Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 21.Oktober 1986 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich, Dr. Reisenleitner, Dr. Kuch sowie Dr. Massauer als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Hinger als Schriftführer in der Strafsache gegen Johann K*** wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1, 128 Abs. 2, 129 Z 1 und 15 StGB sowie anderer strafbarer Handlungen, AZ 2 b Vr 820/83 des Jugendgerichtshofes Wien, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Strafvollzugsanordnung dieses Gerichtes vom 30. Mai 1986 (S 322) nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Presslauer, und des Verteidigers Dr. Kojer, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:
Spruch
Im Strafverfahren zum AZ 2 b Vr 820/83 des Jugendgerichtshofes Wien ist durch die am 30.Mai 1986 erlassene Anordnung des Vollzuges des vom Verurteilten Johann K*** noch nicht verbüßten Strafrestes das Gesetz in der Bestimmung des Art. 14 Abs. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13.Dezember 1957, BGBl. 1969/320, verletzt worden.
Text
Gründe:
Der im oben bezeichneten Verfahren rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Johann K*** hatte sich deren vollständiger Vollstreckung durch seine Flucht aus der Vollzugsanstalt entzogen und war in München festgenommen worden (S 281, 285). In der Folgezeit wurde das erkennende Gericht mehrfach auf die Notwendigkeit hingewiesen, zum Zweck des Vollzuges der restlichen Freiheitsstrafe die Auslieferung des Genannten aus der Bundesrepublik Deutschland zu erwirken (§ 68 Abs. 1 ARHG); nichtsdestoweniger beschränkte es sich darauf, den Ausgang eines vom Landesgericht Innsbruck eingeleiteten, ihn betreffenden Auslieferungsverfahrens abzuwarten (S 283, 287, 292, 295 f., 299 a, 305).
In jenem Verfahren wurde jedoch seine Auslieferung nur zur Strafverfolgung wegen der im Haftbefehl des Landesgerichtes Innsbruck vom 8.Oktober 1985, AZ 28 Vr 3408/83, angeführten Straftaten bewilligt; nach seiner Überstellung wurde er im Inland in gerichtlicher Haft angehalten (S 301, 303, 305, 310). Am 30.Mai 1986 stimmte der dazu befragte Verurteilte der Vollstreckung des Strafrestes ab dem 17.Juni 1986 zu; dieser Vollzug wurde vom Jugendgerichtshof Wien noch am selben Tag angeordnet und in der Folge auch durchgeführt (S 321 bis 323, 325).
Rechtliche Beurteilung
Die Strafvollzugsanordnung vom 30.Mai 1986 stand mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Denn nach Art. 14 Abs. 1 des - im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland unter Bedacht auf die beiderseitigen Vorbehalte und Erklärungen sowie auf den Vertrag vom 31.Jänner 1972, BGBl. 1977/35, anzuwendenden - Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957, BGBl. 1969/320, darf eine ausgelieferte Person wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als jener, die der Auslieferung zugrunde liegt, nur dann zur Vollstreckung einer Strafe in Haft gehalten werden, wenn (a) der Staat, der sie ausgeliefert hat, zustimmt oder (b) die ausgelieferte Person, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem sie ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder nach dem Verlassen dieses Gebietes dorthin zurückgekehrt ist.
Demzufolge stand die - in Österreich zudem auch ohne eine zwischenstaatliche Vereinbarung wirksame (§§ 1, 70 ARHG) - Spezialität der (nur zur Strafverfolgung wegen anderer Handlungen in einem anderen Verfahren bewilligten) Auslieferung (Art. 14 Abs. 1 lit. a EurAuslÜbk) einer Vollstreckung des im vorliegenden Verfahren noch nicht vollzogenen Strafrestes an Johann K*** entgegen, weil die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 lit. b EurAuslÜbk nach dem eingangs Gesagten nicht vorlagen. An dieser Unzulässigkeit der Vollzugsanordnung vermochte die Zustimmung des Verurteilten nichts zu ändern, weil der mit dem Grundsatz der Spezialität verbundene Anspruch des ersuchten Staates auf eine demgemäß limitierte Ausübung der Strafgewalt durch den ersuchenden Staat einer Disposition seitens der ausgelieferten Person nicht zugänglich ist.
In Stattgebung der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war demnach die aufgezeigte Gesetzesverletzung wie im Spruch festzustellen. Für eine nachträgliche Aufhebung der (inzwischen durchgeführten) gesetzwidrigen Vollzugsanordnung (§ 292 letzter Satz StPO) war jedoch schon deshalb kein Raum, weil der Verurteilte im Hinblick darauf, daß er mit der erwähnten Zustimmungserklärung der Sache nach unmißverständlich zum Ausdruck brachte, er werde das Bundesgebiet innerhalb der in Art. 14 Abs. 1 lit. b EurAuslÜbk normierten Schutzfrist nicht verlassen, durch die (der dargelegten Rechtslage gleichwohl widersprechende) bloße Vorverlegung des restlichen Strafvollzuges ersichtlich keinerlei Nachteil erlitten hat.
Anmerkung
E09448European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1986:0100OS00142.86.1021.000Dokumentnummer
JJT_19861021_OGH0002_0100OS00142_8600000_000