TE OGH 1986/6/6 8Ob21/86

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Veröffentlicht am 06.06.1986
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Manuela R***, geboren am 10. April 1971, Schülerin, Unterjahring 7, 8505 St. Nikolai i.S., vertreten durch den Vater Anton R***, wohnhaft ebendort, dieser vertreten durch Dr. Hannes Stampfer, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagten Parteien 1.) Maria P***, Hausfrau, und 2.) Johann P***, Kraftfahrer, beide wohnhaft Lamperstätten 34, 8505 St. Nikolai i.S., und 3.) W*** Versicherungs-AG, Mattiellistraße 2-4, 1041 Wien, alle vertreten durch Dr. Wilfried Stenitzer, Rechtsanwalt in Leibnitz, wegen S 320.000,-- s.A. und Feststellung (S 61.000,--) infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 11. Dezember 1985, GZ 4 R 219/85-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei und der beklagten Parteien das Zwischenurteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 26. September 1985, GZ 18 Cg 42/85-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 20. Juli 1983 ereignete sich auf der Landesstraße 634 im Gemeindegebiet von St. Nikolai i.S. ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit einem Fahrrad und die Erstbeklagte als Lenkerin eines dem Zweitbeklagten gehörigen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten PKW Datsun beteiligt waren. Die Klägerin wurde bei dem Unfall schwer verletzt, das Auftreten weiterer Unfallsfolgen ist nicht auszuschließen.

Die Klägerin begehrte von den Beklagten "aus prozessualen Vorsichtsgründen unter Zugrundelegung einer Verschuldensteilung von 1 : 2 zu ihren Gunsten" und unter Berücksichtigung einer Akontozahlung von S 50.000 die Bezahlung von S 320.000 s.A. und stellte ein entsprechendes Feststellungsbegehren auf Haftung der Beklagten zu 2/3. Die Erstbeklagte habe den Unfall zumindest überwiegend verschuldet, weil sie unter Mißachtung des Vorranges der Klägerin in die Landesstraße einfuhr.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin sei am Unfall allein schuld. Bei der Einfahrt der Erstbeklagten in die Landesstraße sei die Klägerin noch nicht im Sichtbereich gewesen.

Das Erstgericht schränkte das Verfahren auf den Grund des Anspruches ein und sprach aus, daß die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht bestünden und daß die Beklagten der Klägerin zur ungeteilten Hand - die Drittbeklagte bis zur Höhe der Haftpflichtversicherungssumme - für alle künftigen Schäden zur Hälfte haften.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht, hingegen jener der Klägerin Folge und änderte das Zwischenurteil des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach mit 2/3 als zu Recht bestehend erachtete und dem Feststellungsbegehren auf dieser Grundlage stattgab. Das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des von der Bestätigung betroffenen Streitgegenstandes S 60.000, der von der Abänderung betroffene Wert S 15.000 und der gesamte Wert des Streitgegenstandes S 300.000 übersteigt.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision der Beklagten aus den Anfechtungsgründen des § 503 Abs 1 Z 2 und 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen wird; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Vorinstanzen gingen bei ihren Entscheidungen von folgendem Sachverhalt aus:

Die Landesstraße hat im Unfallsbereich eine befahrbare Breite von 5 m, sie ist mit Rauhasphalt versehen und weist aus Nordwesten in Richtung Südosten ein Gefälle von 10 % auf. In Richtung Südosten verläuft die Straße in einer Linkskrümmung.

Die Erstbeklagte fuhr aus einer Ausfahrt von der Raika St. Nikolai i. S. in die Landesstraße ein. Sie hielt zunächst 11 bis 12 m südlich einer angenommenen Bezugslinie an der Ausfahrt so an, daß sie aus ihrer Sitzposition 2 m westlich des Fahrbahnrandes der Landesstraße in Richtung Norden, das ist in Anfahrtsrichtung der Klägerin, eine Sicht von 45 m nördlich dieser Bezugslinie bezogen auf die Fahrbahnmitte und von 50 m bezogen auf die westliche Fahrbahnhälfte hatte. Nach dem Einfahren in die Landesstraße hielt sie ihr Fahrzeug mit der Front 2 m nördlich der Bezugslinie mit einer leichten Schrägstellung an. Für die Klägerin bestand zum westlichen Fahrbahnrand dadurch eine Durchfahrtslücke von ca. 2 m. Etwa 2 m südlich der Bezugslinie stieß die Radfahrerin gegen die linke Flanke des PKWs und kam zum Sturz. Vom Einfahren bis zum Stillstand legte die Erstbeklagte eine Fahrtstrecke von 12 m in 4,5 Sekunden zurück. In derselben Zeit legte die Radfahrerin eine Strecke von 28 m zurück.

Das Berufungsgericht führte eine Beweiswiederholung durch und traf nachstehende weitere Feststellungen:

Die Geschwindigkeit der Klägerin vor dem Unfall (im Mittel) betrug 22,5 km/h. Sie befand sich im Zeitpunkt der Kollision gerade in einem leichten Rechtslenkmanöver. Die Erstbeklagte legte von ihrer Stillstandposition an der Einfahrt in die Landesstraße zunächst 6 m in 2,8 Sekunden zurück; sie faßte sodann den Bremsentschluß und kam in 1,7 Sekunden nach Zurücklegung einer weiteren Strecke von 5,7 m zum Stillstand (in der nicht bekämpften Schrägstellung etwa 2 m nördlich der Bezugslinie). Im Zeitpunkt 1,7 Sekunden vor dem Unfall war die Radfahrerin 10,6 m nördlich der Bezugslinie; zu dieser Zeit war die Erstbeklagte von dieser Bezugslinie noch 6 m entfernt. Die Gesamtentfernung beider Verkehrsteilnehmer betrug daher zu dieser Zeit 16,6 m.

Während das Erstgericht zu einer Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 gelangte, vertrat das Berufungsgericht nachstehende Auffassung:

Ausgehend von einem Sichtbereich der Erstbeklagten auf die Klägerin von 50 m habe die Erstbeklagte nach ihrer Einfahrt in die Landesstraße die Klägerin jedenfalls wahrnehmen, dabei aber nicht vorhersehen können, wohin diese fahren werde. Aufgrund der gegebenen Verkehrssituation (Fahrlinie der Klägerin, relativ schmale Fahrbahn, steiles Straßenstück) war die Erstbeklagte verpflichtet, so rasch wie möglich ihre rechte Fahrbahnseite aufzusuchen. Nach ihren eigenen Angaben sei sie weder "extrem beschleunigend, noch extrem langsam" und noch dazu schräg in die Landesstraße eingefahren, sodaß etwa nach Zurücklegung einer Strecke von 6 m der rechte Fahrstreifen der Klägerin noch voll blockiert war. Durch diese Fahrweise habe die Erstbeklagte nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet. Hätte sie - wie es die Verkehrslage erforderte - sofort ihre rechte Fahrbahnseite aufgesucht und wäre sie nicht so stehengeblieben, daß für die Klägerin bei einer Fahrbahnbreite von 5 m eine Durchfahrtslücke von nur 2 m verblieb, wäre der Unfall möglicherweise unterblieben. Das Verschulden der Erstbeklagten rechtfertige eine Stattgebung des auf zwei Drittel des Schadens gerichteten Klagebegehrens, zumal ein allfälliges Mitverschulden der Klägerin nicht zu beurteilen sei.

Demgegenüber stellen sich die Beklagten in der Revision auf den Standpunkt, daß die getroffenen Feststellungen auf einem unlösbaren Widerspruch zueinander beruhen und machen dies unter beiden oben genannten Rechtsmittelgründen geltend. Die Beklagten übersehen in diesem Belang jedoch, daß das Berufungsgericht die Feststellung darüber, daß die Gesamtentfernung beider Fahrzeuglenker 1,7 Sekunden vor dem Unfall 16,6 m betrug, aufgrund einer Beweiswiederholung getroffen hat, sodaß die damit nicht übereinstimmende Feststellung des Erstgerichtes durch die vom Berufungsgericht getroffene ersetzt wurde.

Im übrigen stellen sich die Beklagten zu Unrecht auf den Standpunkt, daß die Erstbeklagte am Unfall kein Verschulden trifft:

Auszugehen ist davon, daß die Parteien dem Unfallsgeschehen übereinstimmend zugrundelegten, daß die Erstbeklagte "vom Parkplatz der Raiffeisenkasse St. Nikolai" (siehe Berufungsurteil des Aktes 3 U 922/85, S 167) bzw. "von der Grundstücksausfahrt" dieser Raiffeisenkasse (S 4 des zivilen Berufungsurteiles) in die von der Klägerin befahrene Landesstraße einfuhr, somit aufgrund der Bestimmung des § 19 Abs 6 StVO den Vorrang der Klägerin zu beachten hatte. Der Vorrang bezieht sich auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße (ZVR 1983/71 uza.). Dem Wartepflichtigen ist es verboten, durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang zu einem unvermittelten Bremsen oder einem Ablenken ihrer Fahrzeuge zu nötigen (§ 19 Abs 7 StVO). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß ein von einer nach § 19 Abs 6 StVO benachrangten Verkehrsfläche kommender Fahrzeuglenker besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit anzuwenden und seine Fahrweise unter allen Umständen so einzurichten hat, daß er auch Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang, selbst wenn sie sich nicht vorschriftsgemäß verhalten, weder gefährdet noch behindert (ZVR 1970/63; ZVR 1976/287; ZVR 1978/70 ua.). Es wird daher vom Wartepflichtigen bei Vorliegen schlechter Sichtverhältnisse verlangt, daß er seine Fahrgeschwindigkeit bis zu einem Vortasten herabmindert, d.h. äußerst langsam, schrittweise, wenn notwendig, in mehreren Etappen in die bevorrangte Verkehrsfläche einfährt, um den Vorrang allenfalls herankommender Verkehrsteilnehmer wahren zu können (vgl. ZVR 1975/177; ZVR 1977/157; ZVR 1983/331; 8 Ob 48/85 ua.). Diese Vorsichtsmaßnahmen sind aber nicht nur beim Einfahren in eine vom Wartepflichtigen vorerst nicht einsehbare Verkehrsfläche einzuhalten, sondern auch dann, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, das erforderlich ist, um mit Sicherheit beurteilen zu können, daß durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert werden (8 Ob 48/85 ua.). Die vorliegende Verkehrssituation war dadurch gekennzeichnet, daß die Erstbeklagte zunächst nur eine Sicht von 45 bis 50 m in die Anfahrtsrichtung der Klägerin hatte. Unter diesen Umständen konnte sie nicht mit Sicherheit davon ausgehen, das Einfahrmanöver in die Landesstraße ohne Behinderung möglicherweise herankommenden bevorrangten Fließverkehrs beenden zu können. Trotzdem fuhr sie von der Stelle, an der sie zunächst angehalten hatte, in einem Zug in die Landesstraße ein. Sie hätte sich jedoch bis zu einem Punkt vortasten müssen, von dem sie die erforderliche Sicht gewonnen hätte (8 Ob 165/80; 2 Ob 2/80; 8 Ob 12/81; ZVR 1983/71 uza.). Unter Vortasten ist ein etappenweises Vorrollen zu verstehen, welches der Erstbeklagten - wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt - die Möglichkeit geboten hätte, die Klägerin rechtzeitig wahrzunehmen. Es konnte daher dahingestellt bleiben, ob die Klägerin nicht schon von der Stillstandsposition der Erstbeklagten aus in deren Sichtbereich war, weil feststeht, daß sie bei verkehrsgerechtem Vorrollen eine solche Sicht jedenfalls gewonnen hätte.

Ein Vorrangfall ist so lange anzunehmen, als sich für den Vorrangberechtigten die Notwendigkeit eines unvermittelten Bremsens oder eines Auslenkens unmittelbar aus dem Einbiegen des Wartepflichtigen ergibt (ZVR 1982/238 ua.). Dabei kommt es einesteils auf die Entfernung des Punktes an, in dem einander die Fahrzeuge des Vorrangberechtigten und des Wartepflichtigen gefährlich näherkommen, andernfalls auf die Geschwindigkeit der Beteiligten (8 Ob 248/82 ua.). Berücksichtigt man im vorliegenden Fall, daß die Erstbeklagte so in die Landesstraße einfuhr, daß sie nach Zurücklegen einer Distanz von 6 m den rechten Fahrstreifen der Klägerin noch gänzlich blockierte (SV-Gutachten AS 61/62), während diese zu diesem Zeitpunkt nur mehr 16,6 m entfernt war, liegt die Behinderung der die abfallende Fahrbahn mit einer Geschwindigkeit von 22,5 km/h herunterfahrenden Klägerin auf der Hand. Anstatt in dieser Situation den von der Klägerin beanspruchten Fahrbahnteil schleunigst freizugeben, leitete die Erstbeklagte eine Bremsung ein. Wenngleich es ihr gelang, ihren PKW so anzuhalten, daß sich für die Klägerin im letzten Augenblick eine Durchfahrtslücke von 2 m öffnete, kann sie sich damit nicht von der verfehlten Fahrweise bis zur Erreichung dieses Stillstandes exculpieren.

Zutreffend ging daher das Berufungsgericht davon aus, daß die Erstbeklagte den Unfall verschuldet hat. Ein Mitverschulden der Klägerin wird in der Revision nur mehr allgemein dahin releviert, daß sie eine "unerlaubte Fahrweise" einhielt und das Verhalten der Klägerin "grob verkehrswidrig" gewesen sei. Es ist jedoch von der Feststellung des Berufungsgerichtes auszugehen, daß sich die Klägerin im Zeitpunkt der Kollision gerade in einem leichten Rechtslenkmanöver befand. Es kann dahingestellt bleiben, ob sie durch die vorher eingehaltene Fahrlinie gegen das Rechtsfahrgebot des § 7 StVO verstieß oder im Zuge der Reaktion auf die Vorrangverletzung der Erstbeklagten ihre bisher eingehaltene Fahrbahnseite verließ; selbst im für sie ungünstigsten Falle kommt das gravierende Verschulden der Erstbeklagten dahin zum Tragen, daß eine Schadensteilung im vom Berufungsgericht angenommenen Verhältnis 1 : 2 zu ihren Lasten gerechtfertigt ist. Davon ging die Klägerin bei der Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche im übrigen selbst aus. Der Revision war somit der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 52 Abs 2, 392 Abs 2, 393 Abs 4 ZPO.

Anmerkung

E08645

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0080OB00021.86.0606.000

Dokumentnummer

JJT_19860606_OGH0002_0080OB00021_8600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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