Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Huber als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Franz H***, Elektromonteur, 1150 Wien, Felberstraße 98/9, vertreten durch Dr. Kurt Eckmair und Dr. Reinhard Neureiter, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) Marius B***, Student, 1120 Wien, Heckenweg 32, 2.) A*** E*** Versicherungs-AG, 1010 Wien, Kärntner Ring 12, beide vertreten durch Dr. Wolfgang Waldeck und Dr. Hubert Hasenauer, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 798.001,20 sA. und Feststellung (S 10.000,--), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 11. Juni 1987, GZ. 15 R 82/87-33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 31. Dezember 1986, GZ. 6 Cg 738/85-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger ist schuldig, den Beklagten je zur Hälfte die mit S 18.306,09 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Umsatzsteuer von S 1.664,19) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 27. Mai 1983 ereignete sich im 2.Wiener Gemeindebezirk auf der Kreuzung Lasallestraße - Vorgartenstraße gegen 22,50 Uhr ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Fußgänger und der Erstbeklagte als Halter und Lenker des bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Motorrades mit dem behördlichen Kennzeichen W 3.334 beteiligt waren. Bei diesem Unfall wurde der Kläger schwer verletzt.
Der Kläger begehrte von den Beklagten die Bezahlung von
S 798.001,20 s.A. Er legte diesem Begehren eine Haftung der
Beklagten von 50 % zugrunde, sodaß sich unter Berücksichtigung eines
Schmerzengeldes von S 600.000,--,
der Verminderung für besseres Fortkommen S 150.000,--,
des Verdienstentganges von S 500.000,--
und des Rückforderungsanspruches der W***
G*** S 346.002,40
zusammen S 1,596.002,40:2
der Betrag von S 798.001,20 s.A. ergebe. Außerdem beantragte er die Feststellung der Haftung der Beklagten für die zukünftigen Schäden aus dem Unfall.
Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger habe den Unfall allein verschuldet, weil er die Kreuzung trotz Rotlichtes überqueren wollte. Der Erstbeklagte habe die Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h bei Grün überquert und auf das Fehlverhalten des Klägers sofort reagiert. Im übrigen werde der Schaden am Moped von S 13.906 aufrechnungsweise gegen die Klageforderung eingewendet.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es
traf - zusammengefaßt dargestellt - nachstehende Feststellungen:
Der Erstbeklagte fuhr auf der Lasallestraße Richtung Reichsbrücke. Er hielt im Zuge seiner Annäherung an die Unfallstelle eine Geschwindigkeit von ca. 50 km/h ein. Auf der Kreuzung mit der Vorgartenstraße war in seiner Fahrtrichtung gesehen "Dauergrünlicht". Auch beim Einfahren in die Kreuzung und beim Übersetzen des ersten Zebrastreifens hatte er in seiner Fahrtrichtung "Dauergrünlicht". Der Erstbeklagte befuhr zunächst den mittleren Fahrstreifen, wich aber dann in die rechte Fahrspur aus, weil er wahrnahm, daß auf dem zweiten Zebrastreifen von seiner Annäherungsposition aus gesehen ein Fußgänger bei Rotlicht von rechts nach links über die Kreuzung lief. Der Kläger überquerte die Lasallestraße in der Fahrtrichtung des Erstbeklagten gesehen von links nach rechts. Es konnte nicht festgestellt werden, bei welcher Ampelphasenstellung für den Fußgängerübergang der Kläger die Lasallestraße bis zum Fahrbahnteiler überquerte. Beim Fahrbahnteiler blieb der Kläger stehen; in dieser Position wurde er auch vom Erstbeklagten wahrgenommen, der bei Annäherung an die Kreuzung den Kläger links am Schutzweg beim Verkehrsteiler stehen sah. Als der Erstbeklagte sich ca. 16,5 m vor der späteren Kollisionsstelle befand und den ersten Schutzweg bereits ca. 7 m passiert hatte, erkannte er ca. 1,2 Sekunden vor der Kollision den Kläger insoweit als Gefahr, als sich dieser in Bewegung gesetzt hatte, um den Fußgängerübergang bei Rotlicht im Laufschritt zu überqueren. Bei Gefahrenerkennung befand sich der Erstbeklagte bereits in einem leichten Linkszug. Der Kläger hatte aus der Position neben dem Fahrbahnteiler, in welcher er zunächst im Stillstand gewesen war, bis zur Kollisionsstelle ca. 9 m zurückzulegen. Er brauchte dazu bei einer Geschwindigkeit von 16 km/h rund 2 Sekunden. Der Erstbeklagte benötigte rund 0,8 Sekunden, um das Loslaufen des Klägers als Gefahr zu erkennen, womit ihm 1,2 Sekunden Abwehrzeit verblieben. Durch den Kontakt des Motorrades mit dem Kläger kippte dieses seitlich weg, rutschte weiter und stürzte um. Der Kläger wurde auf die Fahrbahn geschleudert und schwer verletzt.
Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß dem Erstbeklagten weder eine überhöhte Geschwindigkeit noch eine Reaktionsverspätung als Verschulden angelastet werden könnten, hingegen der Kläger den Unfall durch den Versuch, eine ampelgeregelte Kreuzung bei Rotlicht zu überqueren, allein verschuldet habe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Auch das Gericht zweiter Instanz vertrat die Auffassung, daß dem Erstbeklagten kein Verschulden am Unfall angelastet werden könne. Darüber hinaus sei ihm aber auch der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG gelungen, sodaß das Erstgericht zutreffend das Klagebegehren abgewiesen habe.
Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision des Klägers aus den Anfechtungsgründen des § 503 Abs 1 Z 2, 3 und 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde. Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der Aktenwidrigkeit des Berufungsurteiles liegen nicht vor. Dies ist nicht näher zu begründen (§ 510 Abs 3 ZPO); es ist lediglich darauf zu verweisen, daß sich diese Revisionsgründe im wesentlichen unzulässigerweise gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanzen wenden und darauf hinauslaufen, daß sie dem Erstbeklagten die Einhaltung einer höheren Geschwindigkeit anzulasten versuchen, als die Vorinstanzen festgestellt haben.
In der Rechtsrüge stellt sich der Kläger auf den Standpunkt, daß der Erstbeklagte sich der großräumigen Kreuzung nicht mit der im Ortsgebiet zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hätte nähern dürfen. Dem ist zu erwidern:
Wie schon die Vorinstanzen zutreffend ausführten, kann dem
Erstbeklagten kein Verstoß gegen § 20 Abs 2 StVO vorgeworfen werden,
weil er nicht schneller fuhr, als im Stadtgebiet nach dieser
Vorschrift allgemein zulässig ist. Auch eine verspätete Reaktion ist
ihm nicht anlastbar. Fraglich könnte nur sein, ob ihm der nach § 9
Abs 2 EKHG erforderliche Entlastungsbeweis gelungen ist oder nicht:
Gemäß § 9 Abs 1 EKHG ist die Ersatzpflicht des Halters ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde. Die Unabwendbarkeit eines Ereignisses iS des § 9 Abs 2 EKHG setzt voraus, daß der Halter und die mit seinem Willen beim Betrieb des Fahrzeuges tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben. Die Sorgfaltspflicht iS dieser Gesetzesstelle umfaßt nicht die gewöhnliche Verkehrssorgfalt, sondern die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt. Als Maßstab ist die Sorgfalt eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers heranzuziehen. Die erhöhte Sorgfaltspflicht iS dieser Gesetzesstelle setzt nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, daß auch schon vorher vermieden wird, in eine Situation zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen kann (ZVR 1977/306; 1980/225, 8 Ob 21/81 uva). Allerdings darf diese Sorgfaltspflicht auch nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden (2 Ob 357/74 ua). Im Sinne dieser rechtlichen Grundsätze stellt das verkehrswidrige Verhalten von Fußgängern für den Lenker eines Kraftfahrzeuges in der Regel dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte (ZVR 1979/288; ZVR 1984/150 ua).
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, daß bloß abstrakt mögliche Gefahrenquellen bei der Wahl einer Geschwindigkeit bis zu 50 km/h im Ortsgebiet nicht in Rechnung gestellt zu werden brauchen (ZVR 1981/10; 8 Ob 212/81 ua). Im Hinblick auf die konkreten von den Vorinstanzen festgestellten Umstände war der Erstbeklagte nicht zur Einhaltung einer niedrigeren Geschwindigkeit verpflichtet. Die Fahrbahn war breit, trocken gerade und übersichtlich; die Ampelanlage zeigte für ihn grün. Der Kläger stand zunächst ordnungsgemäß auf der Höhe des Fahrbahnteilers. Sein ursprüngliches Verhalten bildete keinen Grund für eine Herabsetzung der Geschwindigkeit durch den Erstbeklagten, weil dieser nicht von vornherein damit rechnen mußte, daß der Kläger versuchen würde, die Fahrbahn in verkehrsordnungswidriger Weise bei Rotlicht im Laufschritt zu überqueren. Auch ein besonders umsichtiger und sachkundiger Kraftfahrer konnte und mußte in dieser Situation nur erwarten, daß der Fußgänger sich verkehrsgerecht verhalten werde. Es ist daher die vom Erstbeklagten eingehaltene Fahrgeschwindigkeit auch aus dem Gesichtspunkt des § 9 Abs 2 EKHG nicht zu beanstanden; als das Fehlverhalten des Klägers für ihn erkennbar wurde, hat der Erstbeklagte nach den Feststellungen der Vorinstanzen darauf prompt und sachgemäß reagiert. Mit Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen, daß den Erstbeklagten nicht nur kein Verschulden an diesem Verkehrsunfall trifft, sondern daß er darüber hinaus iS des § 9 Abs 2 EKHG auch jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat und daß daher das Klagebegehren abzuweisen ist. Der Revision war somit der Erfolg zu versagen.
Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
Anmerkung
E12277European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:0020OB00050.87.1110.000Dokumentnummer
JJT_19871110_OGH0002_0020OB00050_8700000_000