Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ferdinand S***, Student, Kliening 39, vertreten durch Dr. Bernt Ambrositsch, Rechtsanwalt in Wolfsberg, wider die beklagten Parteien 1.) Monika B***, Angestellte, Sommerau 27, 2.) I***
U***- UND S*** Aktiengesellschaft, Wien 1.,
Tegetthoffstraße 7, beide vertreten durch Dr. Frank Kalmann, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen S 598.067,80 s.A. und Feststellung, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 27. August 1986, GZ 4 R 106/86-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Teilzwischenurteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 9. März 1986, GZ 18 Cg 336/84-21, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger wurde am 19. November 1980 gegen 17,45 Uhr auf der Obdacher Bundesstraße beim Überqueren der Fahrbahn von dem von der Erstbeklagten gelenkten, bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW VW erfaßt und schwer verletzt. Die Erstbeklagte wurde wegen dieses Unfalls nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB strafgerichtlich verurteilt. Dem Urteilsspruch wurde zugrundegelegt, daß die Erstbeklagte mit überhöhter Geschwindigkeit (60 bis 80 km/h) an einer Bushaltestelle vorbeifuhr. Der Kläger behauptet einen Schaden von S 678.067,80 (einschließlich Schmerzengeld). Er begehrt unter Berücksichtigung einer Teilzahlung Leistung von S 598.067,80 s.A. und die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für künftige Schäden. Das Erstgericht sprach mit Teilzwischenurteil aus, daß der Leistungsanspruch des Klägers dem Grunde nach mit 1/3 zu Recht bestehe. Nach seinen Feststellungen war es im Unfallszeitpunkt bereits dunkel. Der Kläger und seine im Jahre 1964 geborene Schwester begannen (im Bereich der Bezugslinie laut Skizze) nach Verlassen des Autobusses die Fahrbahn von Ost nach West in einem Winkel von ca. 75 Grad mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 5 km/h zu überqueren. Weder der Kläger noch seine Schwester bemerkten den sich aus Norden mit Abblendlicht annähernden PKW. Ca. 1 m über der Fahrbahnmitte kam es zur Kollision. Von der ostseitigen Randlinie bis zur Kollision legte der Kläger 4,8 m zurück. Wenn sich ein Autobus in der Haltestellenbucht befindet, besteht aus einer Position an der Randlinie 1 m südlich der Bezugslinie Sicht nach Norden auf mindestens 150 m. Befindet sich ein Autobus außerhalb der Haltestellenbucht und erreicht er etwa 30 m nördlich der Bezugslinie mit der linken Vorderkante die Leitlinie, so beträgt die Sicht ca. 60 m. Nähert man sich der Leitlinie auf 50 cm, so vergrößert sich diese Sicht nach Norden auf ein von dort kommendes Kraftfahrzeug auf 120 m. Ohne eine Sichtbehinderung durch einen Autobus, der sich in der Haltestellenbucht oder außerhalb derselben befindet, ist die Sicht nach Norden auf 150 m gegeben.
Nach der Auffassung des Erstgerichtes treffe den Kläger das überwiegende Verschulden, sodaß eine Verschuldensteilung von 1 : 2 zu seinen Lasten gerechtfertigt sei.
Das Ersturteil wurde nur vom Kläger insoweit angefochten, als nicht eine Verschuldensteilung von 1 : 2 zu seinen Gunsten vorgenommen wurde. Zur Frage des sich daraus ergebenden Wertes des Streitgegenstandes, über den das Berufungsgericht zu entscheiden hatte, kann auf den Beschluß des Obersten Gerichtshofes vom 27. Jänner 1987 verwiesen werden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge. Es änderte das Ersturteil im Sinne einer Verschuldensteilung von 1 : 1 ab und erklärte die Revision für zulässig. Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Berufungsgericht damit, daß mangels einer einheitlichen Rechtsprechung der Frage der Verschuldensteilung bei Beteiligung eines bereits 14 Jahre alten Minderjährigen zur Wahrung der Rechtseinheit erhebliche Bedeutung zukomme.
Gegen die Entscheidung der zweiten Instanz richtet sich die Revision der beklagten Parteien aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils.
Der Kläger wendet sich gegen die Zulässigkeit der Revision und beantragt im übrigen, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der beklagten Parteien ist zulässig und auch berechtigt.
Der Bekämpfung des Zulässigkeitsausspruches des Berufungsgerichtes durch den Kläger ist entgegenzuhalten, daß der Frage, ob das Mitverschulden eines nur knapp über 14 Jahre alten Fußgängers milder zu beurteilen ist als das Verschulden eines Volljährigen, die Qualifikation nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO zukommt, weil eine Rechtsprechung hiezu fehlt. Insbesondere auf die Minderjährigkeit des Klägers hat das Berufungsgericht seine vom Erstgericht abweichende Verschuldensteilung gestützt (AS 119 in ON 26). Bei Beurteilung dieser Frage ist davon auszugehen, daß ein Minderjähriger mit Erreichung des 14. Lebensjahres zivilrechtlich grundsätzlich voll deliktsfähig wird (EvBl 1977/41; ZVR 1957/177; Koziol-Welser7 I 56; Ehrenzweig-Mayrhofer II/1 294). Es besteht daher kein Grund, das Verschulden eines bereits vierzehnjährigen Minderjährigen unter sonst gleichen Voraussetzungen milder zu beurteilen als das eines Volljährigen. Anders mag dies sein, wenn im Einzelfall wegen eines Mangels der vollen Einsichtsfähigkeit dem Minderjährigen ein geringerer Vorwurf der Willensbildung gemacht werden kann. Für das Vorliegen eines solchen Mangels fehlen aber Anhaltspunkte, und es wurden in dieser Richtung auch keine Behauptungen aufgestellt. Gerade in bezug auf das Verhalten eines Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn kann im allgemeinen bei einem bereits über 14 Jahre alten Minderjährigen volle Einsichtsfähigkeit vorausgesetzt werden. Davon ausgehend ist aber der Rechtsrüge der beklagten Parteien auch darin beizupflichten, daß das überwiegende Verschulden dem Kläger anzulasten ist. Fußgänger dürfen an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt wird, wenn ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann auf die Fahrbahn treten, wenn sie sich vergewissert haben, daß sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden(§ 76 Abs 4 lit b StVO). Sie haben die Fahrbahn in angemessener Eile zu überqueren. Außerhalb von Schutzwegen haben sie den kürzesten Weg zu wählen; hiebei dürfen sie den Fahrzeugverkehr nicht behindern (§ 76 Abs 5 StVO). Die Regelung des Abs 5 ist von dem Grundsatz beherrscht, daß die Fahrbahn in erster Linie für den Fahrzeugverkehr bestimmt ist (SZ 45/37 ua). Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, muß ein Fußgänger insbesondere bei Dunkelheit vor dem Überqueren der Fahrbahn die Verkehrslage besonders sorgfältig prüfen. Bei Erreichung der Fahrbahnmitte muß er sich neuerlich vergewissern, ob sich ihm von rechts ein Fahrzeug nähert, und er hat stehenzubleiben, wenn ein Fahrzeug so nahe ist, daß ein gefahrloses Überqueren der Fahrbahn vor diesem nicht mit Sicherheit möglich ist (ZVR 1985/107; ZVR 1979/302 je mwN).
Daß der Kläger diese Grundsätze nicht beachtet hat, kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht zweifelhaft sein. Bei der Verschuldensabwägung fällt aber zu seinen Lasten weiters ins Gewicht, daß er die Fahrbahn in einem Winkel von 75 Grad überquerte, wodurch die Möglichkeit, daß die Scheinwerfer des von rechts herankommenden Fahrzeuges im Gesichtsfeld des Klägers eine Signalwirkung auslösen konnten, erheblich eingeschränkt wurde. Daraus ergibt sich aber zusammen mit den übrigen Verstößen gegen die obgenannten Regeln beim Überqueren der Fahrbahn eine besondere Sorglosigkeit des Klägers, die auch nicht dadurch gemildert wird, daß er die Fahrbahn mit seiner Schwester überquerte. Demgegenüber hat die Erstbeklagte eine nicht unerhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung zu vertreten. Bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h beträgt zwar der Anhalteweg 35,2 m und liegt noch innerhalb des Sichtbereiches beim Fahren mit abgeblendetem Scheinwerfer. Die Geschwindigkeit der Erstbeklagten lag jedoch im Bereich zwischen 60 und 80 km/h und schon eine Geschwindigkeit von 60 km/h wäre nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes bei abgeblendetem Scheinwerfer überhöht (vgl. ZVR 1972/143; ZVR 1968/59). Die Erstbeklagte kann sich aber bei der Verschuldensabwägung zu ihren Gunsten darauf berufen, daß sie nach nunmehr herrschender Ansicht auch beim Vorbeifahren an der - überdies in ihrer Fahrtrichtung links
gelegenen - Autobushaltestelle nicht von vornherein mit dem verkehrswidrigen Verhalten aussteigender Fahrgäste beim Überqueren der Fahrbahn rechnen mußte (ZVR 1979/155; SZ 45/37 ua). Unter Bedachtnahme auf diese Umstände und unter Berücksichtigung der in vergleichbaren Fällen vorgenommenen Verschuldensteilung (ZVR 1979/155; ZVR 1958/107) ist dann aber eine Teilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten des Klägers gerechtfertigt. Unerörtert bleiben kann die Frage, ob die Voraussetzungen für ein Zwischenurteil hinsichtlich aller Teilansprüche des Klägers gegeben waren, weil ein prozessualer Verstoß bei Fällung eines Zwischenurteiles ausdrücklich gerügt werden muß und nicht von Amts wegen wahrzunehmen ist (SZ 45/51; SZ 37/96 ua). Im Ausspruch, daß die Ansprüche des Klägers zu einem Drittel zu Recht und zu einem Drittel nicht zu Recht bestehen, liegt überdies Teilrechtskraft vor. Demgemäß ist der Revision Folge zu geben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 2 ZPO.
Anmerkung
E11106European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:0020OB00026.87.0512.000Dokumentnummer
JJT_19870512_OGH0002_0020OB00026_8700000_000