TE OGH 1987/12/22 2Ob68/87

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Veröffentlicht am 22.12.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Niederreiter als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Michael S***, Kaufmann, Hoffeld 53, 2870 Aspang, vertreten durch Dr. Friedrich Witschka, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei W*** S*** W*** V***, Ringturm, 1010 Wien,

vertreten durch Dr. Christian Prem, Dr. Werner Weidinger, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 22.310,80 s.A., infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgerichtes vom 1. Juli 1987, GZ 42 R 375/87-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 30. März 1987, GZ 36 C 1596/85-17, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.

Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit S 4.556,72 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin enthalten S 30,-- Barauslagen und S 411,52 Umsatzsteuer) und die mit S 4.219,20 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 1.500,-- Barauslagen und S 247,20 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 3. April 1985 ereignete sich auf dem Großmarkt in Wien-Inzersdorf ein Verkehrsunfall. Die Lenkerin eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten VW-Kastenwagens fuhr auf der Ausfahrtsstraße, auf der sich mehrere Geleise befinden, in Richtung Ausfahrt, der Kläger kam mit seinem PKW von rechts aus einer zwei Meter breiten Durchfahrt, die durch einen zwischen zwei Lagerhallen befindlichen Verbindungsbau führt. Diese Durchfahrt verbindet der Zufahrt und Abfahrt zu den Lagerhallen dienende Verkehrsflächen. Die vom Kläger benützte Verkehrsfläche ist mit Bodenplatten belegt und mündet eben in die asphaltierte Verkehrsfläche, welche die Lenkerin des VW Kastenwagens benützte. An der Grenze zwischen Betonplatten und Asphalt verläuft eine Regenrinne, welche mit der Fahrbahn niveaugleich durch Gitter abgedeckt ist. Die auf dem Asphalt angebrachte weiße Begrenzungslinie ist im Bereich der Einmündung der vom Kläger benützten Verkehrsfläche unterbrochen.

Der Kläger stützt seine Schadenersatzklage auf den Rechtsvorrang, die Beklagte wendete ein, der Kläger habe gegen § 19 Abs 6 StVO verstoßen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei Prüfung, ob der Kläger von einer Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO gekommen sei, seien nur solche Kriterien heranzuziehen, die für die Benützer der betreffenden Verkehrsfläche während ihrer Fahrt deutlich erkennbar seien. Für den Kläger habe die Verkehrsfläche objektiv gesehen auf Grund der Enge, der geringen Höhe und ihrer gesamten Anlage im Rahmen des zwischen zwei Ausfahrtsstraßen gelegenen Gebäude und Lagerhallenkomplexes den Eindruck einer Fahrbahn im Sinne des § 19 Abs 6 StVO erwecken müssen. Besonders die Tür, die sich aus seiner Fahrtrichtung rechts etwa auf der Höhe der Mitte der Durchfahrt befindet, habe ihn erkennen lassen, daß er sich gegenüber der Ausfahrtsstraße auf einer untergeordneten Fahrbahn im Sinne des § 19 Abs 6 StVO befinde. Der Kläger sei daher wartepflichtig gewesen.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens ab. Die Revision wurde für zulässig erklärt. Sowohl die vom Kläger als auch die von der Lenkerin des Kastenwagens benützte Verkehrsfläche unterscheide sich ihrer gesamten Anlage nach deutlich von sonstigen öffentlichen Straßen. Beide gehörten zum Marktgelände und seien Verkehrsflächen im Sinne des § 19 Abs 6 StVO (ZVR 1974/48; ZVR 1981/29 ua). Innerhalb solcher Verkehrsflächen oder für das Verhältnis solcher Verkehrsflächen zueinander gelte im Zweifel die Rechtsregel des § 19 Abs 1 StVO (ZVR 1972/4, ZVR 1975/154, ZVR 1976/40, ZVR 1982/87, ZVR 1983/31 ua). Es sei freilich nicht ausgeschlossen, daß solche Verkehrsflächen zueinander wieder im Verhältnis des § 19 Abs 6 StVO stünden. Auch hiefür komme es auf die Umstände des Einzelfalles an. Die Unterordnung müsse sich jedoch aus der gesamten Anlage klar und eindeutig ergeben (ZVR 1982/87). Im vorliegenden Fall fehle es an einer derartigen Eindeutigkeit. Wie sich schon aus dem Erstgericht verwendeten Begriff "Durchfahrt" ergebe, handle es sich nicht um eine Ausfahrt aus einem Gebäude, sondern um eine aus der gesamten Anlage leicht erkennbare Verbindung untergeordneter, jedoch gleichwertiger Verkehrsflächen. Es gehe nicht an, für die Beurteilung, ob eine Verkehrsfläche übergeordnet oder untergeordnet sei, nur auf die Sichtverhältnisse und die äußere Erscheinungsform abzustellen, die sich dem von links nähernden Verkehrsteilnehmer bietet. Es sei vielmehr auf die gesamte Anlage abzustellen, denn nicht nur der von links kommende, sondern auch der von rechts kommende Lenker habe die Vorrangfrage zu lösen. Richtige Lösungen könnten daher niemals von einer einseitigen Betrachtung aus der Annäherung nur eines der beiden Lenker ausgehen. Da Unterführungen im Allgemeinen keinen Einfluß auf die Vorrangfrage hätten und es sich bei der vorliegenden Durchfahrt nicht bloß um eine Gebäudeausfahrt handle, da beide Verkehrsflächen ähnlich befestigt und an der Einmündung keine Verkehrstafeln angebracht seien (ZVR 1984/289), da auch keiner der Lenker einen Bordstein zu überfahren habe, ferner aus Bodenmarkierungen sich keine Unterordnung ergäbe (ZVR 1982/87), erscheine es nicht gerechtfertigt, von der Rechtsregel abzuweichen.

Die Beklagte bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision, macht den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragt Abänderung dahin, daß das Klagebegehren abgewiesen werde.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Das Berufungsgericht hat die Grundsätze für die Beurteilung einer Verkehrsfläche als solche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes dargelegt. Die Ansicht, im vorliegenden Fall komme die Rechtsregel zur Anwendung, kann jedoch nicht geteilt werden. Richtig ist wohl, daß nicht nur auf die Sichtverhältnisse und die äußere Erscheinungsform abzustellen ist, die sich dem von links kommenden Verkehrsteilnehmer bietet. Dies hat das Erstgericht aber ohnedies nicht getan, es berücksichtigte vielmehr insbesondere den Eindruck, den der Kläger als Rechtskommender von der Verkehrsfläche haben mußte. Aus der Sicht der Lenkerin des VW-Kastenwagens kam der PKW von rechts aus einem Gebäude. Dem Hinweis des Berufungsgerichtes, Unterführungen hätten im allgemeinen keinen Einfluß auf die Vorrangfrage, ist entgegenzuhalten, daß es sich um eine nur zwei Meter breite niedrige Durchfahrt durch ein Gebäude handelte, das sich zwischen zwei Straßen befindet, und nicht darum, daß eine Straße in ihrem Verlauf sich auf einer bestimmten Strecke nicht unter freiem Himmel befindet. Daran, daß demjenigen, der die niedrige schmale Durchfahrt benützt, deren deutlicher Unterschied von den breiten Straßen, deren Verbindung die Durchfahrt dient, auffallen muß, kann kein Zweifel bestehen. Auch wenn die Fahrbahnoberflächen niveaugleich und nicht von unterschiedlicher Qualität sind, unterscheidet sich die "Durchfahrt" durch das Gebäude wegen ihrer geringen Höhe und Breite objektiv derart von den Ausfahrtsstraßen, daß sie als Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO anzusehen ist. Dem Kläger kam daher kein Rechtsvorrang zu.

Der Revision war daher Folge zu geben und das Ersturteil wieder herzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

Anmerkung

E12759

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0020OB00068.87.1222.000

Dokumentnummer

JJT_19871222_OGH0002_0020OB00068_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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