Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck und Karl Siegfried Pratscher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Johann R***, 7535 Güttenbach 118, vertreten durch Dr. Günther Philipp, Rechtsanwalt in Mattersburg, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien,
Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. April 1987, GZ 32 Rs 8/87-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Burgenland in Eisenstadt vom 26. November 1986, GZ 3 C 414/86-14 (nunmehr 16 Cgs 303/87 des Landesgerichtes Eisenstadt), abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Landesgericht Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der Kläger begehrte, die beklagte Partei zur Gewährung der Berufsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe zu verpflichten, wobei er vorbrachte, er habe den Beruf eines Einzelhandelskaufmannes erlernt, sei jedoch wegen verschiedener Leidenszustände, insbesonders spastischer Bronchitiden, Mißbildungen der oberen und unteren Extremitäten, Fehlhaltung der Wirbelsäule sowie eines Herzleidens und der angegriffenen Nerven nicht in der Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und brachte vor, der Kläger sei in der Lage, seine bisherige Berufstätigkeit als Einzelhandelskaufmann auszuüben. Das Erstgericht gab dem Begehren des Klägers statt, wobei es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehenden Sachverhalt zugrundelegte:
Beim Kläger besteht eine ausgeprägte Verbiegung der Wirbelsäule mit Bewegungseinschränkung in allen Abschnitten. Ferner besteht eine erhebliche Mißbildung beider Arme mit Verkürzung der Unterarme und flossenartiger Mißbildung der Hände. Es ist eine mangelnde Greiffunktion gegeben. Schließlich besteht eine Klumpfußstellung beiderseits mit Bewegungseinschränkung der Sprunggelenke, eine Gangbehinderung und eine erhebliche Verminderung der Belastungsfähigkeit. Der Kläger ist nicht arbeitsfähig. Durch Entgegenkommen des Gottfried R***, Möbelhaus und Tischlerei in Güttenbach, hat der Kläger den Beruf eines Einzelhandelskaufmannes in der Zeit vom 1. Dezember 1982 bis 30. November 1985 erlernt. Er war in der Folge bis 31. Dezember 1985 beschäftigt. Er hat leichte Büroarbeiten verrichtet, und zwar Telefonanrufe entgegengenommen, Schriftstücke eingelegt, Schreibarbeiten erledigt und ähnliche Arbeiten gemacht. Das Dienstverhältnis wurde vom Dienstgeber wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten zur Auflösung gebracht. Dazu führte das Erstgericht aus, daß der Kläger wegen seiner körperlichen Gebrechen nicht in der Lage sei, seine bisherige Berufstätigkeit bzw. eine ähnliche ihm zumutbare Beschäftigung auszuüben, sodaß die Voraussetzungen für die Gewährung der begehrten Leistung erfüllt seien.
Das Berufungsgericht änderte über Berufung der beklagten Partei dieses Urteil im Sinne einer Klageabweisung ab.
Es führte dazu aus, daß es dem Zweck der Pensionsversicherung entspreche, Leistungen in Fällen zu gewähren, in denen eine noch verwertbare Arbeitsleistung praktisch weggefallen sei bzw. Unterhaltsberechtigten nach dem Tod des Unterhaltsverpflichteten Leistungen als Ersatz für den Wegfall der Unterhaltsleistung zu gewähren. Auch für Personen, die wegen bestehender Gebrechen die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht erlangen, treffe das Gesetz Vorsorge durch zeitlich unbegrenzte Gewährung von Kinderzuschüssen an die Eltern bzw. Gewährung von Waisenpensionen nach Tod der Eltern. Es entspreche nicht den Intentionen des ASVG, an Personen, die wegen Behinderung die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht erlangen, neben Kinderzuschüssen an Eltern bzw. Waisenpensionen nach Tod der Eltern auch Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit zu leisten. Voraussetzung für den Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitspension sei, daß eine einmal bestehende Selbsterhaltungsfähigkeit in einem entscheidenden Maß weggefallen sei. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Er sei wegen angeborener körperlicher Mißbildungen nie arbeitsfähig gewesen; in seinem Zustand sei seit Beginn der Arbeitstätigkeit keine Veränderung eingetreten. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension seien daher nicht erfüllt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus den Gründen der Aktenwidrigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes abzuändern oder aber es aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Soweit sich der Revisionswerber gegen die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes über die Auslegung der Bestimmung des § 273 ASVG in dem hier wesentlichen Punkt wendet, kann seinen Ausführungen allerdings nicht beigetreten werden. Das Wort "herabgesunken" im § 273 ASVG ist dahin auszulegen, daß die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle nur dann vorliegen, wenn in den Umständen, die für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit maßgeblich sind, gegenüber einem früheren Zustand eine Verschlechterung eingetreten ist. Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitspension besteht daher nur dann, wenn eine Person ursprünglich in der Lage war, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben und zufolge einer negativen Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes außerstandegesetzt wird, nunmehr einer geregelten Beschäftigung, zu der sie früher in der Lage war, nachzugehen. Wird eine Person, die - gemessen an den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes - außerstande ist, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, aus Entgegenkommen und mit besonderer Nachsicht des Dienstgebers gegen Entgelt beschäftigt, so wird sie zweifellos in die Pflichtversicherung einbezogen. Neben sonstigen sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen werden bei entsprechend langer Beschäftigung hieraus Pensionsansprüche aus dem Versicherungsfall des Alters resultieren. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat jedoch zur Voraussetzung, daß eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben müßte durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde. Zu einem im wesentlichen gleichen Ergebnis gelangte auch die Rechtsprechung in Sozialrechtssachen in der Bundesrepublik Deutschland. Die derzeitige Judikatur ist zwar zufolge der nunmehr abweichenden Gesetzeslage nicht übertragbar, zumal durch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl. I 1061) und durch die teilweise Neufassung des § 1247 RVO Sonderbestimmungen geschaffen wurden. Vor diesem Zeitpunkt war jedoch die Gesetzeslage zu den hier behandelten Fragen gut vergleichbar. Ausgehend von dieser Rechtslage gelangte die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland zum Ergebnis, daß ein Krankheitszustand dann den Versicherungsfall in der Rentenversicherung nicht auslösen könne, wenn der gleiche Krankheitszustand bereits bei Eintritt des Versicherten in die Rentenversicherung bestanden habe. Nur dann, wenn entweder im bisherigen Krankheitszustand während des Versicherungsverhältnisses eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei oder weitere ernstliche Gesundheitsschäden hinzugetreten seien, könne eine andere rechtliche Würdigung gerechtfertigt sein (LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Jänner 1959, Mitteilungen der Ruhrknappschaft 1959, 70). Eine übereinstimmende Rechtsansicht wurde in der Entscheidung des BSG vom 27. Oktober 1966, Breith 1967, 304) vertreten. In der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 27. November 1972,
Breith 1973, 552-554, wird ausdrücklich ausgesprochen, daß eine Minderung oder gar der Verlust der Erwerbsfähigkeit eine Rentenleistung nur dann auslösen könne, wenn eine solche Einbuße an Erwerbsfähigkeit während des Erwerbslebens eingetreten sei. Eine bereits vor Eintritt in das Erwerbsleben vorhandene und damit in die Versicherung eingebrachte Einbuße an Erwerbsfähigkeit müsse bei Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 1247, 1246 RVO vorliegen, außer Betracht bleiben. Das Abstellen auf das Absinken der Erwerbsfähigkeit mache deutlich, daß vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit Erwerbs- bzw. Berufsfähigkeit bestanden haben müsse. Sei das nicht der Fall gewesen, und habe schon vor Eintritt in die Versicherung Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit bestanden, so sei eine Versicherung gegen Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit nicht möglich. Die gleichwohl zu entrichtenden Beiträge zur Rentenversicherung könnten nur nach Eintritt des Versicherungsfalles des Alters berücksichtigt werden.
Zu Recht wendet die Revision allerdings ein, daß die vorliegenden Feststellungen keine ausreichende Grundlage für die abschließende Entscheidung bilden. Die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen scheinen wohl darauf hinzuweisen, daß die Behinderung des Klägers seit seiner Kindheit besteht. In den Urteilsfeststellungen wird jedoch lediglich der derzeitige Zustand sowie der Inhalt der Tätigkeit des Klägers im Rahmen seiner Lehrausbildung und der folgenden Beschäftigung bei Gottfried R*** dargestellt. Es fehlen Feststellungen zur Frage, seit wann der Leidenszustand des Klägers besteht, ob sich in diesem Zustand nach Beginn seiner Arbeitstätigkeit eine Veränderung ergeben hat, allenfalls welcher Art diese Veränderung war, ob der Kläger je arbeitsfähig war und unter welchen genauen Bedingungen er seine Lehrzeit und die anschließende Beschäftigung bei Gottfried R*** zurücklegte. In diesen Punkten erweist sich das Verfahren sohin ergänzungsbedürftig.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E11890European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:010OBS00044.87.1006.000Dokumentnummer
JJT_19871006_OGH0002_010OBS00044_8700000_000