Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatpräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Melber, Dr.Huber und Dr.Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W*** P***
F***, Versicherungen der Sparkassen, D-4400 Münster, Bröderichweg 58, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr.Gerhard Delpin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagten Parteien 1. Michael P***, Kraftfahrer, Geogiou Konstatinidi, Makedomachon 13, Thessaloniki, Griechenland, 2. Georgius A***, Transportunternehmer, 39 N/Tsimiski Straße,
Tessaloniki Au 6440, Griechenland, 3. LA N***, Versicherung,
Roma, Piazzo Porto di Ripetta 1, 4. V*** DER
V*** Ö***, 1030 Wien,
Schwarzenbergplatz 7, 1.bis 4.Beklagten vertreten durch Dr.Heinrich Hofrichter, Rechtsanwalt in Bruck/Mur, wegen Leistung und Feststellung (Streitwert S 343.358,25 s.A.), infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 16.Juni 1986, GZ.5 R 85/86-57 a, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Zwischenurteil des Kreisgerichtes Leoben vom 20.Februar 1986, GZ.4 Cg 122/82-52, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 14.962,86 (darin S 1.360,26 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 5.4.1980 ereignete sich gegen 0,10 Uhr im Gemeindegebiet von Kammern i.L. auf der Bundesstraße 113 im Bereiche des Kilometers 12,2, der sogenannten Kammerer-Höhe, ein Verkehrsunfall im Begegnungsverkehr, an dem der PKW mit dem deutschen Kennzeichen DO-NR 807, gelenkt von Emin V***, und der vom Erstbeklagten gelenkte LKW-Zug mit dem griechischen Kennzeichen MO 1256 beteiligt waren. Beide Fahrzeuge wurden schwer beschädigt. Die Aktivlegitimation der Klägerin, die Halter- und Versicherereigenschaften der Zweit- bis Viertbeklagten sind unbestritten. Der PKW-Lenker wurde strafgerichtlich verurteilt, weil er trotz schlechter Sicht und des auf seiner rechten südlichen Fahrbahnseite verkehrsbedingt zum Stillstand gekommenen LKW-Sattelzuges reaktionslos (mit unverminderter Geschwindigkeit) weiterfuhr und frontal gegen den stehenden LKW stieß. Die vier Fahrzeuginsassen des PKWs wurden schwer verletzt. Der Erstbeklagte wurde gemäß § 259 Z 3 StPO von der Anklage freigesprochen. Die Klägerin (Haftpflichtersicherer des PKW-Lenkers) machte die von ihr erbrachten Leistungen an Geschädigte geltend und forderte S 343.358,25 unter Anrechnung eines 25 %-igen Eigenverschuldens (nach mehrfachen Modifikationen des Begehrens) von den Beklagten als Solidarschuldnern und stellt ein mit S 10.000,-- bewertetes Feststellungsbegehren über die Haftung für künftige Schäden. Die Beklagten wiesen jeden Verschuldensvorwurf gegen ihren Lenker zurück und behaupteten, der PKW-Lenker habe den Schaden selbst zu tragen. Der zweitbeklagte Halter machte die Schäden an seinem Sattelschlepper in Höhe von S 341.314,-- aufrechnungsweise als Gegenforderung geltend.
Nach Einschränkung des Verfahrens auf den Grund des Anspruches und Außerstreitstellung der Klagsforderung mit einer Währungseinheit stellte das Erstgericht dem Grunde nach die Haftung der Beklagten als Solidarschuldner gegenüber der Klägerin aus diesem Verkehrsunfall im Umfang von einem Drittel fest.
Die Berufung der Beklagten bleib erfolglos. Das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes in Ansehung des Feststellungsbegehrens nicht den Betrag von S 60.000, zusammen mit dem Leistungsbegehren jedoch den Betrag von S 300.000 übersteigt. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Beklagten aus den Anfechtungsgründen nach § 503 Abs.1 Z 2 und 4 ZPO mit dem Antrag auf Aufhebung und Rückverweisung an eine der Vorinstanzen, allenfalls Abänderung im Sinne der Klagsabweisung bzw. der Feststellung des Zurechtbestehens des Klagsanspruches mit nur 20 %.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Das Erstgericht hat im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Die B 113, eine Freilandstraße ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, ist im Umfallsbereich 7,6 m breit, beiderseits sind weiße Randlinien von je 30 cm. Die Fahrbahnoberfläche besteht aus einer stark abgefahrenen Betondecke und verläuft in Anfahrtsrichtung des Sattelschleppers der Beklagten von Osten in Richtung Westen geradlinig, mit einer Steigung zwischen 4,9 und 5,3 % in Richtung Westen. Von der Bezugslinie, das ist eine Normale durch den Kilometer 12,2, besteht auf 420 m westlich (Kuppe) und auf 300 m östlich freie Sicht. 340 m östlich dieser Linie mündet die nördliche Zufahrt aus der Ortschaft Kammern ein. Im Unfallszeitpunkt herrschte starkes Schneetreiben mit Windböen, die Fahrbahn war im Unfallsbereich eisglatt und weder gestreut noch gesalzen. Der Erstbeklagte näherte sich aus Osten dieser Kammerer-Höhe. Im näheren Unfallsbereich standen bereits drei LKW-Züge am nördlichen Fahrbahnrand, deren Lenker Schneeketten anlegten. Der Erstbeklagte mußte 440 m vor der späteren Unfallsstelle anhalten und setzte sich 5 Minuten 40 Sekunden vor dem Unfall wieder in Bewegung. Bereits nach 40 m gelangte er zum Stillstand auf die Dauer von 20 Sekunden. In diesem Zeitpunkt fuhren zwei der drei abgestellten LKW-Züge wieder an, worauf auch der Erstbeklagte anfuhr, um an dem noch verbliebenen Sattelsschlepper - mit belgischem
Kennzeichen - vorbeizufahren. Mit Rücksicht auf seine "neuwertige Winterbereifung" an seinem 36 t schweren Fahrzeug wollte er diese Steigung ohne Schneeketten befahren. Nach einer Fahrzeit zwischen 76 und 72 Sekunden mit einer Geschwindigkeit von unter 5 km/h beschleunigte er kurzfristig auf 8,4 km/h; die Räder begannnen allerdings wegen Glatteises durchzudrehen, worauf er durch Gaswegnahme die Geschwindigkeit wiederum auf 5 km/h reduzierte. Er erreichte dabei eine bessere Haftung und konnte weitere 79 m in 40 Sekunden zurücklegen, wobei er gleichzeitig auf die linke südliche Fahrbahnhälfte lenkte. Nach weiteren 78 Sekunden und einer linearen Beschleunigung von 7,8 km/h mußte er seine Geschwindigkeit neuerlich auf 5 km/h reduzieren, wobei er mit Beschleunigungsspitzen von 7,8 km/h über 16 Sekunden eine Strecke von 29 m zurücklegte. Nach einer weiteren Kriechfahrt mit 5 km/h begannen die Räder wiederum durchzudrehen. Der Erstbeklagte vermochte das Fahrzeug trotz Versuches mittels Gasgebens nicht mehr weiter zu bewegen. Dieser Stillstand des Fahrzeuges mit vergeblichen Anfahrversuchen trat 24 Sekunden vor dem späteren Unfall ein. Die Front des Sattelschleppers befand sich vom Heck des belgischen LKW-Zuges rund 30 m entfernt auf der südlichen Fahrbahnhälfte. Eine aus Westen herannahende Gendarmeriepatroullie erkannte die Gefahr durch das plötzliche auftretende Glatteis im Bereiche dieser Kammerer-Höhe, wendete und fuhr mit Blaulicht zwischen den beiden LKWs in Richtung Westen. Zur selben Zeit näherte sich aus Westen der eingangs angeführte PKW mit einer Geschwindigkeit zwischen 40 und 60 km/h auf der südlichen Fahrbahnhälfte. Trotz Versuches der Gedarmeriebeamten den PKW-Lenker mittels Lichthupe zu warnen, fuhr der Zeuge V*** reaktionslos gegen das Fahrzeug des Zweitbeklagten. Der PKW-Lenker hätte bei gehöriger Aufmerksamkeit trotz der widrigen Straßenverhältnisse bei nur 1 m/sec 2 Bremsverzögerung auf 156 m anhalten können, damit wäre der Unfall verhindert worden. Der Erstbeklagte, der innerhalb der 24 Sekunden erfolglose Anfahrversuche tätigte, hätte mit montierten Schneeketten sein Fahrzeug in einer Zeit von 18 Sekunden an dem stehenden Fahrzeug des belgischen Lenkers vorbeilenken können. Hätte der Erstbeklagte an dem LKW-Zug Schneeketten verwendet, wäre das Vorbeifahren problemlos durchführbar gewesen. Bei einer gleichbleibenden Vorbeifahrgeschwindigkeit von 10 km/h wäre das Vorbeifahren an dem stehenden LKW in 18 Sekunden beendet gewesen.
In rechtlicher Hinsicht lastete das Erstgericht dem Erstbeklagten einen Verstoß gegen die Vorschrift des § 17 Abs.1 StVO an. Der Erstbeklagte hätte sich vor Beginn des Vorbeifahrmanövers vergewissern müssen, ob er mit seinem Fahrzeug trotz zumindest zweifelhafter Straßenbedingungen, ein gefahrloses Vorbeifahrmanöver werde durchführen können. Die auf der rechten Fahrbahn ja nicht ohne Grund zum Stillstand gelangten Fahrzeuge hätte den Erstbeklagten angesichts seines 36-Tonnen schweren LKW-Zuges zweifeln lassen müssen, ob das Befahren der Steigung und insbesondere das besonders gefährliche Vorbeibewegen am stehenden LKW unter Benützung der linken (Gegen-)Fahrbahn ohne Ketten durchzuführen sein werde. Das überwiegende Verschulden treffe jedoch den PKW-Lenker V***, der, während der Erstbeklagte zumindest versuchte, sein Fahrzeug aus dem Gefahrenbereich zu bringen, trotz ausreichender Sicht auf das stehende Hindernis und trotz Warnung durch das Gendarmeriefahrzeug keinerlei Reaktion und keinerlei Handlungen zur Unfallsvermeidung setzte, wobei eine geringfügige Reaktion des V*** bereits ausgereicht hätte, um die Kollision zu verhindern. Die Schadensteilung sei daher im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Klägerin vorzunehmen gewesen.
Das Berufungsgericht erachtete das erstgerichtliche Verfahren als mängelfrei, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und billigte auch dessen rechtliche Beurteilung. Der Revisionsgrund nach § 503 Abs.1 Z 2 ZPO liegt nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs.3 ZPO).
In der Rechtsrüge führen die Beklagten aus, der Erstbeklagte habe damit rechnen können, daß ihm auch ohne Verwendung von Schneeketten die Bewältigung der Fahrbahnsteigung möglich sein werde, zumal Ketten bei Glatteis keinerlei Wirkung hätten. Als der Erstbeklagte begonnen habe, die linke Fahrbahnhälfte zu befahren, sei der von V*** gelenkte PKW noch nicht in Sicht gewesen; die Sicht habe mehr als 400 m betragen. Der Erstbeklagte habe daher davon ausgehen dürfen, daß selbst bei einem allfälligen Hängenbleiben auf der linken Fahrbahnhälfte dem Gegenverkehr eine ausreichende Strecke zur Verfügung stehe, um auf die beiden nebeneinander befindlichen Fahrzeuge zu reagieren und seinerseits das Fahrzeug durch eine geringfügige Betriebsbremsung zum Stillstand bringen zu können. Gegenüber dem schwerwiegenden Verschulden des PKW-Lenkers V*** trete ein allfälliges Verschulden des Erstbeklagten derart zurück, daß es zu vernachlässigen bzw. höchstens mit 20 % zu bewerten sei.
Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Was das Vorbeifahren des Erstbeklagten an dem stehenden Sattelschlepper mit belgischem Kennzeichen anlangt, wäre dieses nach § 17 Abs.1 StVO nur gestattet gewesen, wenn dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, weder gefährdet noch behindert werden. Wie der Oberste Gerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat, ist das Vorbeifahren zwar auch dann nicht untersagt, wenn es nur unter Überschreitung der Fahrbahnmitte erfolgen kann, doch darf es nur durchgeführt werden, wenn der Lenker mit Sicherheit damit rechnen kann, hiedurch den Gegenverkehr nicht zu gefährden oder zu behindern (vgl. ZVR 1984/71 ua.). Im vorliegenden Fall hatte der Erstbeklagte beobachtet, daß andere LKW-Lenker Schneeketten anlegten, um die Steigung der eisglatten Fahrbahn bewältigen zu können. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte, konnte der Erstbeklagte bei den gegebenen Straßen- und Witterungsverhältnissen (starkes Schneetreiben, nicht gestreute eisglatte Fahrbahn, Steigung zwischen 4,9 und 5,3 %) trotz neuer Winterbereifung nicht damit rechnen, diese eisglatte Steigung ohne die Gefahr zu befahren, wegen "Durchdrehens" der Räder zum Stillstand zu kommen, zumal nach den Feststellungen schon vor dem Befahren der linken Fahrbahnhälfte die Räder seines Fahrzeuges auf dem Glatteis begonnen hatten, "durchzudrehen". Er hätte vielmehr, da er verpflichtet war, die linke Fahrbahnhälfte so rasch wie möglich wieder für den Gegenverkehr frei zu machen, durch Verwendung von Schneeketten oder ähnlichen Gleitschutzvorrichtungen die Gefahr einer längeren Blockierung der linken Fahrbahnhälfte hintanhalten müssen; dies wäre aber bei Verwendung von Schneeketten möglich gewesen, da in diesem Falle nach den Feststellungen die Vorbeifahrt in 18 Sekunden hätte durchgeführt werden können. Soweit die Beklagten abweichend von diesen Feststellungen vorbringen, die Verwendung von Schneeketten hätte keinerlei Wirkung gehabt, bringen sie die Rechtsrüge nicht zur gesetzmäßigen Darstellung, sodaß auf diese Ausführungen nicht einzugehen war. Bei Gegenüberstellung des dem Erstbeklagten und dem PWK-Lenker V*** zur Last fallenden Verschuldens können sich die Beklagten jedenfalls nicht für beschwert erachten.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.
Anmerkung
E09148European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0020OB00044.86.0930.000Dokumentnummer
JJT_19860930_OGH0002_0020OB00044_8600000_000