuschaffen, daß der (einschlägig vorbestrafte) Angeklagte auch weiterhin solche, wie in der Anklage ihm zur Last gelegten Taten (Zwang zur Unzucht nach § 203 Abs 1 und Abs 2 StGB) mit schweren Folgen begehen werde (S 207). Das Schöffengericht hat mit Beschluß den Antrag auf Einweisung in eine Anstalt nach § 23 StGB abgewiesen (Hauptverhandlungsprotokoll S 208) und zur Begründung dieser in der Regel in das Strafurteil aufzunehmenden Entscheidung ausgeführt, daß die verhängte hohe Strafe Gewähr biete, daß der Angeklagte auch weiterhin keine solche strafbaren Handlungen mit schweren Folgen begehen werde (S 217). Die Staatsanwaltschaft hat sich die Nichtigkeitsbeschwerde vorbehalten.
Das Urteil wird von der Staatsanwaltschaft und vom Angeklagten mit Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angefochten.
Rechtliche Beurteilung
Mit der auf § 281 Abs 1 Z 3 und 4 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde rügt die Staatsanwaltschaft, daß über ihren Antrag auf Beiziehung eines Sachverständigen nicht erkannt worden ist, und daß der Antrag auf Unterbringung des Angeklagten in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter vom Erstgericht mit Beschluß abgewiesen wurde.
Die Staatsanwaltschaft verweist darauf, daß gemäß § 439 Abs 2 StPO die Einweisung in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter bei sonstiger Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 3 StPO) nur nach Beiziehung zumindest eines Sachverständigen angeordnet werden könne, und daß erst bei Vorliegen eines solchen Sachverständigengutachtens dem Erstgericht alle Entscheidungsgrundlagen für die Anstaltsunterbringung zur Verfügung stehen. Ein Sachverständiger wurde aber nicht bestellt. Die Anordnung der Unterbringung in einer der in den §§ 21 Abs 2, 22 und 23 StGB genannten Anstalten oder ihr
Unterbleiben - über diese vorbeugenden Maßnahmen ist gemäß § 435 Abs 1 StPO in der Regel (§ 441 StPO) im Strafurteil zu entscheiden - bildet einen Teil des Ausspruches über die Strafe und kann zugunsten und zum Nachteil des Verurteilten mit Berufung - weil den Ermessensbereich betreffend - angefochten werden (§ 435 Abs 2 StPO). Nur wenn das Gericht bei Entscheidung über die vorbeugende Maßnahme seine Befugnisse überschritten hat - dem Gericht somit kein Ermessensspielraum eingeräumt war -, kann das Urteil wegen Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 11 oder § 345 Abs 1 Z 13 StPO) angefochten werden (§ 435 Abs 3 StPO).
Soweit eine Entscheidung über die Einweisung in eine der genannten Anstalten somit dem Ermessen des Gerichtes unterliegt, das ist insbesonders bei der Gefährlichkeitsprognose der Fall, kann diese Entscheidung daher ausschließlich mit Berufung bekämpft werden (13 Os 92/75 = ÖJZ-LSK 1975/162, 13 Os 25/83 = ÖJZ-LSK 1983/136). Eine Überschreitung der Strafbefugnis hingegen unterliegt der Überprüfung im Nichtigkeitsverfahren (§ 281 Abs 1 Z 11 StPO). Nur in Ansehung solcher (Tatsachen-)Feststellungen, die dafür maßgeblich sind, ob das Gericht durch die Entscheidung über die vorbeugende Maßnahme seine Befugnisse überschritten hat, besteht auch die Möglichkeit der Anfechtung des Urteils mit Verfahrens- und Mängelrüge (12 Os 106/76 = ÖJZ-LSK 1976/358 = SSt. 47/43, 13 Os 22/79 = SSt. 50/28). So wird die Strafbefugnis des Gerichtes überschritten, wenn die Voraussetzungen einer getroffenen Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB (Begehung der Anlaßtat unter dem Einfluß eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes) oder nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle (Einfluß seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grade) oder nach § 22 Abs 1 StGB (daß der Rechtsbrecher den Mißbrauch eines berauschenden Mittels oder Suchtmittels ergeben ist), oder nach § 23 Abs 1 Z 1 und 2 StGB ungerechtfertigt bejaht oder verneint wurde. Weil die Anordnung der Unterbringung in einer der genannten Anstalten bei sonstiger Nichtigkeit nur nach Beiziehung zumindest eines Sachverständigen angeordnet werden kann, hat somit eine erfolgreiche Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Unterbleiben der Anstaltseinweisung zur Voraussetzung, daß die Abweisung eines Antrages auf Beiziehung eines Sachverständigen mit Verfahrens- oder Mängelrüge angefochten wird.
Weil Ermessensentscheidungen, und dazu gehören vor allem die nach §§ 21 bis 23 StGB erforderlichen Gefährlichkeitsprognosen, nur mit Berufung angefochten werden können, sind auch Verfahrens- und Begründungsmängel bei Ausübung des richterlichen Ermessens ausschließlich mit Berufung geltend zu machen.
Im vorliegenden Fall wurde der Sachverständige ausschließlich zur Beischaffung der Urteilsgrundlagen für die dem Gericht obliegende Gefährlichkeitsprognose nach § 23 Abs 1 Z 3 StPO, also für eine Ermessensentscheidung, beantragt. Nach Inhalt und Zielsetzung der Ausführungen der Staatsanwaltschaft in der Nichtigkeitsbeschwerde wird somit nur ein Berufungsgrund, nicht aber einer der im § 281 Abs 1 Z 1 bis 11 StPO genannten Nichtigkeitsgründe geltend gemacht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist somit nicht dem Gesetz gemäß ausgeführt.
Der Angeklagte hinwieder hat bei der Anmeldung seiner nicht ausgeführten Beschwerde keinen Nichtigkeitsgrund bezeichnet. Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher bereits in einer nichtöffentlichen Beratung gemäß § 285 d Abs 1 Z 1 StPO in Verbindung mit § 285 a Z 2 StPO sofort zurückzuweisen. Zur Entscheidung über die Berufungen der Staatsanwaltschaft (die sich ausdrücklich auch gegen das Unterbleiben einer Maßnahme gemäß § 23 Abs 1 StGB wendet) und des Angeklagten waren die Akten in sinngemäßer Anwendung des § 285 b Abs 6 StPO dem Oberlandesgericht Wien zuzuleiten.
Anmerkung
E08339European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0120OS00026.86.0410.000Dokumentnummer
JJT_19860410_OGH0002_0120OS00026_8600000_000