Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des A in W, geboren 1986, vertreten durch Mag. Philipp Scheuba, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 10, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 18. März 2005, Zl. 245.876/0- XI/34/04, betreffend §§ 7, 8 AsylG (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein nach seinen Angaben am 18. November 1986 geborener Staatsangehöriger von Nigeria, reiste am 22. Dezember 2002 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 23. Dezember 2002 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 10. Dezember 2003 gab er als Fluchtgrund im Wesentlichen an, Mitglieder einer "Gesellschaft", der sein im Oktober 2002 verstorbener Vater angehört habe, hätten dem Leichnam seines Vaters "Teile" entnommen und den Beschwerdeführer aufgefordert, dieser "Gesellschaft" beizutreten. Da er dies - ausschließlich auf Grund seines christlichen Glaubens - abgelehnt habe, sei er von den Mitgliedern dieser Gesellschaft mit dem Tod bedroht worden. Er sei darauf hin zu seinem Onkel nach Lagos geflüchtet, der ihm gesagt habe, dass auch "viele Polizisten" Mitglieder der Gesellschaft seien und dass er "lieber nach Lagos kommen" solle. Schließlich habe der Onkel ihm geraten, aus Nigeria zu flüchten. Die Männer, die ihn bedroht hätten, würden ihn "durch Informationen von anderen Leuten finden" und hätten ihm auch gedroht, dass sie ihn überall finden würden, "egal wohin ich gehe". Auf die Frage, was gewesen wäre, wenn er nicht nach Lagos, sondern z.B. nach Abuja oder Benin City gegangen wäre, antwortete der Beschwerdeführer: "Ich habe niemanden in Abuja und kann deswegen nicht dorthin gehen." Im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria habe er Angst "um mein Leben wegen der Männer der Gesellschaft".
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 15. Dezember 2003 gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria zulässig sei. In der Begründung dieser Entscheidung führte das Bundesasylamt nach Wiedergabe des Vorbringens des Beschwerdeführers aus, sein Vorbringen werde "dem Verfahren als zu beurteilender Sachverhalt zu Grunde gelegt". Außerdem traf die Behörde zur Situation in Nigeria "allgemeine Feststellungen", die "auf einer Gesamtschau sämtlicher zitierter unbedenklicher und schlüssiger Erkenntnisquellen" basierten; darunter die Feststellung, es könne nicht festgestellt werden, dass "verschiedentlich von Sekten oder Naturreligionen verübte Verbrechen von staatlicher Seite geduldet werden, doch können die Verbrechen von der teilweise nur mangelhaft ausgestatteten Polizei nicht in allen Fällen aufgeklärt bzw. präventiv verhindert werden". Weiter stellte das Bundesasylamt fest, dass das nigerianische Justizsystem "grundsätzlich funktionsfähig" sei, jedoch seien die "Haftbedingungen hart, dies insbesondere im Hinblick auf die Überfüllung von Gefängnissen (Quelle: UBAS Bescheid Zl. 221.630/0-XII/36/01)". In einer "Stellungnahme der Österreichischen Botschaft Lagos vom 3.1.2000" sei mitgeteilt worden, dass die nigerianische Regierung bemüht sei, ihren Bürgern Schutz vor Bedrohungen von Sekten zu gewähren. Keinesfalls dulde der Staat Verfolgungshandlungen von Sekten. Weiter sei festzustellen, dass in Nigeria "jedermann im Falle der Gefährdung von Verfolgung durch nicht-staatliche Individuen - etwa aus stammesrechtlich oder ähnlich begründeten Problemen, Problemen mit Kultmitgliedschaften, religiösen Schwierigkeiten usw. - die reale Möglichkeit offen steht, sich durch einen Ortswechsel innerhalb des Staates Nigeria in Sicherheit zu bringen, bzw. einer solchen Gefahr endgültig zu entgehen". Beispielsweise sei es von privater Seite Verfolgten möglich, "in der Millionenstadt Lagos unterzutauchen bzw. sicher zu leben". In Nigeria bestehe "kein staatliches Meldewesen (vgl. UBAS-Bescheid 224.843/0-V/13/01)".
In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesasylamt aus, die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Bedrohung könne nicht zu einer Asylgewährung führen, weil "die Bedrohung vom Staat ausgehen oder zumindest von diesem gebilligt werden" müsse. Dies habe der Beschwerdeführer aber weder vorgebracht noch ergebe es sich aus den behördlichen Feststellungen. Eine "Bedrohungssituation im Sinne des § 57 FrG" liege somit nicht vor. Es könne auch nicht verlangt werden, dass ein Staat in jedem Fall in der Lage sein müsse, alle möglichen Angriffe Dritter "präventiv zu verhindern". Schließlich sprächen "die allgemeinen Gegebenheiten in Nigeria (kein Meldewesen, hohe Bevölkerungsdichte) gegen eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung von Privaten im gesamten Staatsgebiet Nigerias". Im Rahmen der Begründung der Entscheidung nach § 8 AsylG führte das Bundesasylamt ebenfalls aus, die Bedrohung müsse "vom Staat ausgehen oder zumindest von diesem gebilligt werden", was beim Beschwerdeführer nicht der Fall sei. Hinweise für das Bestehen einer jedermann im gesamten Gebiet Nigerias drohenden extremen Gefahrenlage lägen offenkundig nicht vor, sodass die Abschiebung nach Nigeria als zulässig angesehen werden könne.
In der gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung wiederholte der damals noch minderjährige, durch das Amt für Jugend und Familie vertretene Beschwerdeführer im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen; er beantrage für den Fall, dass die Berufungsbehörde der Meinung sei, dass ergänzende Beweiserhebungen durchzuführen seien, dass diese der Behörde erster Instanz aufgetragen werden sollten. Die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung beantragte er nicht.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab. Begründend führte sie aus, das Bundesasylamt habe ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und sei aufgrund schlüssiger Beweiswürdigung zum Ergebnis gekommen, das Vorbringen des Beschwerdeführers "sei auch wegen des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative weder asyl- noch refoulementschutzrelevant". Es werde in der Berufung "nicht schlüssig dargetan", warum eine Verfolgung des Beschwerdeführers entgegen der Argumentation im erstinstanzlichen Bescheid "glaubhaft sein sollte". Die belangte Behörde schließe sich daher "den auch hinsichtlich der rechtlichen Subsumtion nicht zu beanstandenden Ausführungen des Bundesasylamtes" an und erhebe sie zum Inhalt des angefochtenen Bescheides. Von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung habe gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG abgesehen werden können.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
1. Zunächst ist hervorzuheben, dass das Bundesasylamt eine - von der belangten Behörde durch Verweisung auf den erstinstanzlichen Bescheid übernommene - Wahrunterstellung der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Verfolgung in Nigeria durch eine ihn nach dem Tod seines Vaters zum Beitritt nötigende, dem Beschwerdeführer die Ermordung androhende und in Nigeria die Unterstützung durch "viele Polizisten" genießende "Gesellschaft" vorgenommen hat. Das Bundesasylamt und die belangte Behörde haben sich nicht damit beschäftigt, ob die Verfolgungsbehauptung des Asylwerbers glaubhaft ist, wozu es in der Regel erforderlich ist, den Wahrheitsgehalt der vom Asylwerber angeführten Umstände und Ereignisse an den verfügbaren Informationen über die Vorgänge in dessen Heimatland in nachvollziehbarer Weise zu messen (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0590, vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0560 und vom 30. Juni 2005, Zl. 2005/20/0108, jeweils betreffend eine behauptete Verfolgung durch "Ogboni" in Nigeria).
2. Die belangte Behörde geht jedoch fehl, wenn sie ausführt, die als wahr unterstellte Bedrohung durch Angehörige der "Gesellschaft" sei "wegen des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative weder asyl- noch refoulementschutzrelevant" und das Bundesasylamt sei aufgrund "schlüssiger Beweiswürdigung" zu diesem Ergebnis gekommen. Der von der belangten Behörde übernommene erstinstanzliche Bescheid leidet insofern an einer nicht nachvollziehbaren Beweiswürdigung und geht teilweise auch von einer unrichtigen Rechtsansicht aus.
Der minderjährige Beschwerdeführer hat die Annahme, er könne durch einen Ortswechsel innerhalb Nigerias der behaupteten Verfolgungsgefahr entgehen, bei seiner Aussage vor dem Bundesasylamt bestritten und sich zur Frage der Zumutbarkeit eines Ausweichens in einen anderen Landesteil (nach Abuja oder Benin City) dahin geäußert, er habe "niemanden in Abuja" und könne "deswegen nicht dorthin gehen". Der erstinstanzliche Bescheid ist diesbezüglich nicht nachvollziehbar, weil ihm nicht zu entnehmen ist, auf welchen Quellen die hinsichtlich des Bestehens einer innerstaatlichen Schutzalternative gegenteilige - pauschale - Feststellung des Bundesasylamtes, einer drohenden Verfolgung durch Private könne man innerhalb Nigerias "endgültig entgehen", beruht, zumal auch der vom Bundesasylamt im Zusammenhang mit dem Fehlen eines staatlichen Meldewesens zitierte Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates nicht allgemein zugänglich ist. Somit stützt sich die von der belangten Behörde übernommene erstinstanzliche Beweiswürdigung nicht auf nachvollziehbare Grundlagen (vgl. in diesem Zusammenhang auch die hg. Erkenntnisse vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0560, vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0292, und vom 30. Juni 2005, Zl. 2005/20/0108, mwN).
Mit der Frage der Zumutbarkeit eines Ortswechsels für den nach seinen Angaben bei Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides siebzehnjährigen Beschwerdeführer hat sich das Bundesasylamt überhaupt nicht auseinander gesetzt. Dass der erstinstanzliche Bescheid - ausgehend vom Erfordernis einer Verfolgung "im gesamten Staatsgebiet" und in Verkennung des der Annahme einer "innerstaatlichen Schutzalternative" u.a. innewohnenden Zumutbarkeitskalküls (vgl. zuletzt das hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2005, Zl. 2002/01/0414, mwN) - keine Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers im Falle der Ausweisung nach Nigeria enthält, macht den diesen übernehmenden angefochtenen Bescheid rechtswidrig (vgl. etwa auch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Juni 2002, Zl. 2000/01/0305). In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der minderjährige Beschwerdeführer in der Berufung vorgebracht hatte, die von seinem Onkel getroffene Entscheidung, dass er das Land verlassen solle, sei für ihn bindend gewesen, und dass das Bundesasylamt den minderjährigen Beschwerdeführer - da dieser angegeben hatte, seine Verfolger wüssten von seinem Onkel in Lagos - offenbar auf ein völlig eigenständiges Dasein ohne familiären Anschluss "z.B." in "Abuja oder Benin City" verweisen wollte.
Ausgehend davon hätte die belangte Behörde - ungeachtet des Fehlens eines darauf abzielenden Antrages in der Berufung - auch nicht von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung absehen dürfen.
3. Die belangte Behörde hat aber nicht nur die zuvor behandelten Ausführungen des Bundesasylamtes übernommen, sondern allgemein ausgeführt, sie schließe sich hinsichtlich der rechtlichen Subsumtion den "nicht zu beanstandenden Ausführungen des Bundesasylamtes" an, und hat diese zum Inhalt des angefochtenen Bescheides erhoben. Damit hat sich die belangte Behörde auch die Auffassung des Bundesasylamtes zu eigen gemacht, die der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegte Bedrohung könne weder zur Asylgewährung noch zur Gewährung von Abschiebungsschutz führen, weil sie nicht "vom Staat ausgehe oder zumindest von diesem gebilligt werde". Diese Ansicht steht in Bezug auf die Asylgewährung im Gegensatz zur ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach in dieser Hinsicht vielmehr maßgeblich ist, ob die staatlichen Maßnahmen im Ergebnis dazu führen, dass der Eintritt eines asylrechtlich relevante Intensität erreichenden Nachteils aus der von dritter Seite ausgehenden Verfolgung nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist; hingegen wird die sogenannte "accountability view", die der vom Bundesasylamt vertretenen und von der belangten Behörde übernommenen Rechtsansicht zugrunde liegt, vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0509, und vom 30. September 2004, Zl. 2001/20/0430, mwN). Vergleichbares gilt auch für die Entscheidung gemäß § 8 AsylG (vgl. insoweit zuletzt das Erkenntnis vom 30. Juni 2005, Zl. 2002/20/0205, mwN).
4. Der angefochtene Bescheid war daher wegen der - vorrangig wahrzunehmenden - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 1. September 2005
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2005:2005200357.X00Im RIS seit
29.09.2005