Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 19.Februar 1987 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Harbich als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Müller, Dr. Felzmann, Dr. Brustbauer (Berichterstatter) und Dr. Kuch als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Schopper als Schriftführers in der Strafsache gegen Rudolf E*** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 StGB. über die von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Strafbezirksgerichts Wien vom 4.Oktober 1983, GZ. 10 U 42/83-7, und des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14. März 1984, AZ. 13 b Bl 204/84, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalts Dr. Presslauer, und des Verteidigers Dr. Windhopp, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Urteile des Strafbezirksgerichts Wien vom 4.Oktober 1983, GZ. 10 U 42/83-7, und des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgerichts vom 14.März 1984, AZ. 13 b Bl 204/84, verletzen § 88 Abs. 1 StGB.
Beide Urteile werden aufgehoben und gemäß §§ 292, 288 Abs. 2 Z. 3 StPO. wird in der Sache selbst erkannt:
Rudolf E*** wird von der Anklage, am 1.Juli 1982 in Wien in der Oberen Augartenstraße auf der Höhe des Hauses 14 a im Bereich der dortigen Zufahrtstraße zum Umspannwerk der Wiener E*** sowie der Nebenfahrbahn als Lenker eines Personenkraftwagens durch Verstoß gegen Vorschriften der Straßenverkehrsordnung einen Zusammenstoß mit dem von Dietmar S*** gelenkten Motorfahrrad herbeigeführt, dabei den Letztgenannten, welcher Prellungen, Hautabschürfungen sowie einen Sprung im linken Außenknöchel erlitt, fahrlässig am Körper verletzt und hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 StGB. begangen zu haben, gemäß § 259 Z. 3 StPO. freigesprochen.
Text
Gründe:
Rudolf E*** wurde vom Strafbezirksgericht Wien am 4.Oktober 1983, 10 U 42/83, des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 StGB. schuldig gesprochen.
Das Gericht stellte fest, daß E*** am 1.Juli 1982 in Wien in der Oberen Augartenstraße auf der Höhe des Hauses 14 a einen Personenkraftwagen lenkte, nach Einbiegen von der Hauptfahrbahn und Durchfahren einer als "Zufahrtstraße zum Umspannwerk der Wiener E***" bezeichneten Verkehrsfläche die Nebenfahrbahn überqueren und sodann die dort befindliche Einfahrt zum genannten Betriebsgebäude benützen wollte. Bei der Beobachtung des Verkehrs in der Nebenfahrbahn war E*** durch eine Hecke und ein abgestelltes Fahrzeug behindert. Wegen dieser Sichtbeeinträchtigung und des geringen Seitenabstands zu geparkten Personenkraftwagen bewegte er sein Fahrzeug nur mit Schrittgeschwindigkeit. In der Nebenfahrbahn fuhr - aus der Sicht E*** von rechts kommend - der Mopedlenker Dietmar S***, welcher eine Geschwindigkeit von 35 bis 40 km/h einhielt. Die beiden Fahrzeuge stießen im Bereich der Nebenfahrbahn zusammen, wodurch der Mopedlenker Prellungen, Hautabschürfungen und einen Sprung im linken Außenknöchel erlitt.
In rechtlicher Beziehung leitete das Strafbezirksgericht Wien eine Fahrlässigkeitsschuld (§ 6 StGB.) des Rudolf E*** an dem Verkehrsunfall aus einem Verstoß gegen § 13 Abs. 3 StVO. ab, weil er beim Einfahren zum Umspannwerk nicht die gesetzlich geforderte besondere Vorsicht aufgewendet habe. Die Formulierung der Entscheidungsgründe läßt offen, ob das Gericht von der Außerachtlassung eines aus dieser Gesetzesstelle abgeleiteten allgemeinen Gebots erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern oder konkret von der Verletzung der Verpflichtung, sich von einer geeigneten Person einweisen zu lassen, ausgegangen ist.
Rudolf E*** hat das Urteil des Strafbezirksgerichts Wien mit Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe bekämpft. Das Landesgericht für Strafsachen Wien wies mit Urteil vom 14.März 1984, AZ. 13 b Bl 204/84 (ON. 13), die Berufung punkto Nichtigkeit als unbegründet zurück und gab der Schuldberufung keine Folge. Der Berufung wegen Strafe wurde teilweise stattgegeben und die Höhe des Tagessatzes reduziert.
Das Berufungsgericht hielt auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen, von der Rechtsauffassung einer dem Kraftwagenlenker anzulastenden Vorrangverletzung ausgehend, den Schuldspruch im Ergebnis für richtig. Bei der von E***
befahrenen Zufahrtstraße zum Umspannwerk handle es sich um eine Verkehrsfläche von untergeordneter Bedeutung, welche der Regelung des § 19 Abs. 6 StVO. unterliege. Da sich das Motorfahrrad ebenfalls auf einer solchen Verkehrsfläche (Nebenfahrbahn) bewegt habe, sei für den Vorrang zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern die allgemeine Regelung des § 19 Abs. 1 StVO. heranzuziehen und E*** gegenüber dem von rechts kommenden Moped wartepflichtig gewesen. Ergänzend wies das Berufungsgericht darauf hin, daß ein Fahrzeuglenker, der zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet sei und sich deswegen unter Umständen eines Einweisers zu bedienen habe (§§ 14 Abs. 3, 13 Abs. 3 StVO.), den Vorrang nicht in Anspruch nehmen könne. Diese Argumentation ist mit einer bereits aus § 19 Abs. 1 StVO. abgeleiteten Wartepflicht des Rudolf E*** unvereinbar.
Rechtliche Beurteilung
Die Urteile beider Instanzen stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Nach der vom Bezirksgericht für die Lösung der Schuldfrage als maßgebend angesehenen und auch vom Berufungsgericht berücksichtigten Vorschrift des § 13 Abs. 3 StVO. muß sich der Lenker beim Einfahren in Häuser oder Grundstücke und beim Ausfahren aus Häusern oder Grundstücken von einer geeigneten Person einweisen lassen, wenn es die Verkehrssicherheit erfordert. Das - von der Hauptfahrbahn kommend - langsame Einfahren in eine Nebenfahrbahn, um diese zu überqueren und erst darnach eine Einfahrt zu benützen, verpflichtete Rudolf E*** gemäß § 13 Abs. 3 StVO. nicht zur Beiziehung eines Einweisers oder zu einem sonstigen speziellen Vorsorgeverhalten.
§ 14 Abs. 3 StVO. betrifft nur das Rückwärtsfahren und hat mit dem gegenständlichen Verkehrsgeschehen überhaupt nichts zu tun ! Die für die Verschuldensfrage allein wesentliche Beurteilung, welchem der beiden Verkehrsteilnehmer der Vorrang zukam, hat der Oberste Gerichtshof in seiner diesen Verkehrsunfall betreffenden Entscheidung vom 30.September 1986, 2 Ob 42/86, vorgenommen und ausgesprochen, daß entgegen der Meinung des Landesgerichts der Kraftwagenlenker bevorrangt war. Für die straßenverkehrsrechtliche Einordnung der von ihm benützten Verkehrsfläche ist nämlich davon auszugehen, daß Hauptfahrbahn und Nebenfahrbahn gemeinsam eine Straße bilden, zu welcher auch Verbindungswege, wie der von E*** befahrene, als "Zufahrtstraße" bezeichnete gehören. Da diese Verkehrsfläche nicht etwa nur der Zufahrt zum Umspannwerk, sondern auch der Zufahrt in und der Abfahrt aus der Nebenfahrbahn dient, ist sie als Teil der Oberen Augartenstraße anzusehen, stellt aber keine Nebenfahrbahn dar, weil sie nicht "neben" der Hauptfahrbahn verläuft und nicht von dieser getrennt ist (§ 2 Abs. 1 Z. 4 StVO.). Als E***, mit seinem Personenkraftwagen von der Hauptfahrbahn einbiegend, diese "Zufahrtstraße" in Richtung der Nebenfahrbahn befuhr, um letztere zu übersetzen, hatte er die Obere Augartenstraße noch nicht verlassen und befand sich somit noch im fließenden Verkehr. Er war daher gegenüber dem von der Nebenfahrbahn kommenden Moped gemäß § 19 Abs. 6 StVO. im Vorrang. Im Hinblick einerseits auf die Wartepflicht des Mopedlenkers und andererseits auf die bloße Schrittgeschwindigkeit des Kraftwagens (Urteilsfeststellung) kann dessen Führer eine unfallskausale Fahrlässigkeit nicht angelastet werden. Es war daher gemäß §§ 292, 288 Abs. 2 Z. 3, 259 Z. 3 StPO. sofort mit Freispruch vorzugehen.
Anmerkung
E10094European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:0130OS00015.87.0219.000Dokumentnummer
JJT_19870219_OGH0002_0130OS00015_8700000_000