TE OGH 1987/11/3 10ObS73/87

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Veröffentlicht am 03.11.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinrich Basalka und Hermann Waldberger als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Duro R***, 1030 Wien, Schlachthausgasse 54/4, vertreten durch Dr. Stephan Ruggenthaler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Kurt Scheffenegger, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. April 1987, GZ 32 Rs 48/87-88, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien in Wien vom 10. November 1986, GZ 12 a C 71/86-77 (12 Cgs 71/86 des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien), abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Arbeits- und Sozialgericht Wien zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger begehrte, die beklagte Partei zur Leistung einer Invaliditätspension ab 1. Februar 1985 zu verpflichten. Er habe den Beruf eines Malers und Anstreichers erlernt und sei in den letzten 15 Jahren als Spritzlackierer tätig gewesen. Zufolge eines Zustandes nach Hüftoperation rechts im Jahr 1983, Beschwerden an der Lunge, Schwerhörigkeit, Herzbeschwerden und Kreuzschmerzen sei er nicht mehr in der Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und führte aus, daß die fachärztlichen Untersuchungen ergeben hätten, daß der Kläger auch mit Rücksicht auf die bestehenden Leidenszustände weiterhin in der Lage sei, einer ihm zumutbaren Beschäftigung nachzugehen.

Das Erstgericht gab dem Begehren des Klägers im zweiten Rechtsgang statt, wobei es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehenden Sachverhalt zugrundelegte:

Der am 10. April 1939 geborene Kläger arbeitet seit 1966 ausschließlich in Österreich und hat seither 190 Monate an Pflichtversicherungszeiten sowie 25 Monate an Ersatzzeiten erworben. Vorher arbeitete er in Jugoslawien als Maler und Anstreicher. Er beschäftigte sich mit dem Ausmalen von Wohnungen und Gebäuden sowie mit dem Streichen von Schiffen. Dabei hat er die Werkstücke vorerst hergerichtet wie Holz abgeschliffen und verkittet. Verschiedene Werkstoffe wurden aufgebracht. Beim Ausmalen hat er die Farben selbst gemischt. Bei Metallstücken wurde zuerst geschliffen, dann grundiert, lackiert und dies mit Kunstharzlack überzogen. Beim Ausmalen der Wohnung hat er abgeschert, mit Gips ausgebessert, mit Gips verschmiert und abgeschliffen. Dann wurde gespritzt oder mit der Walze gearbeitet. Er hat auch liniert, wenn es gewünscht wurde. In Jugoslawien besuchte er 1 1/2 Jahre lang eine entsprechende Abendschule. Ein Diplom hat er nicht erworben, da die hiefür nötige Praxis nach der Schule fehlte.

In Österreich arbeitete er bei der Firma K*** als Lackierer. Die Firma K*** beschäftigt sich mit der Herstellung von Industrieleuchten, insbesonders Beleuchtungskörpern für Straßen und für Eisenbahnen. Nach einigen Wochen Einschulung arbeitete der Kläger vollkommen selbständig in der Lackiererei dieses Unternehmens, in der nur zwei Dienstnehmer beschäftigt waren. Er hatte dabei verschiedene Materialien, Eisen und Nichteisenmetalle aber auch Holz und Kunststoff zu bearbeiten und machte alle Bearbeitungen selbständig. Er hat auch andere Dienstnehmer, gelernte Lackierer, in die Arbeit eingeführt. Diese Tätigkeit verrichtete er in den letzten 15 Jahren überwiegend. Es steht nicht fest, daß der Kläger alle Arbeiten durchführte oder durchzuführen imstande war, die ein in Österreich ausgelernter Lackierer ausführt. Zufolge der bestehenden Leidenszustände sind dem Kläger nur mehr leichte, halbzeitig mittelschwere Arbeiten in normaler Arbeitszeit bei Einhaltung der üblichen Pausen zumutbar. Auszuschließen sind Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und ähnlich erhöht exponierten Stellen, Band- und Akkordarbeiten, Arbeiten in ständiger Nässe und Kälte und Zugluft. Der Arbeitsplatz ist erreichbar, der Zustand besteht seit Antragstellung und ist nicht besserungsfähig. Der Kläger kann nicht mehr als Maler und Anstreicher und auch nicht als Lackierer oder Spritzlackierer arbeiten. Möglich sind die Tätigkeiten eines Portiers, Tischarbeiten im Buchbindergewerbe, in der Kartonagenwarenerzeugung, in der Kleinleder- und Plastikwarenindustrie sowie die Tätigkeit eines Saaldieners. Weiters ist der Kläger imstande, die Tätigkeit, die er bei der Firma K*** ausführte, zu verrichten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, weil der Kläger bei der Firma K*** eine Vielzahl verschiedener Materialien als Lackierer zu behandeln gehabt habe, sei davon auszugehen, daß er den Großteil der Lackierertätigkeit tatsächlich beherrscht und damit eine Qualifikation nach § 255 Abs 2 ASVG erworben habe. Wohl wäre er imstande, die bei der Firma K*** ausgeübte Tätigkeit weiter zu verrichten, doch handle es sich dabei - bedingt dadurch, daß dort nur verhältnismäßig kleine Gegenstände zu bearbeiten waren - um einen Ausnahmsfall; das erhobene Leistungskalkül setze ihn jedoch außerstande, am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotene Lackierertätigkeiten zu verrichten. Die Voraussetzungen des § 255 ASVG seien daher erfüllt.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Aus der Feststellung, daß nicht erwiesen sei, daß der Kläger alle Arbeiten durchgeführt habe oder durchzuführen imstande gewesen sei, die ein in Österreich ausgelernter Lackierer durchführe, folge, daß der Kläger nicht durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten seien. Die in Jugoslawien mehr oder weniger vollständige Erlernung des verwandten Lehrberufes als Maler und Anstreicher habe dem Kläger zwar die Einschulung erleichtert, aber noch nicht einen Berufsschutz als Lackierer gewährleistet. Wenn berücksichtigt werde, daß die Lehrzeit als Maler und Anstreicher im verwandten Lehrberuf des Lackierers nur mit einem Jahr angerechnet werde, so folge daraus, daß sich der Kläger in Österreich höchstens nur ein Drittel der Lehrzeit als Lackierer zufolge seiner in Jugoslawien erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten erspart habe. Im Hinblick auf die äußerst kurze Einschulung von zwei oder drei Wochen in Verbindung mit der sehr weitgehenden Spezialisierung der Tätigkeit des Klägers in einem Unternehmen, das nur ein sehr eingeschränktes Produktionsprogramm habe, sei ein Berufsschutz als Lackierer nicht gegeben. Seine Invalidität sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Da der Kläger in der Lage sei, zahlreiche Verweisungstätigkeiten auszuüben, seien die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle nicht erfüllt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles abzuändern.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Soweit der Revisionswerber die Ausführungen des Berufungsgerichtes zur Beweislast in Zweifel zieht, kann ihm allerdings nicht beigepflichtet werden. Die Zivilprozeßordnung kennt keine Regeln über die Verteilung der Beweislast; auch die bis 31. Dezember 1986 in Geltung gestandenen Verfahrensbestimmungen des ASVG haben derartige Regeln nicht enthalten. Das materielle Recht regelt die Beweislast ebenfalls nicht generell, wohl aber enthalten dort vereinzelte gesetzliche Normen spezielle Beweislastregeln. Sie bilden die Ausnahme und haben den Vorrang gegenüber den allgemeinen Beweislastregeln (§ 163 Abs 2, §§ 369 bis 371, 970, 1298, 1319, 1320 ABGB; die §§ 6 und 12 des KSchG und bestimmte Normen in den Haftpflichtgesetzen). Soweit aber solche Spezialvorschriften nicht anzuwenden sind, gilt die Grundregel, daß jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Normen zu beweisen hat (EvBl 1959/38). Das heißt, daß jeder der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die rechtsbegründenden Tatsachen beweisen muß. Wer sich dagegen darauf beruft, daß ein Recht nicht wirksam geworden oder wieder beseitigt worden sei, muß die rechtshemmenden und rechtsvernichtenden Tatsachen beweisen. Diese Grundregel ist in Lehre und Rechtsprechung seit den grundlegenden Untersuchungen Rosenberg's (Beweislast5; vgl. auch Rosenberg-Schwab13, 683 ff) allgemein anerkannt (Fasching, Zivilprozeßrecht, Rz 881 f; 9 Ob S 21/87). Aus § 87 Abs 4 ASGG kann ein anderes Ergebnis nicht abgeleitet werden. In den in dieser Bestimmung genannten Fällen ist Gegenstand des Verfahrens ein Rückersatzanspruch des Versicherungsträgers und das Gericht hat über ein Begehren zu entscheiden, den Versicherungsträger zu verpflichten, von der Rückforderung Abstand zu nehmen. Die Parteien treten in diesem Fall mit vertauschten Rollen auf. Es handelt sich inhaltlich um einen Anspruch, den der beklagte Versicherungsträger gegen den Kläger geltend macht und eine klageabweisende Entscheidung kann in diesem Fall gemäß § 87 Abs 4 ASGG nur gefällt werden, wenn der Versicherungsträger alle Voraussetzungen des Rückersatzanspruches nachweist. Dies ist eine Konsequenz aus der Beweislastregel des materiellen Rechts und entspricht den allgemeinen Grundsätzen über die Beweislastverteilung. Nur auf diesen Fall stellt aber § 87 Abs 4 ASGG ab und trägt damit der durch die Eigenart der Parteirollenverteilung in diesem Verfahren geschaffenen Situation Rechnung. Die erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (7 BlgNR XVI GP.58 zu § 78 des Entwurfes) führen wohl aus, daß sich aus dem den Abs 4 umfassenden Vorbehalt des Abs 1 kraft Gegenargumentes ergebe, daß grundsätzlich - besonders bezüglich des Versicherten - nicht mehr von der allgemeinen (materiellen) Beweislastverteilung auszugehen sei. Dieser Standpunkt ist jedoch aus dem Gesetzestext, der die Sonderregelung bezüglich der Beweislastverteilung ausdrücklich auf die oben dargestellten Fallkonstellationen abstellt, nicht abzuleiten. Es ist daher in Sozialrechtssachen, die nicht die im § 87 Abs 4 ASGG besonders geregelten Fälle zum Gegenstand haben, von der Geltung der allgemeinen Grundsätze über die Beweislastverteilung auszugehen, woran auch die Amtswegigkeit der Beweisaufnahme nichts ändert (Fasching, Zivilprozeßrecht Ergänzungsheft RZ 2315/2). Wesentlich ist die Frage, ob dem Kläger eine Qualifikation als angelernter Lackierer zukommt.

Gemäß § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausgeübt hat, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird keine Schwierigkeiten bereiten, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, die ein Versicherter in einem üblicherweise erlernten Beruf ausübt, ohne daß er tatsächlich den Beruf erlernt hat. In solchen Fällen ist es für die Anspruchsberechtigung auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gleichgültig, ob die Kenntnisse oder Fähigkeiten durch die Absolvierung eines Lehrverhältnisses oder durch praktische Arbeit erworben wurden (517 BlgNR IX GP.87). Dabei wird nicht zu fordern sein, daß der Versicherte in der Lage ist, alle Tätigkeiten zu verrichten, die nach dem Inhalt der Ausbildungsvorschriften Gegenstand des Lehrberufes sind. Das Fehlen der Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeiten, die zwar in der Lehrausbildung vorgesehen sind, in dem Lehrberuf aber auch nur von einzelnen spezialisierten Arbeitern ausgeführt werden, wird nicht gegen die Annahme eines angelernten Berufes sprechen. Voraussetzung für die Qualifikation als angelernter Arbeiter ist es, daß der Versicherte hinsichtlich seiner Fähigkeiten und Kenntnisse den Anforderungen entspricht, die üblicherweise an Absolventen des Lehrberufes gestellt werden. Es reicht jedoch nicht aus, wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereiches umfassen, der von gelernten Arbeitern ganz allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird. Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden detaillierte Feststellungen über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden und andererseits über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im einzelnen Fall verfügt. Die Dauer der Anlernzeit kann ein Indiz in der einen oder anderen Richtung bieten, doch kann allein aus der Dauer der Anlernzeit der Schluß, daß ein angelernter Beruf nicht vorliegt, nicht abgeleitet werden, zumal einerseits wie im vorliegenden Fall Kenntnisse aus einer früher ausgeübten einschlägigen Tätigkeit die raschere Beherrschung der erforderlichen Fähigkeiten begünstigen können und andererseits eine Vervollkommnung der Fähigkeiten im Rahmen des weiteren praktischen Einsatzes nicht außer Betracht gelassen werden darf. Die vorliegenden Feststellungen reichen zur Beurteilung der entscheidenden Frage nicht hin. Durch die Feststellung, es sei nicht erwiesen, daß der Kläger alle Arbeiten verrichtet habe und zu verrichten imstande gewesen sei, die ein gelernter Arbeiter in Österreich durchführe, wird die rechtliche Beurteilung vorweggenommen, ohne daß ein entsprechendes Feststellungssubstrat vorläge. Im weiteren Verfahren wird genau zu klären sein, über welche Kenntnisse und Fähigkeiten ein gelernter Lackierer üblicherweise verfügt, welche verschiedenen Verfahren zur Anwendung kommen und von einem gelernten Arbeiter zu beherrschen sind. Im weiteren wird der genaue Inhalt der Arbeitstätigkeit des Klägers zu erheben sein, insbesonders welche verschiedene Verfahren er anzuwenden hatte und über welche Kenntnisse und Fähigkeiten im Lackiererberuf er verfügte. Erst aufgrund dieser Feststellungen kann die Frage entschieden werden, ob die Voraussetzungen für die Annahme einer Qualifikation als angelernter Arbeiter im Lackiererberuf vorliegen.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E12404

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:010OBS00073.87.1103.000

Dokumentnummer

JJT_19871103_OGH0002_010OBS00073_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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