Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Mai 1988 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Harbich als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Müller (Berichterstatter), Dr. Felzmann, Dr. Brustbauer und Dr. Kuch als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Takacs als Schriftführerin in der Strafsache gegen Michael K*** wegen des Vergehens nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 über die von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichts Wels vom 22. Jänner 1986, GZ. 4 U 771/84-68, und des Kreisgerichts Wels als Berufungsgerichts vom 8. Oktober 1986, AZ. 22 Bl 135/86, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalts Dr. Stöger, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen Michael K***, 4 U 771/84 des Bezirksgerichts Wels, verletzten die Urteile
1. des Bezirksgerichts Wels vom 22. Jänner 1986 die Bestimmung des § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 sowie
2. des Kreisgerichts Wels als Berufungsgerichts vom 8. Oktober 1986 die Bestimmungen der §§ 281 Abs. 1 Z. 9 lit. a, 468 Abs. 1 Z. 4, 477 Abs. 1 StPO.
Diese Urteile werden aufgehoben und gemäß §§ 288 Abs. 2 Z. 3, 292 StPO. in der Sache selbst erkannt:
Michael K*** wird von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe am 22. Februar 1984 ein krankes Kalb, das am Vortag (21. Februar 1984) in Weißenkirchen im Attergau von dem Tierarzt Dr. Richard K*** mit Antibiotika behandelt worden war, zum Schlachthof des Anton G*** in Straßwalchen gebracht und dort notschlachten lassen, wodurch ein Tier, das für die Gewinnung von Lebensmitteln bestimmt und so behandelt worden war, daß in den aus ihm gewonnenen Lebensmitteln Rückstände von Antibiotika zu erwarten waren, in Verkehr gebracht wurde, und habe dadurch das Vergehen nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 begangen,
gemäß § 259 Z. 3 StPO. freigesprochen.
Text
Gründe:
Mit dem Urteil des Bezirksgerichts Wels vom 22. Jänner 1986, 4 U 771/84-6, ist der am 23. Mai 1946 geborene Landwirt Michael K*** des Vergehens nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu 300 S (40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt worden. Darnach hat er am 22. Februar 1984 ein krankes Kalb, das am Vortag (21. Februar 1984) in Weißenkirchen im Attergau von dem Tierarzt Dr. Richard K*** mit Antibiotika behandelt worden war, zum Schlachthof des Anton G*** in Straßwalchen gebracht und dort notschlachten lassen, wodurch ein Tier, das für die Gewinnung von Lebensmitteln bestimmt und so behandelt worden war, daß in den aus ihm gewonnenen Lebensmitteln Rückstände von Antibiotika zu erwarten waren, in Verkehr gebracht wurde.
Die gegen dieses Urteil wegen Nichtigkeit und Schuld eingebrachte Berufung des Michael K*** wurde mangels einer solchen Berufungsanmeldung vom Kreisgericht Wels mit Beschluß vom 4. Juli 1986, AZ. 22 Bl 133, 135/86, zurückgewiesen. In Stattgebung der (rechtzeitig angemeldeten und ausgeführten) Berufung des Michael K*** wegen Strafe hat das Kreisgericht Wels mit Berufungsentscheidung vom 8. Oktober 1986, AZ. 22 Bl 135/86, die Geldstrafe auf 60 Tagessätze zu 160 S (30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) herabgesetzt.
Rechtliche Beurteilung
Der vom Bezirksgericht Wels am 22. Jänner 1986 (antragsgemäß: S. 1) gefällte Schuldspruch wegen Vergehens nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 steht mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Die dem Michael K*** angelastete Tat (Inverkehrbringen eines Tiers zum Zweck der Lebensmittelgewinnung, das kurz vorher mit Arzneimitteln behandelt worden war, sodaß bedenkliche Rückstände der verwendeten Arzneimittel oder ihrer Umsetzungsprodukte zu erwarten waren) entspricht dem Verbot des § 15 Abs. 5 lit. a LMG. 1975. Nach den "Schlußbestimmungen" des § 81 Abs. 3 lit. d LMG. 1975 treten aber u.a. die Vorschriften des § 15 Abs. 5 lit. a LMG. 1975 hinsichtlich des Verbots des Inverkehrbringens von Tieren, die mit Stoffen im Sinn des § 15 Abs. 2 lit. c oder lit. e LMG. 1975 behandelt wurden (siehe das Verbot des § 15 Abs. 2 lit. c LMG. 1975, welches Antibiotika ausdrücklich erwähnt), erst mit dem Wirksamwerden der Verordnung nach § 15 Abs. 7 LMG. 1975 in Kraft. Gemäß § 15 Abs. 7 LMG. 1975 hat der Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz, wenn das mit der Sicherung einer einwandfreien Nahrung und mit dem Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigung und Täuschung vereinbar ist, im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft mit Verordnung Stoffe im Sinn des § 15 Abs. 2 lit. c LMG. 1975 (und Mittel im Sinn des § 15 Abs. 2 lit. e LMG. 1975) zuzulassen, die Art der Anwendung und allenfalls einzuhaltende Fristen vorzuschreiben, die erlaubten Höchstmengen festzusetzen, die Zugabe allfälliger Indikatoren anzuordnen, das Anbringen von Anwendungsvorschriften und sonstigen Hinweisen auf den Abpackungen vorzuschreiben und allfällige unbedenkliche Rückstände in den von den Tieren stammenden Lebensmitteln festzulegen. Eine solche Verordnung wurde aber (entgegen der Anordnung des Gesetzgebers, der hiefür eine Frist bis 30. Juni 1978 vorgesehen hatte: § 81 Abs. 3 LMG. 1975) bis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung am 22. Jänner 1986 nicht erlassen und auch in der Folgezeit nicht nachgeholt. Da die einzelnen Begehungsformen des § 58 LMG. 1975 ausdrücklich ein u.a. dem § 15 LMG. 1975 zuwiderlaufendes Verhalten voraussetzen (§ 58 Abs. 1 LMG. 1975: ".... wer entgegen dem § 15 ..."), das Verbot des § 15 Abs. 5 lit. a LMG. 1975, dessen Verletzung Michael K*** angelastet wird, aber mangels einer Verordnung gemäß § 15 Abs. 7 LMG. 1975 (§ 81 Abs. 3 lit. d LMG. 1975) bisher nicht in Kraft getreten ist, erweist sich der Schuldspruch durch das Bezirksgericht Wels wegen § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 als rechtsirrig.
Die Generalprokuratur unterstellt in ihrem weiteren Beschwerdevorbringen die Möglichkeit einer Idealkonkurrenz des als Vergehen nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975 inkriminierten Sachverhalts mit dem strenger strafbaren Tatbestand des § 56 Abs. 1 Z. 1 LMG. 1975, weil sich aus den Akten Anhaltspunkte dafür ergeben, daß das Fleisch des von Michael K*** am 22. Februar 1984 notgeschlachteten Kalbes infolge der damals in diesem Fleisch vorhandenen Rückstände an Antibiotika nach der Begriffsbestimmung des § 8 lit. a LMG. 1975 gesundheitsschädlich war (siehe insbesondere die Aussage des in der Hauptverhandlung am 22. Jänner 1986 vor dem Bezirksgericht Wels als Zeugen vernommenen Leiters der Bundesanstalt für veterinärmedizinische Untersuchungen in Linz, Ernst L***, S. 38).
Unbeschadet der von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Frage, ob die abgeurteilte Tat verjährt ist (die Vorerhebungen bezogen sich doch auf den gesamten Anzeigesachverhalt), geht die Generalprokuratur von der - vom Obersten Gerichtshof nach wie vor aufrechterhaltenen - Judikatur aus, daß tateinheitlich zusammentreffende (idealkonkurrierende) Delikte rücksichtlich der Verjährung von einander unabhängig zu beurteilen sind (SSt. I/6, LSK. 1976/124, ÖR. 471, 5 Os 1040/54). Anders als das Vergehen nach § 58 Abs. 1 Z. 3 LMG. 1975, das für sein Inkrafttreten noch der Erlassung der individualisierenden Verordnung bedürfte (siehe oben), wäre das Vergehen nach § 56 Abs. 1 Z. 1 LMG. weder hievon abhängig noch von der Verjährungsfrage berührt. Die Generalprokuratur beantragt daher neben der Aufhebung der beiden Urteile eine Rückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Wels zwecks Prüfung des Sachverhalts auf eine Verwirklichung des Vergehens nach § 56 Abs. 1 Z. 1 LMG. 1975. Eine solche Maßnahme scheitert indes an der prozessualen Lage. Stellt man nämlich, wie offenbar die Generalprokuratur, auf ein tateinheitliches Zusammentreffen ab, so wäre dieses zwar vom Erstgericht gemäß §§ 262, 267 StPO. von Amts wegen anzunehmen und dem Schuldspruch zu unterziehen gewesen. Das Unterbleiben eines derartigen kondemnierenden Ausspruchs auch wegen des strenger strafbaren Vergehens nach § 56 LMG. hätte der Ankläger mit Berufung wegen Nichtigkeit (§§ 281 Abs. 1 Z. 10, 468 Abs. 1 Z. 4 StPO.) anfechten können, was aber nicht geschehen ist. Das Verfahren auf Grund einer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich im allgemeinen nach den in den §§ 286 Abs. 1 bis 3 und 287 bis 291 StPO. enthaltenen Vorschriften (§ 292, erster Satz, StGB.). Indes ist die von der Generalprokuratur aufgeworfene Frage der Auswirkung des Verschlimmerungsverbots des § 290 Abs. 2 StPO. auf den gegenständlichen Fall nicht notwendig zu recherchieren.
Der Oberste Gerichtshof hat zunächst bedacht, daß die Zulässigkeit des Aufgreifens von den Angeklagten begünstigenden Rechtsirrtümern des Erstgerichts ohne Bekämpfung seitens des Anklägers zur Folge hätte, daß der Angeklagte unter Umständen bei einem - bewußten - Verzicht auf die Nichtigkeitsbeschwerde trotz evidenter Behebbarkeit von ihn benachteiligenden Urteilsfehlern im Ergebnis besser gestellt sein könnte als bei Ergreifen des einen Teilerfolg so gut wie verbürgenden Rechtsmittels, das aber eine amtswegige Schlechterstellung nach sich zöge.
Sodann hat der Oberste Gerichtshof einen Gesichtspunkt herangezogen, der das Problem der Qualifikationsverschärfung und des Qualifikationszusatzes durch das Rechtsmittelgericht aus dem traditionellen Meinungsstreit um die Abgrenzung der reformatio in peius herauslöst (vgl. KH. 219, 833, 1138, 1155, 1177, 1715, 2175, 3177, 3559, 3843, 3896, 4045, 4326, 4568; SSt. I/29, II/44, II/57, VII/121, VIII/20, VIII/106, XI/14, XI/33, XXX/73; RiZ. 1962 S. 135; Lohsing-Serini S. 568 Mitte; Nowakowski in: Verkappte Wahlfeststellungen, JBl. 1958, hier S. 384; derselbe im Gutachten zum 2. Österr. Juristentag 1964 S. 41 ff.; Schnek zu ZBl.Strfs.Nr. 33/1935; dagegen Roeder, System S. 360 Anm. 3, derselbe, Lehrbuch1 S. 285 Anm. 3, derselbe Lehrbuch2 S. 275 Anm. 1 und zuletzt RiZ. 1988/11, 15 Os 3/88) und es einer eigenständigen Beurteilung zugänglich macht:
Absatz 1 des § 290 StPO. ordnet die strikte Beschränkung der zweitinstanzlichen Entscheidung auf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe an und gestattet eine Ausnahme davon nur, wenn das Strafgesetz zum Nachteil des Angeklagten unrichtig (§ 281 Abs. 1 Z. 9 bis 11 StPO.) angewendet wurde. Das nötigt zu dem Umkehrschluß, daß eine zum Vorteil des Angeklagten ausgeschlagene materielle Nichtigkeit des Ersturteils ohne Relevierung durch den Ankläger in der zweitinstanzlichen Entscheidung nicht berücksichtigt, dort eine in erster Instanz unterbliebene Qualifizierung der Tat nicht nachgeholt werden darf (so bereits Lohsing-Serini a.a.O.), es sei denn als schlichte Feststellung gemäß § 292 StPO. Hier aber ist eine derartige rechtliche Feststellung nicht möglich, weil faktische Konstatierungen zu § 56 Abs. 1 Z. 1 LMG. 1975, wie auch die Generalprokuratur einräumt, fehlen.
Der Oberste Gerichtshof hat sich die soeben dargelegte Auffassung zu eigen gemacht und folglich den Standpunkt der Generalprokuratur verworfen. Betrachtet man das sohin gewonnene Resultat aber aus dem Blickwinkel der Interpretation des § 290 Abs. 2 StPO. (Verbot der reformatio in peius), so stimmt es methodisch mit einer jüngeren Äußerung der Rechtsprechung zu dem gleichfalls in favorem defensionis statuierten letzten Satz des § 292 StPO. überein (siehe EvBl. 1981 Nr. 187).
Es hat darum nach der (von der Generalprokuratur beantragten) Aufhebung der angefochtenen Urteile mit dem Freispruch des Angeklagten von der Anklage, die zu dem verfehlten Schuldspruch geführt hat, sein Bewenden.
Anmerkung
E14079European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:0130OS00051.88.0505.000Dokumentnummer
JJT_19880505_OGH0002_0130OS00051_8800000_000