TE OGH 1987/2/10 2Ob59/86

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Veröffentlicht am 10.02.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Hilde P***, Raumpflegerin, 8020 Graz, Josefigasse 14, 2.) VVS Verein für Vorsorge und Hilfe in Schadensfällen, 1150 Wien, Hütteldorferstraße 79, beide vertreten durch Dr. Hartmut Mayer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei E*** A*** V***-A***, 1010 Wien, Brandstätte 7-9,

vertreten durch Dr. Otto Philp, Dr. Gottfried Zandl, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 671.486,50 s.A., infolge Revision der zweitklagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 21.Mai 1986, GZ 17 R 99,100/86-51, womit infolge Berufung der zweitklagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 18.Dezember 1985, GZ 24 Cg 779/82-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung

1.) zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben und das angefochtene Urteil, das hinsichtlich des klagsstattgebenden Teiles als unangefochten unberührt bleibt, hinsichtlich der Abweisung eines Betrages von S 50.000 samt 4 % Zinsen seit 1.7.1982 als Teilurteil bestätigt.

In diesem Umfang bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.

2.) den

B e s c h l u ß

gefaßt:

Im übrigen, somit hinsichtlich der Abweisung eines Betrages von S 332.396,50 s.A. und in der Kostenentscheidung wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der zweitklagenden Partei zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind in diesem Umfang als weitere Kosten des Berufungsverfahrens zu behandeln.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 20.10.1981 ereignete sich im Ortsgebiet von Lieboch an der Kreuzung zwischen der Straße B 70 und der Dorfstraße ein Verkehrsunfall, bei dem die Erstklägerin aus dem Alleinverschulden des Versicherungsnehmers der beklagten Partei, Leopold R***, schwer verletzt wurde. Das Alleinverschulden des Versicherungsnehmers der beklagten Partei steht außer Streit, das Feststellungsbegehren der Erstklägerin wurde mit Teilanerkenntnisurteil vom 11.2.1983 rechtskräftig erledigt. Die Zweitklägerin forderte, gestützt auf eine Zession, an Schadenersatz insgesamt S 671.486,80 s.A., nämlich S 250.000,-- Schmerzengeld, S 30.000,-- Entschädigung wegen Verhinderung des besseren Fortkommens, S 15.000,-- für die Kosten einer kosmetischen Operation, S 7.706,-- Zahnersatzkosten, S 59.000,-- Pflege- und Aushilfskraftkosten, schließlich eingeschränkt auf S 30.000,-- (am 4.10.1984), S 7.590,-- Besuchskosten, S 5.000,-- Ersatz für Aufwendungen, S 3.640,-- Ersatz für Sachschäden und S 37.330,-- Verdienstentgang bis 30.9.1982, weiteren Verdienstentgang von S 147.335,10 bis 31.12.1983 und weitere S 197.885,40 Verdienstentgang bis 7.6.1985.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung und bestritt das Klagebegehren auch der Höhe nach.

Das Erstgericht sprach der Zweitklägerin S 289.090,-- s.A. zu und wies das Mehrbegehren von S 382.396,50 s.A. ab. Die Berufung der Zweitklägerin blieb erfolglos.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Zweitklägerin aus den Anfechtungsgründen nach § 503 Abs 1 Z 2, 3 und 4 ZPO mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne des Zuspruches von weiteren S 364.800,50 s.A.; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Im Revisionsverfahren sind nur noch die restlichen Ansprüche auf Schmerzengeld und Verdienstentgang strittig. Diesbezüglich hat das Erstgericht im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Die zur Zeit des Unfalls als Bedienerin beschäftigt gewesene 41-jährige Erstklägerin erlitt eine Schädelprellung mit Hautabschürfungen an der rechten Stirn, einen offenen Bruch des äußeren Schienbeinknochens rechts, eine Schulterverrenkung mit Abbruch des großen Rollhöckers ohne Verschiebung, und es brach ihre Zahnprothese. In der 1.Chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik Graz wurde die verrenkte Schulter eingerichtet, das Schultergelenk mit einem Verband ruhiggestellt und der offene Bruch des äußeren Schienbeinknorrens operiert und verschraubt. Die damit verbundenen Wunden sind unter Bildung einer großen Narbe im Bereich des rechten Knies verheilt. Nach Mobilisierung der Erstklägerin mittels Stützkrücken wurde sie am 19.11.1981 aus dem Spital entlassen. Sie unterzog sich in der Folge einer ambulanten Weiterbehandlung und Kontrollen und verwendete bis März 1982 zwei Stützkrücken, bis Mai noch eine Krücke. Bis zwei Monate nach dem Unfall war die Erstklägerin pflegebedürftig, wobei die Pflegeleistungen täglich etwa eine halbe Stunde in Anspruch nahmen. Zusätzlich bedurfte sie zur Haushaltsführung der Unterstützung für die Dauer von vier Monaten ab Spitalsentlassung, mit einem Arbeitszeitaufwand von rund einer Stunde. Für die nächsten drei Monate verminderte sich dieser Hilfebedarf auf vier Stunden wöchentlich. Die mit dem Unfall, der Behandlung einschließlich der Schraubenentfernung verbundenen Schmerzen sind mit 15 Tagen starken, 27 Tagen mittelstarken und 157 Tagen leichten Schmerzen auszumessen. Ab Anfang Oktober 1982 war die Klägerin in ihrem Beruf wieder arbeitsfähig, mußte sich aber um etwa 10 % mehr anstrengen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen wie vor ihrem Unfall, da es bei schweren Arbeiten zu Schmerzen in der verletzten Schulter und im Bereich des verletzt gewesenen Knies kommen kann. Die Narbe am Knie kann durch eine kosmetische Operation mit einem Kostenaufwand von rund S 15.000,-- gebessert werden. Entstellend wirken die Narben nicht, das Fortkommen der Klägerin wird dadurch nicht behindert. Unfallsbedingt brach bei der Erstklägerin der Zahn links oben 6 ab und es brach eine Kunststoffprothese. Durch den Abbruch des Zahnes empfand die Erstklägerin unmittelbar nach dem Unfall 2 Tage starke Schmerzen und 3 Tage leichte Schmerzen. Die unfallsbedingte Extraktion des abgebrochenen Zahnes verursachte einen Tag mittlere Schmerzen. Die Erstklägerin verdiente als Bedienerin beim Bischöflichen Ordinariat Graz-Seckau im Jahr 1981 netto S 80.961,30 und hätte ab 1.11.1981 zusätzlich S 1.920,-- monatlich bei einem anderen Dienstgeber verdienen können, so daß ihr Gesamtnettoeinkommen pro Monat S 9.125,55 betrug. Ihr fiktives Einkommen bis Ende September 1982 betrug daher S 96.710,81. Tatsächlich erhielt sie ein Entgelt von S 6.755,90 und Krankengeld von S 53.625,60, so daß sie in dieser Zeit einen Verdienstentgang von S 37.330,-- erlitt. Nervenärztlicherseits bestehen keine Unfallsfolgen. Die depressiven Verstimmungen und Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit stehen in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Unfall. Das Schädelbagatelltrauma mit Monokelhämatom ist durch das chirurgische Gutachten voll erfaßt. Die Erstklägerin war jedoch nach dem Unfall nahezu ständig im Krankenstand, wobei ihr der praktische Arzt im Gegensatz zu den eingeholten Gutachten "Unfallfolgen" bescheinigte. Die von ihm festgestellten Diagnosen waren aber eine Kniegelenksentzündung, starke Kopfschmerzen, Schmerzen im rechten Arm bis in die Finger, verbunden mit Kreuzschmerzen. Wegen ihrer Beschwerden beantragte die Erstklägerin auch eine Invaliditätspension, die jedoch abgelehnt wurde. Sie rief das zuständige Schiedsgericht nicht an. Seit dem Unfall bezog sie Krankengeld, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und schließlich einen Pensionsvorschuß. Sie war arbeitssuchend gemeldet, wollte aber nur eine Halbtagsstelle annehmen, so daß sie nicht vermittelt werden konnte. Am 14.5.1985 beantragte sie neuerlich die Gewährung einer Invaliditätspension und "erklärte" sich als arbeitsunfähig, so daß sie deshalb nicht vermittelt werden konnte. Bei Vermeidung schwerer Arbeit könnte die Klägerin, die keinen Beruf erlernt hat, als Abgraterin in der kunststoffverarbeitenden Industrie, als Verpackerin, als Durchseherin in der Getränkeindustrie, als Presserin, Stanzerin oder Werkstückkontrollorin arbeiten und den gleichen Lohn erzielen wie als Raumpflegerin. Sie wäre auch nach der gegebenen Arbeitsmarktlage vermittelbar. Zur Deckung der unfallbedingten Auslagen nahm die Erstklägerin einen Kredit von S 100.000,-- auf (gemeinsam mit ihrer Tochter), der ab 3.9.1982 mit 15 % zu verzinsen war.

Zur Rechtsfrage führte das Erstgericht aus, daß ein Schmerzengeld von S 200.000,-- angemessen sei; ebenso sei der bis 30.9.1982 entstandene Verdienstentgang von S 37.330,-- zuzusprechen gewesen, während ab 1.10.1982 kein Anspruch auf Verdienstentgang mehr bestanden habe.

Das Berufungsgericht erachtete das erstgerichtliche Verfahren als mängelfrei, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und billigte auch die rechtliche Beurteilung der ersten Instanz.

1.) Zum Schmerzengeldanspruch:

Soweit die Zweitklägerin hinsichtlich dieses Anspruches die Anfechtungsgründe nach § 503 Abs 1 Z 2 und 3 ZPO geltend macht, liegen diese nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO).

In der Rechtsrüge führte die Zweitklägerin aus, das Berufungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß nach den Sachverständigengutachten die von der Erstklägerin vorgebrachten psychischen Beschwerden mit dem Unfall in keinem Zusammenhang ständen und daher bei der Bemessung des Schmerzengeldes nicht zu berücksichtigen seien. Das Berufungsgericht habe übersehen, daß nach herrschender Lehre und Judikatur nicht die Frage der juristischen Causalität, sondern vielmehr diejenige der natürlichen der Beurteilung zugrundezulegen sei, wodurch es im Rahmen der rechtlichen Beurteilung auch zu dem unrichtigen Ergebnis gelangt sei, daß für alle von der Erstklägerin erlittenen physischen und psychischen Unbilden lediglich ein Schmerzengeld im Betrag von S 200.000,-- angemessen sei. Es wäre vielmehr ein weiteres Schmerzengeld von S 50.000,-- zuzusprechen gewesen. Diesen Ausführungen ist zu erwidern, daß die vom Erstgericht auf Grund von mit den Denkgesetzen in Einklang stehenden Sachverständigengutachten getroffene tatsächliche Feststellung, von Seite des Nervenfacharztes bestünden bei der Erstklägerin keine Unfallfolgen, die depressiven Verstimmungen, die Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit ständen in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Unfall, vom Berufungsgericht übernommen wurde und daher im Revisionsverfahren nicht mehr überprüfbar ist. Das Vorbringen der Revision stellt daher in diesem Umfang eine im Revisionsverfahren unzulässige Bekämpfung der Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen dar, sodaß darauf nicht einzugehen war.

Das Schmerzengeld ist die Genugtuung für alles Ungemach, das der Geschädigte infolge seiner Verletzungen und ihrer Folgen zu erdulden hat. Es soll den Gesamtkomplex der Schmerzempfindungen unter Bedachtnahme auf die Dauer und Intensität der Schmerzen nach ihrem Gesamtbild, auf die Schwere der Verletzung und auf das Maß der physischen und psychischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes abgelten, die durch die Schmerzen entstandenen Unlustgefühle ausgleichen und den Verletzten in die Lage versetzen, sich als Ersatz für die Leiden und anstelle der ihm entgangenen Lebensfreude auf andere Weise gewisse Annehmlichkeiten und Erleichterungen zu verschaffen (ZVR 1983/200; 8 Ob 194/83; 8 Ob 69/85 uva.). Hieraus folgt einerseits, daß bei der Bemessung des Schmerzengeldes auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, andererseits aber zur Vermeidung einer Ungleichmäßigkeit in der Rechtsprechung ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. Jarosch-Müller-Piegler, Das Schmerzengeld in medizinischer und juristischer Sicht 4 156 ff., insbesondere 160; ZVR 1982/392; 8 Ob 194/83; 8 Ob 69/85 ua.). Werden diese Grundsätze auf den im vorliegenden Fall festgestellten Sachverhalt hinsichtlich der Verletzungen, der Schmerzperioden, des Heilungsverlaufes und der Unfallfolgen angewendet und wird weiters berücksichtigt, daß die Erstklägerin eine ungefähr 10 %ige Mehranstrengung auf sich nehmen muß, um gelegentlich mögliche Schmerzen bei schwerer Arbeit zu vermeiden, kann in der Globalbemessung des Schmerzengeldes mit S 200.000,-- keine zum Nachteil der Erstklägerin unrichtige rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes erblickt werden. Der Revision war daher in diesem Umfang ein Erfolg zu versagen und die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt als Teilurteil zu bestätigen.

Die diesbezügliche Kostenentscheidung beruht auf den §§ 52 Abs 2, 392 Abs 2 ZPO.

2.) Zum Anspruch auf Verdienstentgang:

Unter den Anfechtungsgründen nach § 503 Abs 1 Z 2 und 3 ZPO bekämpft die Zweitklägerin unter anderem die Feststellung der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Erstklägerin ab 1.10.1982. Sie führt aus, daß in dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S*** ab Anfang Oktober eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 15 % festgestellt werde und der Sachverständige etwas später sodann zu dem Ergebnis gelange, daß nur mehr eine Mehranstrengung von 10 % nötig wäre, um den Arbeitserfolg zu erzielen. Das Berufungsgericht habe diese Ausführungen dahingehend gedeutet, daß die Erstklägerin voll erwerbsfähig sei, was schon mit dem Inhalt der Gutachten im Widerspruch stehe. Diesbezüglich kommt den Revisionsausführungen Berechtigung zu. Das Erstgericht hat seine Feststellung, daß die Klägerin ab Anfang Oktober 1982 wieder arbeitsfähig sei, sich aber in ihrem Beruf um etwa 10 % mehr anstrengen müsse, um das gleiche Ergebnis zu erzielen wie vor ihrem Unfall, da es bei schweren Arbeiten zu Schmerzen der verletzten Schulter und im Bereich des verletzt gewesenen Knies kommen könne, auf das Gutachten des Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Unfallschirurgie Dr. S*** (AS 55) gestützt. Der genannte Sachverständige hat in seinem Gutachten folgendes ausgeführt (AS 55):

"Mit Oktober 1982 ist die Arbeitsfähigkeit wieder soweit hergestellt, daß sie ihren Beruf als Bedienerin mit Einschränkungen hätte wieder aufnehmen können. Mit Anfang Oktober 1982 ist die Klägerin als zu 15 % arbeitsunfähig in ihrem Beruf anzusehen. Zum Zeitpunkt der gegenständlichen Untersuchung (25.4.1983) konnte der Sachverständige lediglich eine Bewegungseinschränkung der rechten Schulter und eine noch geringere des rechten Kniegelenkes feststellen. Weiters liegen glaubhafte Schmerzen bei starken Anstrengungen vor, was aber nach Meinung des Sachverständigen nicht die Bewertung einer Minderung der Arbeitsfähigkeit rechtfertigt. Die vermehrten Anstrengungen, die sie machen muß, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, sind höchstens mit 10 % zum gegenwärtigen Zeitpunkt anzusehen, und das als dauernd. Es ist dies die Beantwortung der Frage einer allfälligen bleibenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit."

Die zitierte Feststellung steht daher mit der Aktenlage nicht im Einklang, soweit sie die für den Zeitpunkt der Untersuchung (25.4.1983) vom Sachverständigen getroffene Aussage auf den Zeitpunkt Anfang Oktober 1982 bezieht. Unter Bezugnahme auf das Gutachten des Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Berufskunde Ing. PAP (ON 10) und dessen Ergänzungsgutachten (ON 36) hat das Erstgericht festgestellt, daß die Erstklägerin, die keinen Beruf erlernt hat, zur Vermeidung schwerer Arbeit als Abgraterin in der kunststoffverarbeitenden Industrie, als Verpackerin, als Durchseherin in der Getränkeindustrie, als Presserin, Stanzerin, Werkstückkontrollorin arbeiten und den gleichen Lohn erzielen könnte wie als Raumpflegerin. Sie wäre auch nach der gegebenen Arbeitsmarktlage vermittelbar. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat das Erstgericht ausgeführt (AS 209): "Da sie (die Erstklägerin) weder psychisch noch physisch gehindert ist, dennoch ein Arbeitsentgelt ab 1.10.1982 zu erzielen, konnte ihre Arbeitsunfähigkeit nur bis Ende September 1982 festgestellt werden.

Ob und in welchem Grade eine Minderung oder Aufhebung der Erwerbsfähigkeit besteht, ist aber eine vom Gericht zu lösende Tatfrage (vgl. ZVR 1960/238; SZ 51/91 ua.), sodaß es sich hiebei ebenfalls um eine Tatsachenfeststellung des Erstgerichtes handelt. Der Sachverständige Ing. PAP hat in seinem Gutachten ON 10 den letzten Absatz aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S*** auf AS 55 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Untersuchung (25.4.1983) übernommen und im übrigen keinerlei Aussagen hinsichtlich des Zeitpunktes, ab welchem die Erstklägerin die im berufskundlichen Gutachten angeführten Verweisungsberufe ausüben könnte, gemacht. Die oben angeführte Feststellung des Erstgerichtes über den Zeitpunkt der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Erstklägerin, nämlich Anfang Oktober 1982, steht daher mit der Aktenlage in Widerspruch. Die Beklagte hat in ihrer Berufung die Feststellung des Erstgerichtes über die Beendigung der Arbeitsunfähigkeit der Erstklägerin mit Ende September 1982 bzw. die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ab 1.10.1982 als mit der Aktenlage nicht in Einklang stehend gerügt. Dennoch hat das Berufungsgericht diese Feststellung des Erstgerichtes als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer zutreffenden Beweiswürdigung übernommen und zum Berufungsgrund der unrichtigen Sachverhaltsfeststellung in Verbindung mit unrichtiger Beweiswürdigung ausgeführt (AS 257):

"Hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit konnte sich jedoch das Erstgericht auf die unbedenklichen Sachverständigengutachten stützen, insbesonders das Dris. S*** (S 55), hinsichtlich der Vermittelbarkeit hat das Erstgericht das Gutachten von Ing. Robert PAP herangezogen, der neben den Verweisungsberufen ausdrücklich festgehalten hat, daß ausreichende Arbeitsplätze als Raumpflegerin zur Verfügung stünden, darüber hinaus hat er in seinem ergänzenden Gutachten (S 150 und folgende) auch die konkreten freien Stellen im Raum Graz ermittelt."

Das Berufungsgericht hat damit aber die dem Erstgericht unterlaufene, oben aufgezeigte Aktenwidrigkeit nicht behoben, sondern vielmehr mit einer ebenfalls mit der Aktenlage in Widerspruch stehenden Begründung diese Feststellung des Erstgerichtes übernommen, wobei es auf AS 260 noch zusätzlich ausführte:

"Zutreffend ist daher das Erstgericht davon ausgegangen, daß es der Zweitklägerin möglich war, ab Oktober 1982 einen gleichwertigen Arbeitsplatz zu finden, und damit einen, dem Einkommen vor dem Unfall vergleichbaren Verdienst zu erzielen." Hinsichtlich der Übernahme der angeführten Feststellung des Erstgerichtes durch das Berufungsgericht ist daher auch für das Berufungsverfahren der Revisionsgrund nach § 503 Abs 1 Z 3 ZPO gegeben. Hinsichtlich der übrigen vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen konnte die Zweitklägerin jedoch das Vorliegen der Revisionsgründe nach § 503 Abs 1 Z 2 und 3 ZPO nicht dartun, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO).

In der Rechtsrüge verweist die Zweitklägerin auf ihre Ausführungen zu den übrigen Revisionsgründen und bringt darüber hinaus vor, daß nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ein allenfalls vorhandener Vorschaden bei der Frage des Verdienstentganges dann belanglos sei, wenn jener durch das schädigende Ereignis erst volle Wirksamkeit erlangte. Hätte das Berufungsgericht nun beachtet, daß die Erstklägerin nach den Verfahrensergebnissen während des Krankenstandes ihren bisherigen Arbeitsplatz verlor, sie gemäß dem unfallschirurgischen Gutachten ein Jahr nach dem Unfall noch immer um 15 % in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert war und das ergänzende berufskundliche Gutachten ON 36 sich nur punktuell auf zwei Tage im Jahre 1985 bezog, so hätte es bei richtiger rechtlicher Beurteilung davon ausgehen können, daß der geltend gemachte Verdienstentgang vollkommen zu Recht bestehe.

Hiezu ist folgendes auszuführen:

Wie der Oberste Gerichtshof in der E. SZ 51/91 ausgesprochen hat, muß mit der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit im früheren Ausmaß nicht bereits die Wiedererlangung des früheren Einkommens Hand in Hand gehen, so daß damit der Anspruch auf Ersatz des Verdienstentganges nicht schlechthin entfällt. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn es dem wiederhergestellten Verletzten, sei es vorübergehend, sei es dauernd, insbesondere bei Dienstnehmern im fortgeschrittenen Alter oder bei schon vor dem Unfall erheblich verminderter Erwerbsfähigkeit nicht gelingt, eine gleichwertige, zumutbare Beschäftigung zu finden. Es gilt aber auch der aus der Schadensminderungspflicht abgeleitete Grundsatz, daß sich der Verletzte nach seiner Genesung auf seinen Anspruch auf Ersatz des Verdienstentganges anrechnen lassen muß, was er aus einem ihm zumutbaren, von ihm aber ausgeschlagenen Erwerb zu ziehen schuldhaft unterlassen hat (vgl. ZVR 1961/177; ZVR 1973/92; ZVR 1977/43). Was dem Geschädigten im Einzelfall im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht zumutbar ist, bestimmt sich nach den Interessen beider Teile und nach den Grundsätzen des redlichen Verkehrs (vgl. ZVR 1973/92 ua.). Was die Beweislast hinsichtlich der Erwerbsmöglichkeit betrifft, so hat der Oberste Gerichtshof schon in der Entscheidung ZVR 1977/43 dargelegt, daß zwischen dem Fall der verbliebenen teilweisen Erwerbsfähigkeit und dem der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit im früheren Ausmaße zu unterscheiden ist. Im ersteren Falle müßte im Sinne der ständigen Rechtsprechung, um eine Verletzung der Schadensminderungspflicht annehmen zu können, der Schädiger den Nachweis erbringen, daß der Geschädigte eine ihm nachgewiesene konkrete Erwerbsmöglichkeit oder eine zu einer solchen voraussichtlich führende Umschulung ohne zureichende Gründe ausgeschlagen hat (vgl. ZVR 1973/92 ua.). Im zweiten Falle hingegen ist dem wiederhergestellten Verletzten zuzumuten, daß er nach erfolgter Wiederherstellung seiner früheren Arbeitsfähigkeit sich um die Wiedererlangung des früheren oder eines gleichwertigen zumutbaren Arbeitsplatzes bemüht. In diesem Falle der Wiedererlangung der früheren Arbeitsfähigkeit wäre es unbillig, vom Schädiger zu verlangen, daß er den Geschädigten auf die allfällige Möglichkeit der Wiedererlangung des entsprechenden Arbeitsplatzes besonders hinweist, weil der Schädiger wohl kaum in der Lage ist, die Wiederherstellung der früheren Erwerbsfähigkeit des Verletzten außerhalb eines Prozesses festzustellen. In diesem Zusammenhang ist noch darauf zu verweisen, daß das Maß der wirtschaftlichen Erwerbsfähigkeit des Verletzten, nicht aber die abstrakte medizinische Einstufung für die Beurteilung des Anspruches auf Verdienstentgang maßgebend ist. Die medizinisch beurteilte Arbeitsfähigkeitsminderung kann nicht ohne weiteres mit der für die Beurteilung der nach § 1325 ABGB maßgebenden Erwerbseinbuße gleichgestellt werden (vgl. ZVR 1961/34, ZVR 1963/68, ZVR 1975/166 ua.).

Für die Anwendung dieser Grundsätze sind aber jedenfalls ausreichende einwandfreie Feststellungen darüber, in welchem Ausmaß und ab welchem Zeitpunkt eine Wiederherstellung der wirtschaftlichen Erwerbsfähigkeit der Erstklägerin anzunehmen ist, erforderlich, da erst dann abschließend über ihren Anspruch auf Verdienstentgang entschieden werden kann. Mit Rücksicht auf die aufgezeigte, im Berufungsverfahren unterlaufene Aktenwidrigkeit war daher wie im Spruch zu entscheiden.

In diesem Umfang beruht die Kostenentscheidung auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E10313

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0020OB00059.86.0210.000

Dokumentnummer

JJT_19870210_OGH0002_0020OB00059_8600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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