Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Petrasch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hule, Dr. Warta, Dr. Klinger und Dr. Angst als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen ehelichen Kindes Jonny K***, geboren am 26. August 1982, 3100 Neidling, Afing 13, infolge Revisionsrekurses der Eltern Johann K***, Bauhilfsarbeiter, und Anna K***, im Haushalt, beide 2630 Ternitz, Schwarzaweg 14, gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Rekursgerichtes vom 18. Mai 1987, GZ R 193/87-25, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Neunkirchen vom 7. April 1987, GZ P 47/84-22, abgeändert wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluß des Rekursgerichtes wird dahin abgeändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.
Text
Begründung:
Das Erstgericht hatte am 4. Mai 1984 die gerichtliche Erziehungshilfe durch Unterbringung des am 26. August 1982 geborenen Knaben in fremder Pflege angeordnet, weil nach der Aufnahme des Kindes im Landeskrankenhaus Mödling eine schwere körperliche und seelische Verwahrlosung festgestellt worden war. Das Kind war unterernährt und hatte eine Hautkrankheit und auf eine Mißhandlung hinweisende auffallende striemenförmige Blutunterlaufungen am linken Oberschenkel. Das Kind dürfe daher nicht mehr den Eltern ausgefolgt werden, weil seine weitere Entwicklung dadurch gefährdet würde. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt im Landes-Säuglings- und Kleinkinderheim Schwedenstift in Perchtoldsdorf wurde das Kind von der Bezirksverwaltungsbehörde bei Pflegeeltern im Raum St. Pölten untergebracht.
Am 2. September 1986 beantragte die Mutter die Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe.
Das Erstgericht gab dem Antrag statt, trug der Bezirksverwaltungsbehörde auf, das Kind der Mutter zu übergeben, und ordnete die Erziehungsaufsicht durch Überwachung der Betreuung des Kindes bei den Eltern an. Das Erstgericht ging davon aus, daß sich die Wohnverhältnisse bei den Eltern gebessert hätten: Sie bewohnen mit ihrer am 29. August 1985 geborenen Tochter Alexandra, die von der Mutter einwandfrei betreut wird, eine in ordentlichem Zustand gehaltene aus zwei Zimmern und einer Küche bestehende Barackenwohnung. Der Vater arbeitet jetzt bei einem Bauunternehmer und wird vom Dienstgeber als verläßlich und sehr bemüht beschrieben. Er schafft daher nunmehr auch die wirtschaftliche Grundlage für den Lebensunterhalt der Familie. Daß durch die Unterbringung bei den Pflegeeltern seit Juli 1984 das Kind eine innige Beziehung zu diesen aufgebaut habe, die um die Rückgabe des Kindes bemühte Mutter und der Vater aber wegen der räumlichen Entfernung wenig oder keinen Kontakt zu ihrem Kind halten konnten, reiche nicht aus, den Eltern die Pflege ihres Kindes zu verweigern. Der Kontakt zur Mutter sei nie ganz abgebrochen worden. Das Kind werde sich rasch an die neue Umgebung gewöhnen. Das Wohl des Kindes sei nicht gefährdet, wenn es den Eltern überlassen werde. Durch die Anordnung der Erziehungsaufsicht sei Gewähr gegeben, daß die gedeihliche Entwicklung des Kindes überwacht und den Eltern Hilfestellung bei allenfalls auftretenden Schwierigkeiten bei der Umgewöhnung geboten werde.
Das Rekursgericht änderte über den Rekurs des besonderen Kurators des Kindes den Beschluß dahin ab, daß es den Antrag der Mutter auf Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe abwies und den Auftrag zur Übergabe des Kindes an die Mutter sowie die Anordnung der Erziehungsaufsicht aufhob. Es war zwar mit dem Erstgericht der Ansicht, daß sich die Lebensverhältnisse der Eltern gegenüber dem Anlaß der Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe im Frühjahr 1984 gefestigt hätten, der Vater im Baugewerbe mit Ausnahme der saisonbedingten Winterarbeitslosigkeit tätig sei, die einfache Wohnung in ordentlichem Zustand gehalten sei und auch die Betreuung der am 29. August 1985 geborenen Tochter Alexandra nicht zu beanstanden sei. Ein Mißbrauch der Erziehungsgewalt der Eltern liege aber auch in dem Versuch, das Erziehungsrecht durchzusetzen, obwohl dadurch ein eindeutiger schwerer Schaden des Kindes eintrete. Zwischen dem Kind und der Mutter habe es von Juli 1984 bis Oktober 1986 nur sechs persönliche Begegnungen gegeben. Mit dem Vater sei das Kind überhaupt nicht zusammengetroffen. Das Kind müsse den Vater, den es zuletzt im Alter von nicht einmal zwei Jahren gesehen habe, für einen fremden Menschen ansehen. Auch zur Mutter habe nur ein loser Kontakt aufrecht gehalten werden können. Bei der Rückführung zu den leiblichen Eltern werde das Kind Belastungen ausgesetzt, die über die mit jedem Pflegeplatzwechsel verbundenen Schwierigkeiten hinausgehen. Die Aufhebung der Erziehungshilfe finde nicht statt, wenn durch den Wechsel der Pflege dem Kind psychische Schäden drohen. Dies sei hier der Fall.
Der gegen den abändernden rekursgerichtlichen Beschluß von den Eltern erhobene Revisionsrekurs ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Eine vom Gericht genehmigte Maßnahme der Erziehungshilfe ist aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht oder dessen Erreichung in anderer Weise sichergestellt ist (§ 27 JWG). Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten ist die Gewährung (und Aufrechterhaltung) der Erziehungshilfe nur zulässig, wenn die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchen oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen (§ 26 Abs. 1 JWG). Auch dabei darf das Gericht wie nach § 176 ABGB in das Recht der Eltern, ihr minderjähriges Kind zu pflegen und zu erziehen (§ 144 ABGB) nur so weit eingreifen, als es zur Sicherung des Wohls des Kindes geboten ist. Daß die Betreuung bei einer dritten Person besser wäre, als die an sich ordnungsgemäße Erziehung durch die Eltern, rechtfertigt die Aufrechterhaltung der Maßnahme der gerichtlichen Erziehungshilfe nicht. Den Eltern steht das Recht zur Erziehung in erster Linie zu. Ist anzunehmen, daß der Erziehungsnotstand nicht mehr andauert, kann im allgemeinen auf psychische Belastungen des Kindes durch die Rückkehr in den Haushalt der Eltern nicht Bedacht genommen werden (SZ 47/137 ua). Die vorübergehende seelische Beeinträchtigung durch den Pflegeplatzwechsel reicht für die Annahme, das Beharren auf Wiedererlangung von Pflege und Erziehung des Kindes sei mißbräuchlich, nicht aus. Nur, wenn wegen besonderer Umstände ein über das übliche Ausmaß hinausgehender eindeutiger schwerer Schaden für das Kind zu besorgen ist, liegt im Beharren auf dem Pflegewechsel ein Mißbrauch der Erziehungsgewalt (EFSlg. 31.354; EFSlg. 33.466 ua). Die durch den Wechsel der Umgebung entstehende Belastung eines Kindes wird nach seinem Alter, seiner seelischen Verfassung und der Art des Pflegewechsels von unterschiedlichem Gewicht sein.
Der besondere Sachwalter gründet hier seine Einwände gegen die Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe vor allem auf die aus den Stellungnahmen des kinder- und jugendpsychologischen Beratungsdienstes der Niederösterreichischen Landesregierung hervorgehenden Befürchtungen, daß der Beziehungsabbruch zu den "faktischen (psychologischen)" Eltern und die Überlassung an die leiblichen Eltern einen in seinen negativen Konsequenzen nicht absehbaren schweren Eingriff darstelle, zu dem kein Anlaß bestehe. Damit ist aber nicht dargetan, daß der allein eine Aufrechterhaltung der Maßnahme rechtfertigende Erziehungsnotstand bei den Eltern fortdauert. Der im fünften Lebensjahr stehende zarte, kleine, seelisch-geistig und sprachlich nach wie vor etwas zurückgebliebene Bub wirkt nach dem Bericht durch seine charmante, lebhafte und kontaktoffene Art sehr gewinnend. Nach der Stellungnahme vom 18. März 1987 stellt der Beziehungsabbruch bei einem guten (Pflege-)Eltern - Kind - Verhältnis in jedem Lebensalter des Kindes ein schweres Trauma dar. Erst mit Abschluß der Pubertät sei es einem jungen Menschen möglich, zu Veränderungen in seinem Leben Stellung zu beziehen und sie durch eigenständige Entscheidung zu bewältigen. Eine Aussicht auf Änderung der Bindung bestehe auch nicht durch einen schrittweisen Ausbau der Kontakte zu den leiblichen Eltern. Besondere, aus der gegenwärtigen Entwicklung des Kindes ableitbare Schäden, die durch den Wechsel aus der fremden Pflege und die Rückkehr in die eigene Familie entstehen könnten und deren Ausmaß die mit jedem Pflegeplatzwechsel verbundene vorübergehende Belastung überschreitet, sind nach dem Ergebnis der vom Erstgericht gepflogenen Erhebungen nicht hervorgekommen.
Zutreffend hat daher das Erstgericht erkannt, daß die Maßnahme der Erziehungshilfe gegen den Willen der erziehungsberechtigten (leiblichen) Eltern nicht aufrechterhalten werden kann. Daß wegen der räumlichen Entfernung des Pflegeplatzes eine Entfremdung zwischen dem Kind und den Eltern eintrat und das Kind eine gute Beziehung zu den Pflegeeltern aufgebaut hat, reicht für eine eindeutige Befürchtung, das Kind werde schweren seelischen Belastungen ausgesetzt und sein Wohl gefährdet, nicht aus. Der Aufbau einer Beziehung zu den leiblichen Eltern wird umso schwerer, je länger die fremde Pflege andauert, und soll im Vorschulalter abgeschlossen werden. Zur Bewältigung der mit dem Pflegeplatzwechsel immer verbundenen Schwierigkeiten wird die vom Erstgericht angeordnete Überwachung und Anleitung durch die geschulten Bediensteten der Bezirksverwaltungsbehörde beitragen. Daß sich die Mutter dieser vom Erstgericht vorsorglich angeordneten Erziehungsaufsicht unterwarf und die Eltern auch im Revisionsrekurs erklärten, mit jeder Kontrolle durch das Jugendamt einverstanden zu sein, bedeutet nicht, daß diese Maßnahme erkennen ließe, die gerichtliche Erziehungshilfe müsse aufrecht bleiben. Ob die eine oder die andere Maßnahme gewichtiger in die Elternrechte eingreift, hängt davon ab, welche Anordnungen konkret erfolgen. Die Überwachung und Anleitung durch Erziehungsaufsicht stellt sich als weniger strenger Eingriff dar, als die Entfernung des Kindes aus der Pflege und Erziehung der Eltern.
Anmerkung
E11551European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:0030OB00533.87.0701.000Dokumentnummer
JJT_19870701_OGH0002_0030OB00533_8700000_000