Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 22.Mai 1986 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Harbich als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Müller, Dr. Kießwetter, Dr. Brustbauer und Dr. Massauer als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Steinberger als Schriftführers in der Strafsache gegen Gerald F*** und andere wegen des Verbrechens des schweren Raubs nach §§ 142 f. StGB. und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen des Gerald F*** und dessen gesetzlicher Vertreterin Maria F*** gegen das Urteil des Jugendgerichtshofs Wien als Schöffengerichts vom 10.Dezember 1985, GZ. 3 a Vr 1171/85-51, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Gerald F*** wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil, das im übrigen unberührt bleibt, in dessen Schuldspruch wegen des Verbrechens des schweren Raubs nach §§ 142 Abs. 1, 143 StGB. (A) sowie in dem ihn betreffenden Strafausspruch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht verwiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung seiner gesetzlichen Vertreterin Maria F*** werden zurückgewiesen.
Der Angeklagte Gerald F*** wird mit seiner Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Der am 29.Jänner 1969 geborene Gerald F*** wurde u.a. des Verbrechens des schweren Raubs nach §§ 142 Abs. 1, 143 StGB. schuldig erkannt, weil er am 11.März 1985 in Wien in Gesellschaft des abgesondert verfolgten Erwachsenen Andreas R*** als Raubgenosse der Ilse H*** 1.000 S Bargeld und mehrere Fahrscheine der Wiener Verkehrsbetriebe mit Gewalt gegen deren Person mit Bereicherungsvorsatz weggenommen hat (A; S. 123/II). Nach den diesbezüglichen Urteilskonstatierungen zum objektiven Geschehen hat er der Genannten die Handtasche und die leichtgewichtige Einkaufstasche, die sie fest in der Hand hielt, entrissen und dabei offenbar solche Kraft angewendet, daß (einer) der Henkel der Einkaufstasche abriß (S. 141, 142/II).
Rechtliche Beurteilung
Die gegen diesen Schuldspruch (A) aus § 281 Abs. 1 Z. 5 StPO. ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten F*** hält diese Feststellungen für mangelhaft begründet und für aktenwidrig. Dies zu Recht.
Gerald F*** hat eine Gewaltanwendung bei der Sachwegnahme bestritten (S. 100; 140, 141/II). Ilse H***, das Tatopfer, hatte schon vor der Polizei am 29.März 1985 erklärt, daß "keinerlei Gewalt" gegen sie ausgeübt wurde (S. 363/I) und in der Hauptverhandlung als Zeugin wörtlich deponiert: "Es war relativ leicht, die Taschen wegzunehmen, weil ich sie nur ganz locker hielt" (S. 107/II). "Es war für alles schon zu spät. Mir kam die Gefahr zu Bewußtsein und da war(en) die Tasche(n) schon weg" (S. 108/II). Daß der Angeklagte, diesen Beweisergebnissen zuwider, doch Gewalt ("offenbar solche Kraft"; S. 141) angewendet hatte, folgerte das Gericht daraus, daß "bei angeblich geringer Gewaltanwendung der Taschenhenkel bei der Tatausführung kaum abgerissen wäre" (S. 142/II).
Die Urteilsbegründung, daß "Anhaltspunkte dafür, daß der Henkel der Einkaufstasche schon vor der Tatausführung mangelhaft an der Tasche befestigt gewesen wäre .... das Beweisverfahren nicht" ergab (S. 142/II), widerspricht indes der Aktenlage: Das Gericht vermeint, sich der "Vermutung" der Zeugin Ilse H***, die beiden Taschen nur locker in der Hand gehalten zu haben (S. 107/II), nicht anschließen zu können, hält vielmehr auf Grund der Erfahrungen des täglichen Lebens die Annahme für gerechtfertigt, "daß Ilse H***, irritiert durch das Tuscheln der Täter hinter ihr, unbewußt ihre Taschen fest in der Hand hielt und das Entreißen der Taschen durch F*** zum Abreißen des Henkels der leichtgewichtigen Einkaufstasche führte" (S. 142/II). Der Senat kann sich mit dieser Annahme nur auf die Vermutung der Zeugin stützen, die Taschen vielleicht automatisch fester gehalten zu haben, als sie die Gefahr merkte (S. 108/II), übergeht allerdings ohne weitere Erörterung, daß die Zeugin in Verneinung der Frage, ob Gewalt angewendet wurde, ausdrücklich bekundete, alle vier Henkel (der beiden Taschen) in der Hand gehalten zu haben (S. 108/II). Hätte daher Ilse H*** ihre Taschen tatsächlich unbewußt so fest gehalten (S. 142/II), daß es dem Täter nur möglich gewesen wäre, ihr diese unter Abreißen eines ordnungsgemäß befestigt gewesenen Henkels zu entreißen - was ja als Argument für die Anwendung von Gewalt herangezogen wurde - so bleibt unerklärlich, daß der zweite Henkel der Einkaufstasche und die Henkel der Handtasche bei der Tat intakt geblieben waren; es sei denn, daß die Befestigung des einen Henkels der Einkaufstasche doch mangelhaft war. Dann aber konnte der Rückschluß aus dem Abreißen dieses Henkels auf eine Gewalteinwirkung diesen Umständen nach doch nicht ohne weiteres gezogen werden. Hatte doch Ilse H*** als Zeugin bekundet, sie könne nicht sagen, ob der Henkel bei der Tat selbst abgerissen sei (S. 107/II), daß es aber sein könnte, daß der bei der Auffindung der Einkaufstasche nach der Tat abgerissen gewesene Henkel "vorher schon locker war" (S. 108/II). Die Einkaufstasche war "leichtgewichtig" (S. 142/II), sodaß, von dieser Last her gesehen, ihr stärkeres Festhalten jedenfalls nicht erforderlich war.
Wenn das Gericht Konstatierungen trifft, die dem Eindruck des Opfers und der Verantwortung des Nichtigkeitswerbers widerstreiten, so hätte es eingehend darzulegen gehabt, wie es über die den Urteilsfeststellungen entgegenstehenden, die Bekundungen des Opfers und die Verantwortung des Täters stützenden objektiven Gegebenheiten hinwegkommen konnte. Andernfalls wäre mangels Erweisbarkeit eines Entreißens der Taschen, wenn auch ohne Anwendung erheblicher Gewalt (§ 142 Abs. 2 StGB, auf dessen zusätzliche Voraussetzungen Bezug genommen wird) im gegenständlichen Fall nicht Raub, sondern - insbesondere angesichts des von der Zeugin H*** bekundeten Überraschungsmoments (S. 108/II) - nur Diebstahl anzunehmen (Leukauf-Steininger 2 § 142 StGB. RN. 22). Da sich sohin zeigt, daß das Urteil mit dem relevierten Begründungsmangel (Z. 5) behaftet ist, waren der angefochtene Schuldspruch A und folglich auch der den Rechtsmittelwerber betreffende Strafausspruch bereits in nichtöffentlicher Beratung (§ 285 e StPO.) aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung in diesem Umfang an das Erstgericht zurückzuverweisen. Maria F***, die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Angeklagten Gerald F***, hat als solche die Nichtigkeitsbeschwerde und die "Berufung wegen Schuld und Strafe" gegen das angefochtene Urteil sogleich nach dessen Verkündung in der Hauptverhandlung angemeldet, ohne dabei Beschwerdepunkte zu bezeichnen (S. 120/II). Sie hat indes keines dieser (hinsichtlich der Berufung wegen Schuld sogar unzulässigen) Rechtsmittel in der Folge ausgeführt, weshalb diese, gleichfalls in der nichtöffentlichen Sitzung, zurückzuweisen waren (§§ 285 d Abs. 1 Z. 1 in Verbindung mit 285 a Z. 2; 294 Abs. 4, 296 Abs. 2 StPO.).
Der Angeklagte F*** war schließlich mit seiner gegen den Strafausspruch ergriffenen Berufung auf die teilweise Urteilsaufhebung zur diesbezüglichen Verfahrenserneuerung zu verweisen.
Anmerkung
E08489European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0130OS00076.86.0522.000Dokumentnummer
JJT_19860522_OGH0002_0130OS00076_8600000_000