Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Meches und Claus Bauer in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Henriette A***, Pensionistin, 1210 Wien, Prager Straße 92/5/1, vertreten durch Dr. Friedrich Flendrovsky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** D***
A***, 1020 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.Juli 1987, GZ 33 Rs 101/87-37, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien in Wien vom 22.Oktober 1986, GZ 16b C 30/86-27 (nunmehr 16b Cgs 30/86 des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien) teils bestätigt, teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 17.2.1986 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 10.12.1985 auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses (zur Alterspension) ab, weil die Pensionistin nicht hilflos im Sinne des § 105a ASVG sei.
Dagegen erhob die Klägerin rechtzeitig beim Schiedsgericht der Sozialversicherung für Wien in Wien Klage.
Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, der Klägerin den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß ab 10.12.1985 zu gewähren. Es stellte fest, daß die Klägerin insbesondere wegen zweier Hüftgelenksprothesen (links 1977, rechts September 1985) in ihrer Beweglichkeit so eingeschränkt sei, daß sie seit 1.3.1986 zwar aufstehen und sich niederlegen, an- und auskleiden, waschen, die Toilette aufsuchen und sich anschließend reinigen, eine Mahlzeit zubereiten, essen, die kleine Leibwäsche, Kleider und Schuhe waschen bzw. pflegen, die Wohnung oberflächlich in Ordnung halten und einen Ofen warten könne. Zur Fußpflege (Einseifen, Waschen, Abrtrocknen, Zehennägelschneiden), zum Schnüren - medizinisch allerdings nicht notwendiger Schnürschuhe - und zum Schließen an Schuhen angebrachter Zippverschlüsse brauche sie Hilfe. Strümpfe könne sie nur mit einem Strumpfanzieher anziehen. Sie sei auch bei auf dem Fußboden durchzuführenden Tätigkeiten behindert. Sie könne Staub nicht vom Boden aufkehren und Gegenstände vom Fußboden "nur mit Hilfe eines Sessels mühsam" aufheben. Die Aschenlade eines Kohleofens könne sie nur sitzend herausnehmen, aus dem Ofen gefallene Glutstücke nicht vom Boden aufheben. Zu allen "schwierigen" Tätigkeiten, wie zur Heranbringung des Heizmaterials und der Lebensmittel, für die Großwäsche, das Großreinemachen und die Benützung eines Bades, bedürfe sie fremder Hilfe. Von der Operation am 18.9.1985 bis Ende Feber 1986 seien ihr auch das Inordnunghalten der Wohnung, die Ofenwartung und die Zubereitung der Nahrung nicht möglich gewesen. Wegen dieser Einschränkungen erachtete das Erstgericht die Klägerin als hilflos im Sinne des § 105a ASVG.
Dagegen erhob die Beklagte wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache Berufung, in der sie die Abänderung durch Abweisung des Klagebegehrens, allenfalls die Aufhebung beantragte. Das Berufungsgericht gab der Berufung teilweise Folge. Es bestätigte das erstgerichtliche Urteil für die Zeit vom 10.12.1985 bis 28.2.1986, änderte es aber im übrigen dahin ab, daß es das auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses ab 1.3.1986 gerichtete Mehrbegehren abwies.
Das Berufungsgericht bezeichnete das Gutachten des Sachverständigen für Orthopädie als teilweise logisch nicht nachvollziehbar und meinte, der Sachverständige habe übersehen, daß zum Zusammenkehren langstielige Besen und Kehrschaufeln bzw. Staubsauger verwendet werden könnten. Das Waschen der Füße in einem kleinen Behältnis im Sitzen mit Hilfe einer Stielbürste sei allgemein üblich. Das Abtrocknen müßte unter Zuhilfenahme von Zangengeräten möglich sein. Zusammenfassend sei - abgesehen von "schwierigen" (gemeint "schwereren") Tätigkeiten, wie dem Beschaffen von Bedarfsgegenständen und Heizmaterial, dem Reinigen und Bügeln der großen Wäsche und dem Großreinemachen der Wohnung - daher von folgenden Einschränkungen, lebenswichtige Verrichtungen des täglichen Lebens vorzunehmen, auszugehen, die alle mit den Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke im Zusammenhang stünden:
dem Schneiden der Zehennägel und dem Benützen eines Bades (offenbar einer Badewanne). Das An- und Ausziehen der Strümpfe und von Schlüpfschuhen könne beim zumutbaren Verwenden von Zangeninstrumenten oder von längeren Schuhlöffeln bewerkstelligt werden.
Nach der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichtes erfordere das Schneiden der Zehennägel und das Baden keine ständige Wartung. Die Klägerin könne daher seit 1.3.1986 mit Mühe die zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz erforderlichen, ständig anfallenden Verrichtungen des täglichen Lebens leisten.
Gegen den abändernden Teil der Berufungsentscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das Urteil der zweiten Instanz durch gänzliche Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern, allenfalls im Umfang der Anfechtung aufzuheben.
Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die in einem Verfahren über wiederkehrende Leistungen in einer Sozialrechtssache erhobene Revision ist nach § 46 Abs.4 ASGG ohne die Beschränkungen des Absatzes 2 dieser Gesetzesstelle zulässig; sie ist aber im Ergebnis nicht berechtigt.
Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Abs.1 Z 2 ZPO) liegt nicht vor. Ob das Berufungsgericht, das im Hinblick auf die Übergangsbestimmung des § 101 Abs.2 ASGG noch keine zweite Tatsacheninstanz war, die erstgerichtlichen Feststellungen modifizieren durfte, kann dahingestellt bleiben, weil der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Frage, ob die Klägerin seit 1.3.1986 hilflos im Sinne des § 105a ASVG ist, ermöglicht. Die in der Revision behaupteten Mängel des Berufungsverfahrens sind daher nicht entscheidungswesentlich.
Nach der Entscheidung des erkennenden Senates vom 22.10.1987, 10 Ob S 46/87, liegt Hilflosigkeit im Sinne der zitierten Gesetzesstelle dann vor, wenn der Rentner oder Pensionist nicht in der Lage ist, auch nur einzelne dauernd wiederkehrende, lebensnotwendige Verrichtungen selbst auszuführen. Aus der Höhe und dem Zweck des Hilflosenzuschusses ergebe sich allerdings, daß ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe nur dann angenommen werden könne, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Leistungsbeziehers üblicherweise aufzuwendenden und daher nicht bis ins einzelne, sondern nur überschlagsmäßig (vgl. § 273 ZPO) festzustellenden Kosten im Monatsdurchschnitt mindestens so hoch seien wie der begehrte Zuschuß. Bei der Frage, ob es sich um notwendige Dienstleistungen handelt, müßten die dem Hilfsbedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel berücksichtigt werden. Da jedoch auch von einem Hilflosen erwartet werden müsse, daß er einen Standard hält, der unter nichthilflosen Beziehern gleichhoher Einkommen im selben Lebenskreis üblich sei, sei bei der Schätzung des notwendigen Dienstleistungsaufwandes mindestens dieser Standard zugrunde zu legen.
Daraus folgt, daß die in großstädtischen Verhältnissen lebende Klägerin seit 1.3.1986 nicht hilflos im Sinne des § 105a ASVG ist. Selbst wenn man nach den erstgerichtlichen Feststellungen davon ausgeht, daß die Klägerin zur täglichen Fußpflege, zum - wegen des heute üblichen Kühlschrankes - nicht täglich erforderlichen Einholen der Lebensmittel, zum ebenfalls nicht täglich erforderlichen Besorgen der übrigen Bedarfsgegenstände sowie zum Baden und zu den nur in größeren Abständen anfallenden schwereren Hausarbeiten fremde Hilfe braucht, ist auszuschließen, daß für diese Dienstleistungen im Monatsdurchschnitt mehr als 3.100 S aufgewendet werden müssen. So hoch wäre nämlich etwa der monatliche Durchschnitt des im Jahre 1986 gebührenden Hilflosenzuschusses.
Das Berufungsgericht hat das Begehren auf Hilflosenzuschuß für die Zeit nach dem 28.2.1986 daher im Ergebnis zu Recht abgewiesen, weshalb der Revision nicht Folge zu geben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs.1 Z 2 lit.b ASGG.
Anmerkung
E12412European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1987:010OBS00136.87.1117.000Dokumentnummer
JJT_19871117_OGH0002_010OBS00136_8700000_000