Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Zörner und Kurt Wuchterl in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alois S***, Hutmacher, 8230 Hartberg, Rinnengasse 6, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei P*** DER A*** (Landesstelle Graz),
1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- Sozialrechtssachen vom 30. November 1987, GZ 8 Rs 1128/87-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 15. Mai 1987, GZ 30 Cgs 62/87-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revsion wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:
"Der Anspruch der klagenden Partei auf eine Invaliditätspension nach § 254 Abs1 Z 1 ASVG besteht gegenüber der beklagten Partei ab 1. April 1987 dem Grund nach zu Recht.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen bis zur Erlassung des die Höhe dieser Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von monatlich 5.000 S zu erbringen und ihr die mit 2.357,85 S (darin enthalten 214,35 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen."
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 30. Juli 1986 lehnte die beklagte Partei den Antrag des am 21. März 1932 geborenen Klägers vom 3. Juni 1986 auf eine Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Dagegen erhob der schon in erster Instanz qualifiziert vertretene Kläger innerhalb von drei Monaten ab Zustellung des Bescheides Klage. Deren Begehren war auf Zuerkennung der Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Juli 1986 gerichtet und stützte sich darauf, daß der Kläger den erlernten und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Beruf eines Hutmachers wegen seines Zustandes nicht mehr ausüben könne.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil der Kläger noch alle leichten und mittelschweren Arbeiten verrichten könne.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte den körperlichen und geistigen Zustand des Klägers und dessen Leistungsfähigkeit dahin fest, daß er leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Sitzen und Stehen, im Freien und in geschlossenen Räumen, in aufrechter und gebückter Haltung verrichten und Lasten bis zu 15 kg heben und tragen kann. Wegen einer alten Erfrierung am linken Handrücken ist er vor Kälteeinwirkungen zu schützen. Der Kläger hat das Hutmachergewerbe in einem "Einmannbetrieb" in Hartberg erlernt (1948 bis 1951), es dann 9 Jahre in Wiener Gewerbebetrieben und sodann bis zur Antragstellung (mit Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit) wieder in dem erwähnten Hartberger Kleinbetrieb ausgeübt. Dabei erledigte er alle Produktionsstufen der Hutfabrikation selbst, insbesondere auch das Plattieren (Hutformens) ohne Maschinen. Die Tätigkeit eines Hutmachers werden in geschlossenen Räumen in von fallweisen Gehen unterbrochener stehender Haltung verrichtet und sind meist leicht bis mittelschwer, teilweise aber auch mit schweren Belastungen der Muskulatur verbunden. Zu diesen schweren Arbeiten zählt insbesonders die zentrale Tätigkeit des "Plattierens" (Hutformen), weil dabei der dampfend heiße Hutstumpen unter Anwendung größtmöglicher Muskelkraft über eine Hutform gezogen werden muß. Dabei steht der Hutmacher unter ständiger Hitzeeinwirkung. Werden in modern ausgestatteten Betrieben Formmaschinen verwendet, dann fällt diese schwere Belastung der Muskulatur weg, weil der Hutmacher die Tätigkeit der Plattierungsmaschine, die das Dämpfen, Strecken, Formen und Trocknen des Hutstumpens in einem Arbeitsgang verrichtet, nur mehr überwacht und steuert. Die Arbeit eines Hutmachers in einem modernen Industriebetrieb unterscheidet sich besonders wegen der Maschinenbedienung teilweise von der Tätigkeit in einem gewerblichen Betrieb, wäre also für den Kläger mit einer Umstellung verbunden. Eine solche Umstellung sei ihm aber nach Ansicht des Erstgerichtes zumutbar, weil er umstellungs- und anpassungsfähig und intelligent sei. Deshalb sei er nicht invalid im Sinne des § 255 Abs1 ASVG. Die Voraussetzungen des Abs4 dieser Gesetzesstelle seien nach Ansicht des Erstgerichtes nicht gegeben, weil der Kläger am Stichtag das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe.
Dagegen erhob der Kläger insoweit Berufung, als sein Begehren auch für die Zeit ab 1. April 1987 abgewiesen wurde. Seither lägen die Voraussetzungen nach § 255 Abs4 ASVG vor. Er beantragte daher, das diesbezüglich auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung beruhende Ersturteil entsprechend abzuändern, allenfalls aufzuheben. Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge. Der Kläger habe keinen Anspruch darauf, im selben Betrieb verwendet zu werden. Er wäre nur dann invalid, wenn er in seinem bisherigen Beruf nicht mehr verwendet werden könnte. Ob er in einem gewerblichen oder in einem industriellen Betrieb arbeite, sei nicht wesentlich, weil er auch in einem Industriebetrieb in seinem erlernten Beruf eingesetzt werden könne. Im gewerblichen Betrieb stehe die handwerkliche Tätigkeit im Vordergrund, im Industriebetrieb werde ein Teil von Maschinen übernommen. Es bedürfe zwar einer gewissen Umstellung, die dem Kläger aber zugemutet werden könne.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Stattgebung des Klagebegehrens für die Zeit ab 1. April 1987 abzuändern oder es allenfalls aufzuheben. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung. Die nach § 46 Abs4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs2 der zitierten Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Nach § 255 Abs4 ASVG gilt der Versicherte auch als invalid, wenn er
a)
das 55. Lebensjahr vollendet hat,
b)
am Stichtag 180 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben hat,
c) in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs2) eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat und
d) infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit (lit.c) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.
Dieser leichtere Zugang zur Invaliditätspension wurde durch die 39. ASVG-Novelle für alle Dienstnehmer, unabhängig von ihrer beruflichen Qualifikation geöffnet.
Ob dem Kläger nach dieser Gesetzesstelle seit 1. April 1987 eine Invaliditätspension gebührt, war - entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichtes - zu diesem noch vor Schluß der mündlichen Verhandlung liegenden Tag zu prüfen, weil es sich dabei um den Stichtag iS des § 223 Abs2 ASVG handelt (der dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Monatserste).
Die im § 255 Abs4 ASVG genannten Voraussetzungen sind zum erwähnten Stichtag gegeben:
a)
der Kläger hat am 20. März 1987 das 55. Lebensjahr vollendet;
b)
er hat 452 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben;
c) er hat in allen Beitragsmonaten nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre die gleiche Tätigkeit eines Hutmachers in einem Kleinsthutmachergewerbebetrieb ausgeübt und ist
d) infolge seines körperlichen Zustandes nicht mehr imstande, durch diese gewerbliche Tätigkeit die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt, weil er diese Tätigkeit ohne Schaden für seine Gesundheit überhaupt nicht mehr ausüben kann.
Rechtliche Beurteilung
Daß der Kläger seinen erlernten Beruf als Hutmacher in der Hutindustrie ausüben könnte, ändert nichts daran, daß er nunmehr als invalid iS des § 255 Abs4 ASVG gilt, weil es sich dabei nicht mehr um die gleiche Tätigkeit handeln würde wie in dem gewerblichen Kleinstbetrieb, in dem er bisher tätig war. Während bisher die handwerkliche Tätigkeit im Vordergrund stand, würde er in der industriellen Fertigung vor allem mit der Steuerung und Überwachung von Maschinen zu tun haben. Diese Verweisung ist jedoch nach § 255 Abs4 ASVG nicht mehr zulässig.
Der Revision war daher Folge zu geben und das angefochtene Berufungsurteil wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern. Dabei war auf § 89 Abs2 ASGG Bedacht zu nehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs1 Z 2 lit.a und Abs2 ASGG sowie § 50 ZPO.
Anmerkung
E13675European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00056.88.0322.000Dokumentnummer
JJT_19880322_OGH0002_010OBS00056_8800000_000