Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Müller und Dr. Gerhard Dengscherz als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H***, Wien 10., Wilhelm Kress Platz 29-30/75/3/10, vertreten durch Dr. Heinrich Waldhof, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U*** (Landesstelle Wien), Wien 20., Adalbert
Stifter-Straße 65, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. September 1987, GZ 31 Rs 157/87-22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 13. April 1987, GZ 1 a Cgs 371/86-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen, das auf die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gleich Verfahrenskosten erster Instanz Bedacht zu nehmen haben wird.
Text
Begründung:
Der Kläger erlitt am 8. August 1983 bei einem Arbeitsunfall einen Bruch des Stirn-, Schädel- und Schläfenbeines mit Beteiligung der Schädelbasis, einen Bluterguß zwischen Schädeldecke und harter Hirnhaut, eine Gehirnquetschung, Halbseitenlähmung links, einen Bruch des Speichengriffels und einen Abriß des Ellengriffelfortsatzes rechts.
Für die Folgen dieses Unfalles gewährte die beklagte Partei dem Kläger, nach Gewährung von vorerst vorläufigen Leistungen, mit Bescheid vom 3. Juli 1985 eine Dauerrente im Ausmaß der Vollrente mit Zusatzrente, zwei Kinderzuschüssen und Hilflosenzuschuß. Der Feststellung dieser Leistungen lag die ärztliche Begutachtung vom 7. Juni 1985 zugrunde.
Mit Bescheid vom 17. September 1986 wurde die Leistung mit Wirksamkeit ab 1. November 1986 auf die Dauerrente zuzüglich Zusatzrente und zwei Kinderzuschüssen herabgesetzt; die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses seien nicht mehr gegeben.
Der Kläger begehrt, die beklagte Partei zur Gewährung auch des Hilflosenzuschusses über den Monat Oktober 1986 hinaus zu verpflichten. Er sei weiterhin außerstande, für sich allein zu sorgen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht gab dem Begehren des Klägers statt; es legte seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehende Feststellungen zugrunde:
Aus chirurgischer Sicht ergibt sich keine faßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit. Aus neurologischer Sicht findet sich beim Kläger derzeit unfallbedingt eine spastische Halbseitenschwäche links mit gewisser Gewöhnung und Anpassung; es ist zu einer weiteren Rückbildung des leichten organischen Psychosyndroms gekommen. Der Kläger kann sich allein an- und ausziehen, nicht aber Bänder und Knöpfe schließen; er kann sich oberflächlich waschen, nicht aber mit der linken Hand die rechte Körperseite; er kann den Wohnraum oberflächlich instandhalten und einfache Speisen zubereiten, einen Kohleofen warten und die kleine Leibwäsche waschen. Lebensmittel kann er nur mittels einer Umhängetasche einholen, da er mit der gesunden Hand zur Stabilisierung Stockhilfe benötigt. Bei widrigen Umständen, wie etwa bei Schneelage oder naßglatter Fahrbahn vermag er die Nahrungsmittel nicht ohne fremde Hilfe zu besorgen. Dieser Zustand ist ab 1. November 1986 anzunehmen und hat sich zwar gegenüber der Gewährung gebessert; eine wesentliche Besserung im medizinischen Sinn ist aber nicht eingetreten.
Hiezu führte das Erstgericht aus, daß der Kläger nach wie vor hilflos sei, da er ständiger Wartung (Knöpfe und Bänder schließen, Körperreinigung) und bei widrigen Umständen auch ständiger Hilfe (Einholung von Lebensmittel und Brennmaterial) bedürfe; überdies sei eine wesentliche Besserung seit der Gewährung des Hilflosenzuschusses nicht eingetreten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren ab. Unter Hilflosigkeit im Sinn des § 105 a ASVG sei ein Zustand zu verstehen, in dem der Bezieher einer Pension derart hilflos sei, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedürfe, wobei beide Tatbestandselemente (Wartung und Hilfe) kumulativ vorliegen müßten. Unter Wartung seien dabei alle jene Handreichungen und Verrichtungen durch dritte Personen zu verstehen, die unbedingt notwendig seien, um die Existenz des Hilflosen sicherzustellen, also die persönliche Pflege, während der Begriff der Hilfe sich auf Verrichtungen im sachlichen Lebensbereich beziehe. Diese Voraussetzungen träfen aber beim Kläger nicht zu. Es sei weder ein Wartungs- noch ein Hilfsbedürfnis gegeben. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes abzuändern. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Hilflosigkeit im Sinn des § 105 a ASVG liegt vor, wenn die betreffende Person ständig der Wartung und Hilfe bedarf. Der Ansicht des Berufungsgerichtes, die Ausdrücke Wartung und Hilfe seien nicht gleichzusetzen, sondern stellten Begriffe mit gesondertem Inhalt dar, kann nicht beigetreten werden. Der Oberste Gerichtshof vertritt daher die Ansicht, daß bei der Auslegung des § 105 a ASVG im Sinn der Ausführungen Kudernas (RdA 1968, 188 f) von den übergeordneten Worten "derart hilflos" in Verbindung mit dem Zweck des Hilflosenzuschusses auszugehen ist und die Wortfolge "Wartung und Hilfe" diesen Begriff nur näher umschreiben soll. Zweck des Hilflosenzuschusses ist es, dem Rentner oder Pensionisten, der infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht in der Lage ist, die lebensnotwendigen Verrichtungen selbst zu besorgen, den durch die Inanspruchnahme anderer Personen entstehenden Mehraufwand wenigstens teilweise abzugelten.
Für die Entscheidung der Frage, ob eine Person derart hilflos ist, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedarf, ist es erforderlich, die Verrichtungen, die sie nicht allein auszuführen in der Lage ist, möglichst detailliert zu erheben; es ist klarzustellen, zu welchen lebensnotwendigen Verrichtungen fremde Hilfe erforderlich ist. Die bisher vorliegenden Feststellungen reichen dazu nicht aus.
Das Berufungsgericht begründete seine abweisende Entscheidung vor allem mit dem Hinweis darauf, daß der Kläger einem Einarmigen gleichzuhalten sei; der Verlust eines Armes begründe jedoch keine Hilflosigkeit. Dem ist entgegenzuhalten, daß die beim Kläger bestehenden Behinderungen nicht mit einer Einarmigkeit gleichzusezten sind. Nach den Feststellungen besteht unfallsbedingt eine spastische Halbseitenschwäche links. Es ist daher nicht bloß der linke Arm beeinträchtigt, sondern die Ausfallerscheinungen erstrecken sich auf die gesamte linke Körperseite; dies bedingt auch die festgestellten Gehbehinderungen (der Kläger benötigt zur Stabilisierung beim Gehen einen Stock). Es steht jedoch nicht ausreichend genau fest, in welchem Ausmaß der Kläger hiedurch bei Ausführung der lebensnotwendigen Verrichtungen behindert ist. Festgestellt wurde, daß er in der Lage ist, sich "oberflächlich" zu waschen und einen Wohnraum "oberflächlich" instandzuhalten. Für die Entscheidung der Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzung der ständigen Wartung und Hilfe erfüllt ist, ist es aber erforderlich, die mit diesen Begriffen umschriebenen Einschränkungen näher zu klären. Es wird zu prüfen sein, wie weit eine Einschränkung bei Durchführung der Körperreinigung besteht, insbesonders, ob bei der dem Kläger möglichen Körperreinigung den hygienischen Erfordernissen Rechnung getragen wird. In gleicher Weise ist auch der Umfang der dem Kläger möglichen Verrichtungen beim Instandhalten des Wohnraumes zu klären, welche Verrichtungen er allein ausführen kann und für welche Tätigkeiten er der Hilfe einer anderen Person bedarf. Erst wenn der Umfang der Behinderungen des Klägers bei Ausführung dieser Tätigkeiten und damit der Umfang des Bedürfnisses nach fremder Hilfe feststeht, wird eine Beurteilung der Frage möglich sein, ob die Voraussetzungen des § 105 a ASVG erfüllt sind.
Aber selbst wenn nach den derzeitigen Verhältnissen die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses nicht gegeben wären, wäre die Sache nicht im Sinne einer Klageabweisung spruchreif. Mit dem angefochtenen Urteil wurde dem Kläger der Hilflosenzuschuß zur Versehrtenrente entzogen. Gegenstand des Verfahrens ist daher nicht allein - wovon offenbar das Berufungsgericht ausgegangen ist - die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses vorliegen, sondern insbesonders auch, ob die Voraussetzungen für die Entziehung des Leistungsanspruches erfüllt sind.
Nach § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches nicht mehr gegeben sind. Die Worte "nicht mehr" setzen voraus, daß zwischen den für die Gewährung - hier des Hilflosenzuschusses - maßgeblichen und den im Zeitpunkt der Entziehung gegebenen Umständen eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Grundlage für die Entscheidung, ob eine Besserung eingetreten ist, die eine Entziehung der Leistung rechtfertigt, sind Feststellungen über den Leidenszustand und die dadurch bedingten Einschränkungen in dem für die Gewährung maßgeblichen Zeitpunkt, die weitere medizinische Entwicklung und den nunmehrigen Zustand des Anspruchswerbers. Es ist klarzustellen, von welchen Verrichtungen der Kläger in dem für die Gewährung maßgeblichen Zeitpunkt ausgeschlossen war und welche Tätigkeiten er nunmehr zufolge einer Besserung seines Zustandes oder allenfalls eingetretener Anpassung und Gewöhnung zu verrichten imstande ist. Die bisher vorliegenden Feststellungen enthalten keine ausreichende Grundlage zur Entscheidung dieser Fragen. Es wird wohl eine Besserung erwähnt, doch läßt sich aus den Feststellungen nicht entnehmen, ob und welche Tätigkeiten, von denen er im Zeitpunkt der Gewährung ausgeschlossen war, der Kläger nunmehr zu verrichten imstande ist.
Sollten die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses nicht aufgrund des bestehenden Zustandes bereits vorliegen, so wären Feststellungen in diesem Sinn nachzutragen und zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Entziehung des Leistungsanspruches gegeben sind.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E13384European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:009OBS00038.87.0127.000Dokumentnummer
JJT_19880127_OGH0002_009OBS00038_8700000_000