TE OGH 1987/7/21 11Os24/87 (11Os25/87)

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Veröffentlicht am 21.07.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. Juli 1987 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, Dr. Walenta, Dr. Felzmann und Dr. Kuch als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Sailler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Alois U*** wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Landesgerichtes Innsbruck vom 10. März 1980, GZ. 22 Vr 505/80-11, und des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 4. Juni 1980, AZ. 3 Bs 204/80, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Tschulik, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Alois U*** wegen der §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB, AZ 22 Vr 505/80 des Landesgerichtes Innsbruck, verletzt das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 4. Juni 1980, AZ 3 Bs 204/80, das Gesetz in den Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 MRK und § 3 StPO in Verbindung mit den §§ 473, 474 StPO.

Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Innsbruck verwiesen.

Im übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes verworfen.

Text

Gründe:

I.

Am 28. August 1979 erstattete das Gendarmeriepostenkommando Wörgl beim Bezirksgericht Kufstein gegen den am 30. Jänner 1938 geborenen Hilfsarbeiter Alois U*** und dessen Ehefrau Rosa U*** Strafanzeige wegen "Verdachts der Körperverletzung". Danach war es am 14. August 1979 in der Wohnung der Eheleute zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf Rosa U*** ihrem Ehemann - durch Schläge mit einem Brieföffner - eine Platzwunde am Hinterkopf und eine Schnittwunde im Bereich der linken Augenbraue, Alois U*** aber seiner Stieftochter Rosemarie T*** eine Kratzwunde unterhalb des rechten Augenlides und - durch Schläge - ein Hämatom im rechten Augen-Nasenwinkel zugefügt haben soll. Darüber wurden Alois U*** als "Anzeiger" (am 14. August 1979), ferner Rosa U*** als "Verdächtige" und Rosemarie T*** als "Beteiligte" (am 22. August 1979) von Gendarmen des Postenkommandos Wörgl niederschriftlich befragt (vgl. S 21, 27 und 29 in ON 4 des Bezugsaktes).

Laut einer weiteren Strafanzeige des Gendarmeriepostenkommandos Wörgl an das Bezirksgericht Kufstein vom 20. bzw. 23. Oktober 1979 stieß Alois U*** am 9. September 1979 bei einem neuerlichen Streit "mit dem Fuß gegen den rechten Arm" seiner Ehefrau, was einen Bruch ihres rechten Daumens zur Folge hatte.

Hiezu nahmen Gendarmeriebeamte (am 14. September 1979) mit Rosa U*** als "Anzeigerin" und (am 17. Oktober 1979) mit Alois U*** (ersichtlich als "Verdächtigem") Niederschriften auf (vgl. S 13 und 17 des Bezugsaktes).

Im Zuge der in der Folge auf Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen Alois U*** geführten gerichtlichen Vorerhebungen (wegen "§§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB") wurde Rosa U*** beim Bezirksgericht Kufstein nach Belehrung gemäß den §§ 152 und 153 StPO - sie verzichtete auf ihr Entschlagungsrecht - zum Sachverhalt einvernommen; Alois U*** wurde beim Bezirksgericht Innsbruck gemäß dem § 38 Abs. 3 StPO verantwortlich abgehört.

Am 17. Jänner 1980 stellte die Staatsanwaltschaft gegen Alois U*** einen Strafantrag wegen der Vergehen der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB (begangen am 14. August 1979 an Rosemarie T***) und der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB (begangen am 9. September 1979 an Rosa U***).

In der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter des Landesgerichtes Innsbruck am 10. März 1980 bekannte sich Alois U*** in beiden Anklagefakten nicht schuldig; Rosa U*** und Rosemarie T***, die als Zeugen geladen waren, erklärten nach Belehrung gemäß dem § 152 StPO, nicht aussagen zu wollen (vgl. S 40 des Bezugsaktes). Dem Begehren der Staatsanwaltschaft im Strafantrag, bestimmte Aktenstücke - darunter die Gendarmerieerhebungen samt den darin enthaltenen Angaben der Rosa U*** und der Rosemarie T*** vor dem Gendarmeriepostenkommando Wörgl - in der Verhandlung gemäß dem § 252 Abs. 2 StPO zu verlesen, entsprach der Einzelrichter, wie in der Niederschrift über die Hauptverhandlung beurkundet ist. Mit Urteil des Einzelrichters beim Landesgericht Innsbruck vom 10. März 1980, GZ. 22 Vr 505/80-11, wurde Alois U*** im Sinn des Strafantrages der Staatsanwaltschaft des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt.

Laut diesem Schuldspruch hatte er in Wörgl nachgenannte Personen vorsätzlich am Körper verletzt, nämlich 1) am 14. August 1979 seine Stieftochter Rosemarie T***

durch Schläge ins Gesicht, die ein Hämatom im Augen-Nasenwinkel sowie eine Kratzwunde über dem rechten Auge nach sich zogen;

2) am 9. September 1979 seine Ehefrau Rosa U*** durch einen Fußtritt, so daß sie einen Bruch des rechten Daumens, mithin eine an sich schwere und mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung verbundene Verletzung, erlitt. Diesen Schuldspruch stützte das Erstgericht im wesentlichen auf die seiner Ansicht nach "hinlänglich deutlichen und bestimmten" Angaben der Rosa U*** und der Rosemarie T*** vor der Gendarmerie; die Verantwortung des Beschuldigten, er habe am 14. August 1979 seine Stieftochter zwar auf den Hinterkopf geschlagen, sie dabei aber nicht verletzt, und am 9. September 1979

seiner Ehefrau nicht den Daumen gebrochen (ihr rechter Daumen sei bereits einige Tage vorher verbunden gewesen), wurde für widerlegt erachtet.

Gegen dieses Urteil erhob Alois U*** das Rechtsmittel der vollen Berufung. Vor dem Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht kam es nur zur zeugenschaftlichen Vernehmung der Josefine U*** - einer Schwägerin des Angeklagten - sowie zur Verlesung des wesentlichen Inhalts des Aktes AZ 12 Cg 703/79 des Landesgerichtes Innsbruck (betreffend Ehescheidung der Eheleute U***); weitere in der Berufungsausführung gestellte Beweisanträge verfielen der Abweisung, weil die Beweisthemen, zu denen Zeugen vernommen werden sollten, nach Meinung des Rechtsmittelgerichtes teils unwesentliche Nebenumstände betrafen, teils vom Berufungswerber nicht konkret bezeichnet waren (vgl. S 65, 71 des Bezugsaktes).

Mit dem Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 4. Juni 1980, AZ 3 Bs 204/80, wurde sodann der Berufung des Angeklagten (wegen Nichtigkeit sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe) nicht Folge gegeben. Das Berufungsgericht gelangte zu Tatsachenfeststellungen, wie sie schon das Erstgericht getroffen hatte, und stützte diese Sachverhaltsannahmen primär auf die seiner Überzeugung nach einleuchtenden, glaubwürdigen und folgerichtigen Angaben der beiden Verletzten vor der Gendarmerie.

Alois U*** verbüßte die über ihn verhängte Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten in der Zeit vom 22. September 1980 bis 22. März 1981.

Bereits am 1. September 1980 hatte sich der Verurteilte an die Europäische Kommission für Menschenrechte gewandt, welche seine Beschwerde wegen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d MRK am 8. Juli 1983 für zulässig erklärte, in ihrem Bericht vom 11. Oktober 1984 aber (mehrheitlich) das Vorliegen einer Verletzung der genannten Bestimmungen verneinte.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied mit Urteil vom 24. November 1986, Urteil-Nummer 1/1985/87/134

(= EuGRZ 1987/S. 147 ff), daß in dem mit rechtskräftigem Schuldspruch des Alois U*** beendeten inländischen Strafverfahren Art. 6 MRK verletzt wurde und die belangte Republik Österreich deshalb zur Zahlung einer gerechten Entschädigung an den Beschwerdeführer verpflichtet ist.

Davon ausgehend, daß die Zeuginnen Rosa U*** und Rosemarie T*** (als nahe Angehörige des Beschuldigten) sich gemäß der Bestimmung des § 152 Abs. 1 Z 1 StPO berechtigterweise der Aussage (vor dem Landesgericht) entschlugen, vertrat der Europäische Gerichtshof die Auffassung, die Strafgerichte beider Instanzen seien auf Grund des Antrags der Staatsanwaltschaft zur Verlesung der Angaben dieser Frauen vor der Gendarmerie (in der Verhandlung gemäß dem § 252 Abs. 2 StPO) verpflichtet gewesen.

Der Europäische Gerichtshof legte in diesem Zusammenhang ua wörtlich dar:

"An sich kann eine solche Verlesung von Aussagen nicht als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 der Konvention angesehen werden, doch müssen bei ihrer Verwertung als Beweismittel dennoch die Rechte der Verteidigung berücksichtigt werden, deren Schutz Ziel und Zweck von Art. 6 ist. Dies trifft insbesondere zu, wenn die 'einer strafbaren Handlung angeklagte' Person, die gemäß Art. 6 Abs. 3 d das Recht hat, 'Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen', in keinem Stadium des vorangegangenen Verfahrens die Möglichkeit gehabt hat, Fragen an die Personen zu stellen, deren Aussagen bei der Verhandlung verlesen werden."

Im gegebenen Fall hätten die Zeuginnen den Beschwerdeführer durch ihre Aussageverweigerung gehindert, ihnen zu den Gendarmerieaussagen Fragen zu stellen, und es seien (im Rechtsmittelverfahren) Beweise, die zur Erschütterung der Glaubwürdigkeit sowohl der früheren Ehegattin als auch der Stieftochter dienen sollten, nicht zugelassen worden.

"U*** (ist)" - wie es im Urteil des Europäischen Gerichtshofes weiter heißt - "jedenfalls auf der Grundlage von 'Zeugenaussagen' verurteilt worden, hinsichtlich derer seine Verteidigungsrechte erheblich eingeschränkt waren. Unter diesen Umständen hatte der Beschwerdeführer kein faires Verfahren und es liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention in Verbindung mit den sich aus Art. 6 Abs. 3 d ergebenden Grundsätzen vor".

II.

Die Generalprokuratur erblickt nun in der Tatsache, daß sich der - mit der zur Verhandlung stehenden Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes bekämpfte - Schuldspruch im Strafprozeß "auf die in der Hauptverhandlung verlesenen Angaben der Rosa U*** und der Rosemarie T*** vor der Gendarmerie gründet, obwohl die Genannten in der Hauptverhandlung sich der Zeugenaussage entschlagen hatten (§ 152 StPO)", nach Lage des konkreten Falles im Ergebnis zu Recht eine in diesem Nichtigkeitsverfahren wahrzunehmende Gesetzesverletzung. Der Angeklagte Alois U***, in erster Instanz im wesentlichen auf Grund der vom Gericht für glaubwürdig befundenen Behauptungen seiner geschiedenen Ehefrau und seiner Stieftochter vor der Exekutive der bereits an früherer Stelle bezeichneten Vergehen für schuldig befunden, verlangte in der Berufungsschrift die Vernehmung mehrerer Personen als Zeugen (vor dem Oberlandesgericht) ganz offensichtlich zur Dartuung der Unglaubwürdigkeit der ihn belastenden Angaben vor der Gendarmerie (S 54 und 56 des Bezugsaktes) und wiederholte diesen Antrag auch in der mündlichen Berufungsverhandlung (S 64 des Bezugsaktes). Das Berufungsgericht, welches zwar die "Wiederholung" und "Ergänzung" des Beweisverfahrens ausdrücklich beschloß, aber nur eine einzige namhaft gemachte Zeugin (Josefine U***) zuließ und über die Beweisanträge im übrigen ablehnend entschied (S 65 des Bezugsaktes), verkannte eklatant Sinn und Zweck der begehrten Beweisführung, die im Grund darauf hinauslief, eine geringe Wahrheitsliebe ("Verlogenheit") der Rosa U*** und damit die mangelnde Verläßlichkeit der von ihr und Rosemarie T*** bei der Gendarmeriedienststelle gegebenen, den Angeklagten belastenden Sachverhaltsschilderung nachzuweisen. Die negative Erledigung des Beweisanbotes aus den bereits wiedergegebenen Erwägungen ging daher am Kern der Sache vorbei.

Derartige Beweisaufnahmen auf breitester Grundlage (und damit die Nutzung angebotener Erkenntnisquellen, aus denen sich zur Frage des Beweiswertes eines für den Angeklagten nachteiligen Verfahrensergebnisses Sachdienliches gewinnen läßt) sind angesichts des Prinzips der Erforschung der materiellen Wahrheit (vgl. §§ 3, 232 Abs. 2, 254 StPO) - bei einer die Verfassungsnorm des Art. 6 MRK, insbesondere die Erfordernisse eines fairen Verfahrens beachtenden Auslegung der Prozeßgesetze - zur Gewährleistung einer umfassenden und effektiven Verteidigung namentlich stets dann notwendig und unverzichtbar, wenn es dem Angeklagten aus zwingenden Gründen (so auch wegen unvermuteten Ablebens eines im Vorverfahren vernommenen Zeugen - vgl. §§ 162 Abs. 2, 252 Abs. 1 Z 1 StPO) verwehrt bleibt, einen Beweis vor dem erkennenden Gericht unmittelbar zu führen, hier: durch Befragung der "Belastungszeugen" !Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK; siehe im gegebenen Zusammenhang namentlich die richtungweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (zu dieser Verfassungsnorm) vom 3. Juli 1984, 11 Os 50/84 : Auch wenn also, wie in diesem Strafverfahren, ein anwaltlich vertretener Beschuldigter (Angeklagter) in der Hauptverhandlung in erster Instanz weder Umstände vorbrachte noch sonst irgendwelche Hinweise gab, die Anlaß für weitere (zusätzliche) Beweiserhebungen bilden mochten, erfordert jedenfalls eine verfassungskonforme Auslegung der für das Rechtsmittelverfahren geltenden gesetzlichen Regelungen - zur Garantierung und Sicherung eines fairen Prozesses nach Art. 6 Abs. 1 MRK unter gebührender Berücksichtigung der in Art. 6 Abs. 3 MRK festgeschriebenen Grundsätze - eine größtmögliche Beachtung all jener Beweisanträge, die - obschon erst - in der Rechtsmittelschrift (oder in der Berufungsverhandlung) sinnvoll und durchführbar angeboten werden, um die in erster Instanz (zufolge der §§ 152 Abs. 1 Z 1, 252 Abs. 2

StPO) verlesenen formlosen Niederschriften (vor Exekutivorganen) über Angaben (Behauptungen) der "Belastungszeugen", von denen das erkennende Gericht einen persönlichen Eindruck nicht zu gewinnen vermag, sorgfältig und genau überprüfen und auf ihren Beweiswert hin erschöpfend würdigen zu können. Dies bedeutet in dem hier zu beurteilenden Einzelrichterverfahren, in dem der Schuldspruch sowohl mit einer Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe als auch wegen des Ausspruchs über die Schuld bekämpfbar ist (§§ 464 Z 1 und 2, 489 Abs. 1 StPO) und tatsächlich bekämpft wurde, daß das Berufungsgericht - da ein Antrag auf Entscheidung der Sache in nichtöffentlicher Sitzung gemäß den §§ 469, 470, 489 Abs. 1 StPO nicht gestellt worden war - die Berufungsverhandlung nach den Regeln der §§ 472, 473, 474 StPO durchzuführen, also nach Beweiswiederholung und Beweisergänzung im Sinn der begründeten Anträge des Berufungswerbers in der Sache selbst zu entscheiden gehabt hätte. So gesehen, irrt die Generalprokuratur, wenn sie durch die in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gerügte Vorgangsweise des Berufungsgerichtes das Gesetz in den Bestimmungen des § 252 Abs. 1 Z 3 und Abs. 2 StPO verletzt erachtet: Die Generalprokuratur gelangte zu ihrer Rechtsansicht, weil sie erkennbar der Meinung anhängt, die Verlesung niederschriftlicher Angaben von Personen, die sich später in der Hauptverhandlung berechtigt der Aussage entschlagen, verstoße ausnahmslos gegen Art. 6 MRK. Damit gerät sie aber in Widerspruch zur Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofes, der in seinem zitierten Urteil ausdrücklich festhielt, daß die hier gerügten Verlesungen an sich mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 MRK nicht unvereinbar seien; doch müsse sichergestellt sein, daß bei Verwertung dieser Beweismittel die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Wenn die Generalprokuratur darüber hinaus meint, es läge nahe, bei Prüfung der Zulässigkeit der Verlesung von Protokollen nach dem § 252 StPO zwischen Aussagen vor Gericht und Aussagen vor Sicherheitsbehörden nicht zu unterscheiden, weil nicht einzusehen sei, daß die unter den höheren Garantien richterlicher Unabhängigkeit zustandegekommenen Protokolle über Vernehmungen im gerichtlichen Vorverfahren nicht verlesen werden dürfen, Protokolle über Aussagen vor Polizei und Gendarmerie jedoch schon, so liegt dem eine Begriffsvermengung zugrunde. Im konkreten Fall geht es nämlich nicht um Vernehmungen durch Sicherheitsbehörden, d.h. Bundespolizeibehörden und - soweit solche nicht errichtet - Bezirksverwaltungsbehörden !im Dienste der Strafjustiz (vgl. Art. V EGVG 1950, § 24 VStG 1950; siehe VfSlg. 6.140/1970, 9.113/1981, VfGH 27. September 1985 B 643/82; Mannlicher-Quell, Das Verwaltungsverfahren, 1. Halbband8, Fußnoten zu Art. V EGVG 1950) , sondern um schlichte Befragungen durch Gendarmeriebeamte. Gendarmeriedienststellen sind aber keine Behörden; ihnen mangelt - vom Dienstrecht und vom inneren Dienst abgesehen - jede selbständige Entscheidungs- und Verfügungskompetenz (vgl. VfSlg. 8.146/1977 uvam). Die Gendarmerie ist folglich bloßer Wachkörper ohne Behördencharakter (so auch Bundessicherheitswache, Kriminalbeamtenkorps - § 5 Abs. 1 V-ÜG 1929, Art. 102 Abs. 5 B-VG), also zu Einvernahmen im Sinn der Verwaltungsverfahrensgesetze (vgl. §§ 38 VStG 1950, 49 und 50 AVG 1950 - siehe auch § 289 StGB) nicht berufen. Nur um die formlose Niederschrift der Angaben von Auskunftspersonen, aufgenommen ausschließlich von Gendarmerieorganen, nicht um Protokolle über - prozessualen Regeln unterworfene - behördliche Vernehmungen, handelt es sich aber hier, demnach um Schriftstücke, die (weil Anzeigebestandteil) "für die Sache von Bedeutung sind" und demzufolge kraft des § 252 Abs. 2 StPO (in der Verhandlung vor Gericht) verlesen werden müssen. Der Frage, ob und inwieweit die Überlegungen der Generalprokuratur auf die Verlesung sicherheitsbehördlicher Vernehmungsprotokolle zutreffen, hatte der Oberste Gerichtshof in diesem - anders gelagerten - Straffall nicht nachzugehen (siehe dazu auch Mayerhofer-Rieder2 ENr. 24, 25 zu § 152 StPO, ENr. 86 ff, 124, 125 zu § 252 StPO und ENr. 17 ff zu § 281 Abs. 1 Z 3 StPO, ferner ÖJZ-LSK 1980/112, 1981/85, 86 = SSt. 52/17; 12 Os 93/80, 13 Os 3/86 und 13 Os 60/86).

Rechtliche Beurteilung

Es zeigt sich daher, daß dem Landesgericht Innsbruck - das Gendarmerieniederschriften über Angaben von "Belastungszeugen", die sich später gemäß dem § 152 Abs. 1 Z 1 StPO der gerichtlichen Zeugenaussage entschlugen, verlas und seiner Entscheidung zugrundelegte - insoweit keine Gesetzesverletzung unterlief und daß ihm auf Grund des - für die Beurteilung ausschlaggebenden - Hauptverhandlungsprotokolls nach der besonderen Lage dieses Falls - so stand dem damaligen Beschuldigten ein Verteidiger zur Seite - auch nicht vorzuwerfen ist, es sei seiner Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit nicht nachgekommen, zumal ein der Verteidigung dienliches, gegen die Richtigkeit des schon vorliegenden Beweismaterials sprechendes Vorbringen gänzlich gefehlt hatte (ON 9). Soweit die Beschwerde daher dem Erstgericht eine Gesetzesverletzung deshalb vorwirft, weil es seine Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung verlesenen Gendarmerieniederschriften gestützt habe, kommt ihr keine Berechtigung zu. Über die sich den besonderen Umständen nach stellende Frage nach der Richtigkeit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung hatte der Oberste Gerichtshof, wie der Vollständigkeit halber bemerkt sei, auf Grund der geltenden Prozeßrechtslage nicht abzusprechen; sie fiel und fällt in die ausschließliche Zuständigkeit des Berufungsgerichtes. Doch unterlief dem Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht infolge der - von der Anfechtungserklärung der Nichtigkeitsbeschwerde erfaßten - ungerechtfertigten Verweigerung weiterer Beweisaufnahmen (§ 3 StPO) die aufgezeigte, im Urteilsspruch festgestellte Gesetzesverletzung, die dazu führte, daß dem Angeklagten ein dem Art. 6 MRK genügendes faires Verfahren verwehrt wurde.

Dieses dem Angeklagten zum Nachteil gereichende berufungsgerichtliche Urteil war darum gemäß dem § 292 letzter Satz StPO iVm dem § 288 Abs. 2 Z 1 StPO aufzuheben und dem Oberlandesgericht Innsbruck die neuerliche Entscheidung über die Berufung aufzutragen.

Anmerkung

E11509

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0110OS00024.87.0721.000

Dokumentnummer

JJT_19870721_OGH0002_0110OS00024_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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