TE Vwgh Erkenntnis 2005/9/7 2003/08/0093

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Veröffentlicht am 07.09.2005
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Index

14/02 Gerichtsorganisation;
40/01 Verwaltungsverfahren;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASGG §65;
ASVG §355;
ASVG §357 Abs1;
ASVG §367 Abs1;
ASVG §412 Abs1;
AVG §69 Abs1 Z2;
AVG §69;
AVG §70;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Strohmayer, Dr. Köller und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des Mag. A in S, vertreten durch Dr. Franz Amler und Dr. Michael Schwarz, Rechtsanwälte in 3100 St. Pölten, Brunngasse 12/2, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom 6. März 2003, Zl. GS8-SV-77/1-2003, betreffend Wiederaufnahme eines Leistungs- und Feststellungsverfahrens betreffend die Unfallversicherung nach dem ASVG (mitbeteiligte Partei: Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird, soweit mit ihm der Antrag auf Wiederaufnahme des Feststellungsverfahrens abgewiesen wird, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Soweit mit dem angefochtenen Bescheid der Antrag auf Wiederaufnahme des Leistungsverfahrens abgewiesen wird, wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund (Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

I.

1. Der Beschwerdeführer rutschte am 23. Jänner 1997 beim Verlassen seines Wohnhauses auf dem Weg zur Arbeit auf der vereisten Treppe aus und stieß mit dem Rücken auf eine Stufenkante.

Auf Ersuchen der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse hat der Beschwerdeführer am 4. Februar 1997 folgenden Unfallbericht erstattet:

"Um Straßenniveau zu erreichen muss ich nach Verlassen meines Wohnhauses noch drei Stufen passieren, welche zum Teil durch ein Vordach überdeckt sind.

Da am Morgen des 23.1.1997 extremes Glatteis herrschte, war die dritte Stufe zur Hälfte mit Eis überzogen. Trotz ausreichender Außenbeleuchtung (Einschaltung über Annäherungsschalter) konnte ich die Gefahrenquelle nicht wahrnehmen und rutschte bei Betreten dieser Stufe aus und kam zu Fall.

Ich stieß mit dem Rücken auf die Stufenkante, dabei verletzte ich mich. Ich konnte nicht mehr aufstehen und mich nur durch Rufen bemerkbar machen.

Das ganze passierte auf dem Weg zur täglichen Arbeitsstätte

(Arbeitsbeginn 7.00).

...

In Folge des Sturzes ist auch ein Tinnitus-Syndrom aufgetreten, welches derzeit mein Hauptproblem darstellt."

In der von der Abteilung für Unfallchirurgie und Sporttraumatologie des AKH St. Pölten am 23. Jänner 1997 ausgestellten Katasterkarte wurde folgender Befund angeführt:

"Pat. kommt privat gehend in die Ev. Gibt an, heute gestürzt zu sein und sich im LWS-Bereich verl. zu haben. Die LWS äußerlich in Form und Farbe unauffällig. Keine Schwellung, keine Hämatomverfärbung. Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der re. Seite im Bereich des IV und V LW. Der Bauch ist weich, Harnbefund neg., keine weiteren Schmerz oder Verl. Angaben.

...

04-02-1997 von OA. Dr. F:

...

klinisch: subj. deutl. rückläufige Beschwerden im LWS-Bereich, Bewegl. nur mehr endlagig eingeschränkt, Gangbild unauffällig, ...

Als NB beschreibt d. Pat. ein auch schon vor d. Unfall bestehendes Taubheitsgefühl bzw. Ohrensausen, diesbezügl.

Infusionsbehandlung bei HA.

     29-05-2002 Nachträglicher Befund:

     Prim. Dr. F.

     Aktenvermerk:

     Auf Wunsch des Patienten erfolgt die Eintragung, dass der

Tinnitus erst nach dem Unfall aufgetreten ist."

     Am 20. Jänner 2000 beantragte der Beschwerdeführer bei der

mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt die Zuerkennung einer Unfallrente. Der Unfall vom 23. Jänner 1997 verursache - abgesehen von den Verletzungen an der Wirbelsäule - durch den aufgetretenen beiderseitigen Tinnitus große Probleme.

Auf Ersuchen der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt gab die praktische Ärztin Dr. Elisabeth H, bei der der Beschwerdeführer in Behandlung gestanden war, am 14. Februar 2000 unter anderem an:

"1. In meiner Behandlung vom 30.1.97 bis lfd

...

4. Welche Behandlung erfolgte im angegebenen Zeitraum:

med. Schmerzth.

durch Sturz Tinnitus verstärkt - Inf. Th

5. Folgezustände bei Behandlungsabschluss (schlagwortartig):

rez mittelgrad. lumbalgif. Beschw.

Tinnitus durch Prellung häufiger u. stärker

...

7. Bericht nach Aufzeichnungen"

Der von der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt beigezogene Sachverständige für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. Peter F. führte in seinem Gutachten vom 1. August 2000 aus:

"Bei der Begutachtungsuntersuchung am 29.6.2000 gibt der (Beschwerdeführer) an, daß er erstmalig wenige Stunden nach dem Unfall vom 23.1.1997 an einem beidseitigen Ohrensausen litt. Eine subjektive Hörminderung lag nach seinen Angaben nicht vor. Zwei Wochen vor dem gegenständlichen Unfall suchte er, wegen einer plötzlich aufgetretenen rechtsseitigen Hörminderung, den HNO-Facharzt Dr. R auf. Nach den Aussagen (des Beschwerdeführers) dauerte diese Hörstörung aber nur einen Tag.

Laut den Ausführungen des (Beschwerdeführers) stürzte er beim Arbeitsunfall vom 23.1.1997 nicht auf den Kopf. Es lag auch keine Bewusstlosigkeit vor. Bei einem traumatisch ausgelösten Tinnitus sollte aber zumindest ein stumpfes Schädeltrauma vorgelegen sein. Ob ein Ohrensausen auch durch ein Rückentrauma ausgelöst werden kann, ist aus der Literatur nicht erhebbar, ist aber äußerst unwahrscheinlich. Auch die vor dem Unfall bestandene kurzzeitige, rechtsseitige Hörminderung spricht eher für eine idiopathische Innenohrstörung.

Bei dem Patienten besteht eine beidseitige, geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit. (...) Des Weiteren leidet der (Beschwerdeführer) an einem beidseitigen Tinnitus. (...)

1. Die Minderung der Erwerbstätigkeit (Hörminderung und Tinnitus) (als DR) zum Zeitpunkt der Antragstellung beträgt unter 10% (aber nicht durch den Unfall bedingt!).

2. Sind die Beschwerden des (Beschwerdeführers) tatsächlich auf den Unfall vom 23.1.1997 zurückzuführen oder ein anlagebedingtes Leiden?

Es liegen sehr widersprüchliche Angaben vor (...). Da der (Beschwerdeführer) in der Untersuchung vom 4.2.1997 (...) selbst angegeben hat, daß schon vor dem gegenständlichen Unfall ein Taubheitsgefühl bzw. Ohrensausen bestanden hat, kann gefolgert werden, daß die Beschwerden nicht auf den Unfall, sondern auf ein anlagebedingtes Leiden zurückzuführen sind. Darüberhinaus wird im Arztbrief von Fr. Dr. H ... angegeben, daß sich der Tinnitus durch den Unfall verstärkt habe."

Mit Bescheid vom 3. Oktober 2000 sprach die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt gegenüber dem Beschwerdeführer aus:

"Der Arbeitsunfall vom 23.01.1997, den Sie als Dienstnehmer erlitten haben, hat folgende Verletzung(en) verursacht:

Bruch des Querfortsatzes des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers rechts bei vorbestehendem Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und 6. Halswirbelkörper sowie akausaler Hörminderung und Tinnitus beidseits.

Der Antrag vom 24.01.2000 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wird gemäß §§ 86 Abs 4 und 203 ASVG abgewiesen."

Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

2. Gegen ein Schreiben der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt vom 25. September 2001, mit dem sein Antrag auf Zuerkennung einer Kostenübernahme für eine ambulante Tinnitusbehandlung abgelehnt worden war, erhob der Beschwerdeführer am 16. Oktober 2001 Protokollarklage beim LG St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht und brachte vor, seine Hörbeschwerden seien ausschließlich auf den Unfall vom 23. Jänner 1997 zurückzuführen. Der vom LG St. Pölten bestellte gerichtlich beeidete Sachverständige aus dem Gebiet der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Dr. Helmut U., führte in seinem Gutachten vom 24. Jänner 2002 u.a. aus:

"Tinnitus kann als Folge eines Traumas nur dann ausreichend wahrscheinlich gemacht werden, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde aufgetreten sind.

Dies betrifft besonders eine messbare Hörstörung.

Beim (Beschwerdeführer) lässt sich eine Hörstörung mit einer Hochtonsenke bei 6000 Hz bds. messen, jedoch findet sich in den Unterlagen kein Hinweis auf ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma.

Wenn nach fünf Jahren noch eine Hochtonschwerhörigkeit von 50 dB bds. besteht, so muss beim Unfall ein wesentlich schweres Trauma vorgelegen haben, da die Innenohrläsionen nach Trauma im allgemeinen eine sehr gute Remission zeigen.

Wenn nun ein so schweres Trauma vorgelegen hat, dann hätte der Kläger eine Commotio cerebri oder auch eine Bewusstlosigkeit gehabt, diese wäre aber dann im Aufnahmebericht des KH St. Pölten, Unfallabteilung, vermerkt gewesen. Hierzu findet sich leider kein Vermerk.

Somit kann die Unfallkausalität nicht bewiesen werden.

Die MdE auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für den hier vorliegenden Tinnitus ist für jedes Ohr mit 5 (fünf) von 100 anzusetzen, also zusammen 10 (zehn) von 100.

Die Hörstörung erreicht noch kein entschädigungspflichtiges Ausmaß, die MdE hierfür ist mit 0 (null) von 100 festzusetzen.

Sowohl der negative SISI-Test als auch der Vermerk, dass schon vor dem Unfall ein Ohrgeräusch bestanden habe sind Hinweis dafür, dass der Unfall nicht auslösende Agens für die vorliegende Schädigung ist."

In der mündlichen Verhandlung vor dem LG St. Pölten vom 13. Juni 2002 führte Dr. Helmut U. aus:

"Auf das Vorbringen des (Beschwerdeführers), wonach die Ambulanzkarte Seite 2 des Anstaltsaktes und auch das Schreiben Dris. H. im Anstaltsakt nicht richtig seien und auf die Frage, wie sich der Fall gestalte, wenn man diese Auskünfte nicht der Entscheidung zu Grunde lege, ist auszuführen, beim (Beschwerdeführer) ist ein Ohrgeräusch nachzuweisen, und zwar im Bereich von 70 dB bei 6 kHz. Es liegt eine Innenohrschädigung vor, die einer Lärmschädigung entspricht. Ohrgeräusche sind entweder auf ein massives Hirntrauma oder Folge einer Lärmschädigung, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass eine Verletzung an der Halswirbelsäule Auslösung für ein Ohrgeräusch sein kann, bei einer Verletzung der Lendenwirbelsäule ist dies jedoch auszuschließen.

Auf Frage des (Beschwerdeführers) ob im Hinblick auf den bei ihm bereits vor dem Unfall vorliegenden Schäden an der Halswirbelsäule ein Tinnitus durch den gegenständlichen Unfall verursacht werden konnte, ist auszuführen:

Dass lediglich beim Segment C4 der Halswirbelsäule, wenn hier eine Schädigung vorliegt, ein auftretendes Ohrgeräusch darauf zurückzuführen ist, beim Kläger liegt C5 und C6 vor."

Der Beschwerdeführer zog seine Klage in dieser Verhandlung zurück.

3. Am 23. Juni 2002 beantragte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des mit Bescheid der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt vom 3. Oktober 2000 rechtskräftig abgeschlossenen Leistungs- und Feststellungsverfahrens. Er brachte vor, in der Verhandlung vom 13. Juni 2002 vor dem LG St. Pölten seien ihm neue Tatsachen bekannt geworden, die im wiederaufzunehmenden Verfahren nicht berücksichtigt worden seien. Der medizinische Sachverständige Dr. Helmut U. habe in der Verhandlung ausgeführt, dass der Tinnitus bei einer Schädigung der Halswirbelsäule wahrscheinlich durch den Unfall ausgelöst worden sei. Die bei ihm (schon vor dem Unfall) bestehende Schädigung der Halswirbelsäule sei in dem Anstaltsgutachten des Sachverständigen Dr. Peter F. vom 29. Juni 2000 nicht berücksichtigt worden. Diesem Antrag legte der Beschwerdeführer u.a. einen auf Grund einer Magnetresonanztomographie erstellten Befund des Instituts für digitale Bilddiagnostik vom 29. September 1995 bei, wonach bei ihm eine "schwere Osteochondrose C3/C4 und C5-C7, medio-lateral li. betonter Discusprolaps in Höhe C5-C6 sowie medio-lateral li. betonte Protrusion in Höhe C3-C4, mediane Protrusion in Höhe C6- C7" vorliege.

Mit Bescheid vom 7. August 2002 wies die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt diesen Wiederaufnahmeantrag mit der Begründung zurück, dem Beschwerdeführer sei die Existenz des als neues Beweismittel bezeichneten MRT-Befundes vom 29. September 1995 während des Verfahrens bereits bekannt gewesen. Zudem hätte dieser Befund allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich keinen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt.

Die belangte Behörde gab dem dagegen erhobenen Einspruch mit dem angefochtenen Bescheid vom 6. März 2003 keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid mit der Maßgabe, dass das Wort "zurückgewiesen" durch "abgewiesen" ersetzt wurde. Begründend führte die belangte Behörde aus, die in der Verhandlung vom 13. Juni 2002 aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Helmut U. gewonnene Erkenntnis, dass bei einem Vorschaden beim Segment C4 der Halswirbelsäule ein Ohrgeräusch durch den gegenständlichen Arbeitsunfall verursacht werden könne, sei eine Schlussfolgerung des Sachverständigen auf Grund einer vorerst hypothetischen Sachverhaltsvariante. Es liege kein Wiederaufnahmegrund vor, wenn es die Partei unterlasse, sich eines bestimmten Beweismittels zu bedienen. Es könne nicht überzeugen, dass den Beschwerdeführer am Unterlassen einer früheren Vorlage des MRT-Befundes kein Verschulden treffe. Rechtsunkundigkeit bzw. ein Rechtsirrtum über die rechtliche Bedeutung einer Tatsache seien kein Wiederaufnahmegrund iSd § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG. Bei der Beurteilung der Folgen einer Verletzung im Wirbelsäulenbereich sei vom Unfallopfer auf Grund der auch die Parteien betreffenden Mitwirkungspflicht zu erwarten, dass alle Vorgutachten, die diesen Bereich betreffen und irgendwie für das Verfahren relevant sein könnten, für die Begutachtung vorgelegt würden. Der Beschwerdeführer sei während der ganzen Verfahrensdauer im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren betreffend die Nichtzuerkennung einer Versehrtenrente in Kenntnis des MRT-Befundes aus dem Jahr 1995 gewesen und habe diesen Befund lediglich auf Grund falscher Einschätzung der sich daraus für das Verfahren eventuell ergebenden Folgen nicht vorgelegt. Es sei unverständlich, wieso der Beschwerdeführer die (im erwähnten Gerichtsverfahren an den Sachverständigen Dr. Helmut U.) gestellte Frage nicht bereits im Verfahren betreffend die Zuerkennung einer Versehrtenrente gestellt habe. Abschließend werde bemerkt, dass die bei der MRT-Untersuchung angefertigten Bilder nicht angeschlossen seien. Erst im Zusammenhang mit diesen Bildern hätten die Ausführungen im MRT-Befund überprüft bzw. das tatsächliche Ausmaß der Vorschäden beim Segment C4 festgestellt werden können.

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt - eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Gemäß § 357 Abs. 1 ASVG gelten für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Leistungssachen und in Verwaltungssachen insbesondere die Bestimmungen der §§ 69 und 70 AVG über die Wiederaufnahme des Verfahrens entsprechend. Bei der Entscheidung über einen Wiederaufnahmeantrag durch einen Sozialversicherungsträger handelt es sich um eine Verwaltungssache iSd § 355 ASVG. Der Bescheid eines Sozialversicherungsträgers, mit dem in einer Leistungssache die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt wird, ist im Verwaltungsweg durch Einspruch an den Landeshauptmann zu bekämpfen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 10. September 1982, Zl. 82/08/0095, und vom 26. Jänner 1993, Zl. 92/08/0188, sowie Rechberger/Oberhammer, Bestandskraft der Bescheide im Leistungsverfahren vor dem Sozialversicherungsträger, ZAS 1993, 85).

2. Gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bilden weder ein einem Sachverständigen in seinem Gutachten unterlaufener Irrtum noch neue Schlussfolgerungen eines dem Verwaltungsverfahren nicht beigezogenen Sachverständigen einen Wiederaufnahmegrund. Sollte hingegen ein Sachverständiger Tatsachen, die zur Zeit der Sachverhaltsverwirklichung bereits bestanden haben, erst nach Rechtskraft des Bescheides feststellen oder sollten solche Tatsachen einem Sachverständigen erst später zur Kenntnis kommen, so könnten neue Befundergebnisse, die sich auf seinerzeit bestandene Tatsachen beziehen, durchaus einen Wiederaufnahmegrund darstellen, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG gegeben sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Juli 2001, Zl. 2001/07/0017, mwN).

3.1. Im wiederaufzunehmenden Verfahren hat die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt mit Bescheid vom 3. Oktober 2000 ausgesprochen, dass (Spruchpunkt 2) der Antrag des Beschwerdeführers vom 24. Jänner 2000 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente gemäß §§ 86 Abs. 4 und 203 ASVG abgewiesen werde und dass (Spruchpunkt 1) der Arbeitsunfall vom 23. Jänner 1997 folgende Verletzungen verursacht habe:

"Bruch des Querfortsatzes des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers rechts bei vorbestehendem Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und 6. Halswirbelkörper sowie akausaler Hörminderung und Tinnitus beidseits."

3.2. Soweit sich der Wiederaufnahmeantrag auf den Spruchpunkt 2 des Bescheides vom 3. Oktober 2000 (Abweisung des Antrags auf Zuerkennung einer Versehrtenrente) bezieht, ist er von der belangten Behörde zu Recht abgewiesen worden. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Hörschädigung des Beschwerdeführers, selbst wenn sie durch den Arbeitsunfall verursacht worden wäre, im damaligen Zeitpunkt iSd § 203 Abs. 1 ASVG über drei Monate eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20% zur Folge gehabt hätte (vgl. die genannten Gutachten der Sachverständigen Dr. Peter F. und Dr. Helmut U.). Derartiges hat auch der Beschwerdeführer nicht behauptet. Es ist somit auszuschließen, dass durch die neu vorgebrachten Tatsachen ein im Hauptinhalt des Spruchpunktes 2 anders lautender Bescheid hätte herbeigeführt werden können (§ 69 Abs. 1 Z. 2 AVG), oder dass eine amtswegige (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. Mai 2002, Zl. 98/08/0051) Prüfung des Wiederaufnahmeantrags des Beschwerdeführers (auch) gemäß § 101 ASVG ergeben könnte, die Voraussetzungen für eine rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes wären erfüllt.

4.1. Der gemäß § 367 Abs. 1 ASVG unabhängig von einem darauf gerichteten Antrag des Beschwerdeführers zu erlassende Feststellungsbescheid (vgl. hiezu Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen, Seite 377 f) stellt den Kausalzusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und einer Gesundheitsstörung im Hinblick auf ein späteres Verfahren (auf Zuerkennung von Leistungen aus der Unfallversicherung) bindend fest. Er bezieht sich nur auf die Gesundheitsstörung, die zur Zeit der Entscheidung bereits bekannt war, und bewirkt für ein späteres, aus dieser Gesundheitsstörung abgeleitetes Leistungsbegehren eine Umkehr der Beweislast (vgl. Fink, aaO, Seite 378; Kuderna, Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, Anm. 14 zu § 65 ASGG). Der Versicherungsträger kann - wie im vorliegenden Fall - auch die negative Feststellung treffen, dass eine für den vom Versicherten geltend gemachten Anspruch präjudizielle Kausalität zwischen einem bestimmten Leidenszustand und dem Arbeitsunfall nicht besteht (vgl. zur Formulierung dieser Feststellung das Urteil des OGH vom 22. Oktober 2002, 10 Ob S 327/02i = SSV-NF 16/124).

4.2. Wenngleich die von der mitbeteiligten Partei im Bescheid vom 3. Oktober 2000 verwendete Formulierung (nämlich die Verursachung einer näher genannten Verletzung "bei ... akausaler Hörminderung und Tinnitus beidseits") zu Bedenken Anlass gibt, lässt sie gerade noch erkennen, dass mit dem Bescheid vom 3. Oktober 2000 die Feststellung getroffen wurde, dass die beim Beschwerdeführer bestehende Hörminderung und der Tinnitus an beiden Ohren (und die daraus folgenden Beschwerden) nicht Folge des Arbeitsunfalles vom 23. Jänner 1997 sind. Der Beschwerdeführer ist durch diesen Bescheid beschwert (wie auch die Zurückziehung seiner Klage im erwähnten Verfahren vor dem LG St. Pölten zeigt) und hat an der Entscheidung über seinen Wiederaufnahmeantrag ein rechtliches Interesse.

4.3. Der Beschwerdeführer hat in seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens geltend gemacht, dass "die Erkrankungen der Halswirbelsäule nicht begutachtet" worden seien. Der Sachverständige Dr. Peter F. hat in seinem Befund vom 1. August 2000 die möglicherweise für den Ausgang des Verfahrens maßgebliche Vorschädigung der Halswirbelsäule des Beschwerdeführers (laut Befund des Instituts für digitale Bilddiagnostik vom 29. September 1995) nicht berücksichtigt, weil er von ihr keine Kenntnis hatte. Die belangte Behörde wirft dem Beschwerdeführer im angefochtenen Bescheid in diesem Zusammenhang vor, ihn treffe an der Nichtvorlage des MRT-Befundes vom 29. September 1995, aus dem sich die genannte Erkrankung hätte ersehen lassen, ein Verschulden.

Unstrittig ist dem Beschwerdeführer aber ein möglicher Zusammenhang zwischen der Vorschädigung seiner Halswirbelsäule im Bereich "C4" und dem aufgetretenen Hörschaden (Tinnitus) erst in der mündlichen Streitverhandlung vor dem LG St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Juni 2002 bekannt geworden. Auf die Idee, es könnte einen derartigen Zusammenhang geben, hatte der Beschwerdeführer umso weniger kommen können, als der Sachverständige Dr. Peter F. in seinem im Leistungsstreitverfahren erstatteten Gutachten vom 1. August 2000 in Anbetracht der Verletzung des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers ausführte, dass aus der "Literatur nicht erhebbar" sei, ein Ohrensausen könnte auch durch ein Rückentrauma ausgelöst werden, und dass dies äußerst unwahrscheinlich sei. Auch die beim Beschwerdeführer (zwei Wochen vor dem gegenständlichen Unfall) aufgetretene kurzzeitige Hörminderung spreche eher für eine idiopathische Innenohrstörung.

Erst auf Grund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Helmut U. in der mündlichen Streitverhandlung vom 13. Juni 2002 ist dem Beschwerdeführer bewusst geworden, dass eine (schon bestehende) Verletzung an der Halswirbelsäule ein Ohrgeräusch auslösen könne und dass diese Verletzung sowie der Tinnitus durch den gegenständlichen Unfall verschlimmert worden sein konnte, wenn eine Schädigung der Halswirbelsäule beim Segment C4 vorliege. Erst dadurch war der Beschwerdeführer in der Lage, die im wiederaufzunehmenden Verfahren unbeachtet gebliebene Vorschädigung seiner Halswirbelsäule, die vordergründig beim Arbeitsunfall vom 23. Jänner 1997 nicht verletzt worden war und vordergründig keine Beschwerden verursacht hatte, als für seine Hörschädigung bedeutsam zu erkennen und geltend zu machen.

4.4. Eine Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG setzt nicht Gewissheit darüber voraus, dass die Entscheidung im wiederaufzunehmenden Verfahren anders gelautet hätte. Für die Bewilligung oder Verfügung der Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens genügt es, dass diese Voraussetzung mit einiger Wahrscheinlichkeit zutrifft; ob sie tatsächlich vorliegt, ist erst in dem wiederaufgenommenen Verfahren zu entscheiden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Dezember 2002, Zl. 2001/21/0031). Wäre im Leistungsverfahren berücksichtigt worden, dass beim Beschwerdeführer bereits im September 1995 in der Halswirbelsäule eine Protrusion in Höhe C3-C4 bestanden hat, so hätte dies im Sinne der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Helmut U. in der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2002 vor dem LG St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht zu dem Ergebnis führen können, dass der Tinnitus des Beschwerdeführers tatsächlich durch die Auswirkungen, die der Sturz auf der Treppe vom 23. Jänner 1997 auf die Halswirbelsäule gehabt hat, ausgelöst bzw. verschlechtert worden ist. Es liegen keine Verfahrensergebnisse dahin vor, dass es sich bei der krankhaften Veranlagung des Beschwerdeführers in der Halswirbelsäule um die einzige oder überragende Ursache des Tinnitus gehandelt haben könnte, weil diese so leicht ansprechbar gewesen wäre, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurft hätte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte (vgl. das Urteil des OGH vom 27. Jänner 1988, 9 Ob S 32/87, und die daran anschließende Rechtsprechung RIS Justiz RS0084318).

Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Beschwerdeführer vor den behandelnden Ärzten (insbesondere am 4. Februar 1997 im AKH St. Pölten) deponiert haben soll, dass seine Hörschädigung bzw. der Tinnitus schon vor dem Arbeitsunfall bestanden habe, zumal er der mitbeteiligten Partei ebenfalls bereits am 4. Februar 1997 in dem angeforderten Unfallbericht mitgeteilt hat, dass infolge des Sturzes auch ein Tinnitussyndrom aufgetreten sei.

5. Der angefochtene Bescheid war - soweit er den Spruchpunkt 1 des Bescheides vom 3. Oktober 2000 betrifft - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Im Übrigen - soweit der angefochtene Bescheid den Spruchpunkt 2 des Bescheides vom 3. Oktober 2000 betrifft - war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Es kann auf sich beruhen, ob der Wiederaufnahmeantrag des Beschwerdeführers auch als Antrag auf Herstellung des gesetzlichen Zustands im Sinne des § 101 ASVG zu deuten gewesen wäre (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis Zl. 98/08/0051).

6. Der Zuspruch von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Stempelgebührenersatz war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (vgl. § 110 ASVG) nicht zuzusprechen.

Dem Antrag der belangten Behörde, den Kostenantrag (zur Gänze) als unbegründet abzuweisen, weil die Beschwerde nicht den Landeshauptmann von Niederösterreich, sondern das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung als belangte Behörde nannte und auch dieser gegenüber den Kostenersatzantrag gestellt habe (vgl. zur klaren Zuordenbarkeit des Bescheides und der Abstandnahme von einer Zurückweisung der Beschwerde das hg. Erkenntnis vom 31. Mai 2000, Zl. 2000/08/0071), ist schon deswegen nicht zu entsprechen, weil der Beschwerdeführer einen allgemeinen Antrag auf Zuerkennung von Aufwandersatz gestellt hat (§ 59 Abs. 3 VwGG).

Wien, am 7. September 2005

Schlagworte

Sachverständigengutachten Neu hervorgekommene entstandene Beweise und Tatsachen nova reperta nova producta Verschulden

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2005:2003080093.X00

Im RIS seit

20.10.2005

Zuletzt aktualisiert am

01.10.2008
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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